Das Interview mit Gregor Gysi hören Sie am Sonntag ab 11.05 Uhr im Deutschlandfunk.
Frank Capellan: Gregor Gysi, als wir uns für dieses Interview verabredet haben, da wollten wir vor allen Dingen über den 1. Mai und den Tag der Arbeit sprechen, über Themen, die insbesondere von Ihrer Partei besetzt werden. Das werden wir ausreichend tun, aber unsere Hörer werden es wohl kaum verstehen, wenn ich nicht zu Beginn auch das fragen würde, was sich viele fragen: Was ist eigentlich an der Spitze der Linkspartei los? Was macht das Führungsduo falsch, dass diese interne Kritik an den Parteivorsitzenden Gesine Lötzsch und Klaus Ernst doch immer wieder aufkeimt?
Gregor Gysi: Na ja, es ist so: Wir sind ja die einzige Partei, die eine Vereinigung durchführt und nicht einen Beitritt. Ein Beitritt anderer Parteien zu einer bestehenden Partei heißt, die anderen haben sich einfach ein- und unterzuordnen. Aber wir machen eine richtige Vereinigung, und die ist natürlich komplizierter, die ist schwieriger. Das ist das eine Problem. Das Zweite ist, dass mein Eindruck darin besteht, dass an unserer Parteibasis das zusammenwächst. Also es gibt Basisgruppen aus Ost und West, die machen Dinge zusammen, die verstehen sich auch immer besser. Das wird was. Und bei den Funktionären ist das noch nicht der Fall, sondern da ist noch viel - sagen wir mal - im Unglatten. Da wird noch ziemlich auch zum Teil ruppig reagiert. Aber das sind Prozesse, mit denen man leben muss. Und nachdem man so starke Führungspersönlichkeiten hatte wie Lothar Bisky und Oskar Lafontaine bleibt so etwas auch nicht aus.
Capellan: Die Fusion, kann die noch funktionieren . . .
Gysi:. . . ja, selbstverständlich . . .
Capellan: . . . die Fusion von PDS und WASG? Wie will man es hinbekommen - ich sag mal -, kommunistische Ideologen, die es vermehrt auch in den Westverbänden gibt, und die Pragmatiker, die Reformer, die Leute, die Regierungserfahrung haben aus dem Osten: Wie will man die unter einen Hut bekommen?
Gysi: Also ich weiß gar nicht, ob der Begriff der kommunistischen Ideologen stimmt. Die sind so eine Rarität, auch in unserer Partei, die spielen eigentlich kein Gewicht. Aber es gibt natürlich Leute, die die Dinge radikaler sehen und auch radikaler darüber sprechen. Und es gibt andere, die eben pragmatischer wirken, schon in ihrem ganzen Auftreten. Es gibt immer auch den Unterschied zwischen einem Säbel und einem Florett, auch in einer Partei. Das ist alles gar nicht so dramatisch, wissen Sie, so lange alle wissen, dass sie etwas auch Gemeinsames wollen, dann können sie auch gemeinsam streiten, selbst wenn es dann unterschiedliche Auffassungen gibt. Und das müssen wir wieder lernen, und ich glaube, wir sind dabei. Ich sehe uns gar nicht so auf schlechtem Weg. Es gibt inhaltliche Themen, und das ist das Entscheidende, für die wir in der Gesellschaft gebraucht werden. Man kann eine reine Parlamentspartei sein, was ich falsch finde. Man kann eine Mitgliederpartei sein, das ist etwas ganz anderes, oder man kann eine Medienpartei sein. Im Augenblick sind wir eine Idee zu viel Medienpartei.
Capellan: Und demnächst müssen Sie den Parteivorstand fragen, ob Sie mit dem Deutschlandfunk ein Interview machen dürfen? Da gibt's einen Vorschlag von den ganz Linken in der Partei, dass solche internen Fragen, die wir jetzt auch besprechen, nur noch über die parteinahen Medien - über "Das neue Deutschland" oder "Die junge Welt" - behandelt werden dürfen. Das kann doch auch nicht der richtige Weg sein, oder?
Gysi: Nein, es geht ja nicht um ein Verbot, sondern es geht darum, dass man sagt: Bestimmte interne Auseinandersetzungen kann man doch auch intern führen, dazu muss ich doch nicht die "FAZ" oder den "Spiegel" benutzen. Und schon gar nicht muss man sich an Journalistinnen und Journalisten wenden, die Die Linke sowieso nicht leiden können, weil - wenn ich denen jetzt irgend etwas Negatives über die Person A erzähle, freuen die sich ja nur darüber, dass ich jetzt was Negatives über A sage, und das wird dann multipliziert in die Medien gebracht . . .
Capellan: . . . aber Sie sehen auch keine Kampagne der Medien gegen die Linkspartei?
Gysi: Nein, nein!
Capellan: Das ist schon ein Problem, was aus der Partei herauskommt?
Gysi: Ja! Das haben wir schon selbst angerichtet. Man muss immer erst die Fehler bei sich suchen, bevor man auf andere verweist. Wir können gerne mal eine Sendung über die Medien machen, und dann ziehe ich auch gerne über die Medien her, über die ich mich ja auch schon seit vielen Jahren ärgere. Aber eigene Fehler begehen wir und nicht andere.
Capellan: Warum ist der Ton so scharf geworden - von wegen "Klappe halten" und "Zurücktreten!"
Gysi: Ja, das habe ich auch nicht verstanden. Aber ich sage, das sind so Töne von Funktionären - hin und her. Wir haben zum Teil auch ein bisschen genug voneinander. Wissen Sie, in meinem Alter wird man souveräner, da steht man drüber, da hat man das einfach nicht mehr nötig.
Capellan: Manche werden jetzt vielleicht sagen: Ja, Gregor Gysi hat gut reden, der hat die Diskussion um Oskar Lafontaine ins Spiel gebracht, hat mit der Rückkehr von Lafontaine gedroht.
Gysi: Nein, ich habe nicht damit gedroht - erstens. Ich habe nur gesagt, dass er im Notfall käme, was ja auch stimmt. Aber wir haben keinen Notfall, deshalb steht die Frage jetzt gar nicht.
Capellan: Warum haben Sie es dann gesagt?
Gysi: Ich wollte vor allen Dingen die beiden Vorsitzenden nicht beschädigen, ich wollte, dass etwas anderes aufhört: Die ständige Debatte um diese Fragen. Und das habe ich ja auch bei einigen erreicht, die gesagt haben: Ja, Du hast recht, lass uns jetzt Schluss machen mit der Debatte, wenn Neuwahlen sind, sind Neuwahlen - und bis dahin haben wir unseren gewählten Parteivorstand, der ist auch demokratisch gewählt und mit dem werden wir jetzt leben.
Capellan: Also es war doch irgendwie eine Drohung?
Gysi: Eine Drohung war es nicht, sondern es war der Hinweis darauf, dass, wenn sie das weiter zuspitzen, bis eine Notsituation da ist, dass es dann eben auch Notlösungen gibt. Das sollten sie begreifen, und deshalb habe ich das ja auch gemacht.
Capellan: Dennoch wird Lafontaine ein eher autoritärer Führungsstil nachgesagt. Ihm wird auch nachgesagt, er habe den Fehler gemacht, die Partei zu sehr verengt zu haben auf die sozialen Themen. Also das wollen ja auch die Kritiker nicht, dass ein solcher Parteivorsitzender wieder zurück kommt.
Gysi: Also das finde ich ja eine völlig ungerechte Beurteilung von Oskar Lafontaine. Hätten wir Oskar Lafontaine nicht gehabt, hätte es gar keine Vereinigung von WASG und PDS gegeben, dann säßen wir beide unter der Fünf-Prozent-Hürde, würden bundespolitisch gar keine Rolle spielen. Also ich finde, wir sind ihm zu tiefer Dankbarkeit diesbezüglich verpflichtet. Außerdem ist der nicht "eng", der macht Außenpolitik, der macht Finanzpolitik, der macht Steuerpolitik, der macht Sozialpolitik. Also, der ist sehr viel breiter angelegt. Ja, und was seinen Stil betrifft: Wissen Sie, da sage ich immer folgendes: Keine Geschäftsordnung ersetzt natürliche Autorität. Das ist ein Unterschied, den kenne ich auch. Also ich bin auch mehr der Typ, der nicht die Geschäftsordnung braucht. Das ist ja ein genialer Mann, das kann ja überhaupt niemand leugnen. Auch die, die ihn nicht mögen - also außerhalb meiner Partei meine ich jetzt -, die ihn sogar als Gegner empfinden, akzeptieren das immer, dass er zum Beispiel jemand ist, der in seinen Büchern die Finanzkrise schon dargelegt hat, als noch niemand daran glaubte, der die ganzen Zusammenhänge aufgedeckt hat und so weiter.. Nein, das ist ein großer Gewinn für uns und wir werden ihn auch künftig nutzen. Aber dabei geht es nicht um einzelne Ämter, das hat er ja auch gar nicht nötig.
Capellan: Warum hat Die Linke in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz verloren? Auch im Bund stehen Sie momentan nicht so da, wie es angesichts einer Finanz- und Wirtschaftskrise ja sein könnte - bei acht bis neun Prozent. Woran hat das gelegen, auch an der Führungsdebatte?
Gysi: Also, sagen wir es mal anders: Nicht an der Führungsdebatte, sondern daran, dass wir zu lange Selbstbeschäftigung gemacht haben. Wissen Sie, was man unter dem Stichwort "Führungsdebatte" bezeichnet - oder Personaldebatte oder sonst was -, das heißt doch immer: Wir beschäftigen uns mit uns selbst. Da sagt A: B ist eigentlich nicht richtig, C wäre viel besser und so weiter. Und dann sagen die Leute draußen: Ja, wann kümmern die sich eigentlich mal um mich, weshalb interessiert die immer nur ihr innerer Zustand? Das ist das Problem, und das hat sich sicherlich ausgewirkt. Zum Zweiten hat sich ausgewirkt, dass natürlich jetzt andere Themen anstanden. Mit der ganzen ökologischen Erneuerung werden eben eher die Grünen verbunden, als wir verbunden werden. Dann kommt noch hinzu, dass wir dort noch nicht in den Landesparlamenten waren, weder in Rheinland-Pfalz noch in Baden-Württemberg. Also gab es keine Erfahrung mit uns in Landespolitik. Das ist immer ein schwieriger Start, wenn man das erste Mal antritt.
Capellan: Wie wichtig ist die Wahl in Bremen Ende Mai? Bremen war das erste Landesparlament im Westen, wo Sie reingekommen sind - 2007 mit 8,7 Prozent. Sie haben jetzt die Chance, erstmals eine Mitgliedschaft in einem Landesparlament im Westen zu verteidigen.
Gysi: Na ja, das hatten wir schon zwei Mal. Einmal hatten wir sie in Hessen verteidigt und einmal haben wir sie in Hamburg verteidigt . . .
Capellan: . . . aber jetzt war es erstmals eine volle Legislaturperiode . . .
Gysi: . . . ja, da haben Sie recht. Es ist das erste Mal nach einer vollen Legislaturperiode, deshalb ist Bremen und Bremerhaven für uns wichtig. Also mein Ziel ist, dass wir auf jeden Fall wieder einziehen. Das müssen wir schaffen, und dafür müssen wir noch was tun. Und wir haben ja jetzt dafür noch etwas Zeit im Mai, uns politisch zu ordnen. Denn alles, was wir jetzt diskutieren, hat auch viel mit der Linken zu tun. Die ganze ökologische Erneuerung muss man ja auch sehen unter dem Faktor der sozialen Ausgleichung des Vorgangs. Man kann ja einfach sagen, wir machen das ganze Leben teurer - ich sag mal, die Grünen damals: Fünf Mark wollten sie pro Liter Benzin. Das ist ja Ökologie über Ausgrenzung, indem ich sage, die sozial-finanziell Schwächeren bleiben draußen, dürfen nicht mehr Auto fahren, die anderen können Auto fahren. Das darf niemals der Weg der Linken sein, der Weg der Linken ist die Zusammenführung von ökologischer Erneuerung und sozialer Gerechtigkeit. Und das müssen wir schon deutlich machen bei den Energiekosten. Wer kriegt die eigentlich, wenn wir jetzt lauter erneuerbare Energien gewinnen? Und wenn wir das politisch herausarbeiten, dann werden wir den Wiedereinzug schaffen - also das schaffen, was Sie gerade gesagt haben: Die Verteidigung, dass wir da wieder drin sind.
Capellan: Wenn das schief geht, geht dann die Debatte über Gesine Lötzsch und Klaus Ernst wieder los?
Gysi: Darüber diskutiere ich mit Ihnen am Montag danach, und jetzt mache ich nicht mit Ihnen hier keine Debatte, was nun in diesem Falle wäre.
Capellan: Und das wäre auch nicht eine Notsituation, dass Oskar Lafontaine zurück kommt?
Gysi: Nein, das ist nicht die Notsituation. Also, Sie haben mich ja immer gefragt. Die klassische Notsituation wäre, wenn die beiden Vorsitzenden und ich bei einem Flugzeugunglück umkommen. Sehen Sie mal, das ist doch wirklich eine Notsituation, das . . .
Capellan: . . . das haben Sie aber nicht gemeint . . .
Gysi: . . . nein, das habe ich nicht gemeint. Aber es wäre eine klassische Notsituation.
Capellan: Bleibt immer noch die Frage, was Sie wirklich gemeint haben mit der Notsituation. Aber das wollen Sie uns nicht verraten?
Gysi: Nein.
Capellan: Dann reden wir über das Programm. Im Oktober soll es verabschiedet werden. Es gibt einen Entwurf, der stammt noch aus der Feder von Lothar Bisky und Oskar Lafontaine. Und Klaus Ernst, der jetzige Parteivorsitzende, auch Gesine Lötzsch erwecken den Eindruck, als solle da wenig verändert werden. Ist es das, was viele Mitglieder auch aufbringt? - Es steht drin: Wir wollen eine sozialistische Gesellschaft. Es steht drin: Politische Streiks müssen erlaubt werden. Es steht drin, dass Privatisierungen nicht erfolgen dürfen, dass man sich an keiner Regierung beteiligen will, die Sozialabbau und die Stellenabbau betreibt. Richtig?
Gysi: Also gehen wir noch mal zum ersten Punkt. Natürlich, wir sind demokratische Sozialistinnen und Sozialisten und wollen deshalb eine demokratische sozialistische Gesellschaft. Was das auch heißt, ist: Ein autoritärer Sozialismus kommt mit uns nie wieder in Frage. Die sind gescheitert, die Menschen wollen ihn nicht . . .
Capellan: . . . da haben viele Gesine Lötzsch anders verstanden, als sie über Wege zum Kommunismus sprach . . .
Gysi: . . . ja, das war ein irrtümlicher Satz, aber wenn man den Text als Ganzes sieht, dann weiß man auch, dass sie nichts anderes als einen demokratischen Sozialismus meinte. Ein demokratischer Sozialismus ist allerdings wichtig, weil ich den Kapitalismus nicht für die letzte Antwort der Geschichte halte. Der hat ja auch nicht gesiegt, sondern der ist übrig geblieben, und das reicht nicht. Das Zweite: Politische Streiks. Die gibt es in Frankreich, die gibt es in anderen Ländern. Ich verstehe überhaupt nicht, warum die in Deutschland verboten sind. Ich nenne mal ein Beispiel: Die Gewerkschaften waren höchst unzufrieden, als das Renteneintrittsalter auf 67 Jahre verschoben wurde. So etwas darf aber nicht mit einem Streik in Deutschland beantwortet werden, in Frankreich ja. Warum eigentlich nicht?
Capellan: Der Hintergrund ist aber ein anderer. Andre Brie, der ja als Vordenker gilt in Ihrer Partei . . .
Gysi: . . . von den Medien vor allen Dingen hat er diesen Titel bekommen, aber er kann denken, das stimmt. Ich habe ihm mal gesagt ´Wenn Du ein Vordenker bist, dann bin ich ein Nachdenker´ - das fand er immerhin witzig.
Capellan: Er hat zumindest gesagt, die Linkspartei darf nicht den Eindruck erwecken, als wolle man einen Umsturz durch soziale Unruhen auf den Weg bringen.
Gysi: Nein, das ist ja auch gar nicht unser Ziel ...
Capellan: . . . das könnte hinter ´politischen Streiks´ stehen . . .
Gysi: . . . nein, bei politischen Streiks geht es um solche Fragen, wo die Gewerkschaften relativ wehrlos den Veränderungen gegenüber stehen - weil sie ja nur aus Tarifgründen streiken dürfen. Sie dürfen aber zum Beispiel nicht gegen eine Rente erst mit 67 streiken. Das ist ein Problem in Deutschland, in Frankreich dürfen Sie das. Was glauben Sie, was da los ist bei bestimmten Entscheidungen. Und bei uns nicht. Das tut mir leid, und ich möchte, dass da die Gewerkschaften bessere Möglichkeiten bekommen. Was war Ihre dritte Frage?
Capellan: Verstaatlichung. Da haben Sie zum Beispiel gerade gesagt . . .
Gysi: Nein: Keine Privatisierung. Das ist ein großer Unterschied. Die letzten Jahre waren dadurch geprägt, dass die öffentliche Daseinsvorsorge privatisiert worden ist. Ob ich Wasser nehme, ob ich Energie nehme, ob ich all diese Bereiche nehme - selbst die Riester-Rente ist ja zum Teil privatisiert worden und vieles andere mehr. Und das hat gravierende Folgen. Die gravierendste Folge ist, dass die Politik da nichts mehr damit zu tun hat. Stellen Sie sich mal vor, wir würden das Wasserwerk in Berlin vollständig privatisieren. Dann hätten wir nichts mehr zu sagen. Wir hätten auch bei den Preisen nichts mehr zu entscheiden. Und ich sage jetzt mal, bei der Finanzkrise haben wir es doch gemerkt, wie die Deutsche Bank gespielt hat mit der Politik. Herr Ackermann hat doch entschieden, was Frau Merkel macht und nicht Frau Merkel, was Herr Ackermann macht. Und die haben dabei abgezockt und sie machen das alles schon wieder. Aber um jetzt wieder ein Missverständnis sozusagen auszuräumen, ich will doch nicht, dass alles staatlich ist - das hatte ich schon mal, das geht völlig schief -, sondern es geht uns um die öffentliche Daseinsvorsorge und es geht uns um solche Großunternehmen, die eine Monopolstellung haben.
Capellan: Sie haben das zum Beispiel jetzt angesprochen mit Blick auf die Energiekonzerne, die müsste man zerlegen.
Gysi: Ja.
Capellan: Das geht doch in Richtung Verstaatlichung.
Gysi: Nicht zerlegen, da kann man auch rekommunalisieren, da kann man auch kleinere private Unternehmen haben. Was uns wichtig ist, sind die Netze. Die Netze müssen in öffentliche Hand, damit der Staat etwas mit zu entscheiden hat. Das ist wichtig bei der Energieversorgung. Wenn ich die privatisiere und ein Privater die Netze einfach schließen kann und der Bevölkerung den Strom entziehen kann, und ich kann gar nichts mehr machen, weil ich es ihm alles verkauft habe - nein, das wäre ein großer Fehler. Also, ich glaube, wir brauchen das richtige Verhältnis. Das müssen wir zum Beispiel programmatisch klären. Also nicht überziehen mit dem staatlichen Eigentum, aber auch nicht zu wenig, denn zu wenig heißt immer Entmündigung der Politik. Und das heißt immer Entmündigung der Demokratie.
Capellan: Herr Gysi, ist die Linkspartei zu sehr die Hartz-IV-Partei?
Gysi: Nein, weil das gar nicht unserem Anliegen entspricht. Aber ich räume ein, es ist ein bisschen der Eindruck entstanden. Nun stand das Thema auch im Vordergrund und nach wie vor beschäftigt uns das. Und natürlich vertreten wir engagiert auch die Interessen der Hartz-IV-Empfängerinnen und Hartz-IV-Empfänger. Aber wir vertreten natürlich auch die Interessen der Geringverdienenden. Wir vertreten auch die Interessen der normal verdienenden Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer; auch der besser verdienenden Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Wir vertreten auch die Interessen der Klein- und mittleren Unternehmerinnen und Unternehmer, insbesondere der Unternehmerinnen und Unternehmer, die von der Binnenwirtschaft leben. Und durch den Reallohnrückgang, den wir hatten einschließlich Rentenrückgang et cetera hat ja die Kaufkraft der Bevölkerung ständig nachgelassen, was für diese Klein- und mittleren Unternehmen eine Katastrophe ist. Und da wir dort eine soziale Stärkung fordern, höhere Löhne fordern, fordern wir ja auch mehr Kaufkraft wiederum im Interesse der Unternehmen. Und letztlich gibt es noch eine Gruppe, die wir gerne ansprechen wollen, das sind natürlich auch die Intellektuellen. So, und wenn ich Ihnen das gesagt habe, muss ich jetzt als Defizit deutlich machen, das wird nicht so richtig klar. Das heißt, das müssen wir deutlicher machen in unserer Politik. Aber wir sind breiter und das müssen wir auch wieder öffentlich deutlich machen.
Capellan: Hartz, Rente mit 67, Mindestlohn - das sind im Moment aber nicht die zentralen Themen, die die Menschen beschäftigen. Oder sehen Sie das doch so?
Gysi: Na ja, diejenigen, die es betrifft, die wird das schon beschäftigen. Aber natürlich stehen im Augenblick auch zum Teil andere Fragen im Vordergrund. Ich finde ja auch die Frage spannend, dass wir jetzt vielleicht wirklich den Übergang zu einem neuen Industriezeitalter erleben, also weg von der fossilen Energie, weg von der Atomenergie vor allen Dingen, und in erster Linie hin zu erneuerbaren Energien. Das ist eine gewaltige Umstellung. Die Grünen machen das natürlich innerkapitalistisch. Die sagen dem Konzern, ihr müsst jetzt eure Profite machen mit erneuerbaren Energien und nicht mehr mit Atomenergie. Aber immerhin, sie wollen ja doch eine Erneuerung, sie wollen etwas Moderneres. Und wir müssen in dem Zusammenhang neben der notwendigen Erneuerung der ganzen ökologischen Basis in unserer Gesellschaft wiederum die soziale Frage stellen. Ich sage Ihnen, erneuerbare Energie wird Geld kosten. Und jetzt droht ja die Union schon absichtsvoll damit, dass die Strompreise so steigen. Deshalb sage ich ja, dann brauchen wir wieder eine staatliche Preisregulierung, damit die Politik dafür verantwortlich ist. Und wir brauchen für die, die wenig verdienen, egal ob sie Rentnerin oder Rentner sind, ob sie Hartz-IV-Empfangende sind oder ob sie in Arbeit stehen und wenig verdienen, brauchen wir einen Sozialtarif in der Energie. Ich kann nicht davon ausgehen, dass die Leute den Strom abschalten, weil sie sich das nicht mehr leisten können. Das ist indiskutabel.
Capellan: Ist das auch gegen die Grünen gerichtet?
Gysi: Ein bisschen, weil die Grünen immer sich entwickelt haben. Sie müssen ja wissen, die meist verdienendsten Wählerinnen und Wähler haben die Grünen. Und sie haben so eine Distanz zur sozialen Frage entwickelt. In der Regierung mit der SPD waren es die Grünen, die wollten, dass der Spitzensteuersatz gesenkt wird. Und sie waren ja auch einverstanden mit Hartz IV und so. Aber sie haben dann natürlich dann auch manchmal so die großzügige Note eines Typs, wie ich auch einer bin, verstehen Sie? Ich selber verdiene ja nicht schlecht, aber ich bin nicht gerne von Armut umgeben. Aber das prägt die Grünen nicht ausreichend. Deshalb sagen sie, sie wollen die erneuerbaren Energien und werfen die sozialen Fragen in dem Zusammenhang gar nicht auf. Und die SPD sagt, sie will die erneuerbaren Energien und redet dann in erster Linie über die Großverbraucher. Und wir sagen, wir wollen die erneuerbaren Energien und wollen aber, dass alle Verbraucher sich die auch leisten können.
Capellan: Sie schießen sich sehr oft auf die Grünen und auch auf die Sozialdemokraten ein. Halten Sie das nach wie vor für richtig? Also, mit Grün regiert die SPD jetzt auch als Juniorpartner in Baden-Württemberg, mit der Linkspartei nicht.
Gysi: Daran sehen Sie mal, dass die SPD sich bewegen muss. Die bleibt immer hinter der Zeit und ihren Möglichkeiten. Wenn die der Gesellschaft deutlich machen würde, sie kann koalieren mit der Union, sie kann koalieren mit der FDP - ich meine, das gefällt mir alles nicht, aber sie kann es -, sie kann koalieren mit den Grünen, sie kann aber auch koalieren mit den Linken und akzeptiert auch bei den Linken, wenn die stärker sind, sind sie stärker. Dann stellt eben die Linke den Ministerpräsidenten und nicht die SPD. Das kann sie nicht, verstehen Sie? Sie kann über einen bestimmten ideologischen Schatten nicht springen, was letztlich zu ihrem Nachteil wird, denn sie engt sich ein. Und ich sage mal, was jetzt unsere östlichen Landtagsfraktionen betrifft, so sind die ja alle auch durchaus pragmatisch, also mit denen kann man zusammen arbeiten. Wir haben doch hier nicht schlecht mit der SPD in Berlin regiert. Was mir wichtig ist in Berlin, ist, dass wir gestärkt aus dieser Regierungskoalition heraus gehen. Denn mein Landesverband, das muss ich sagen, und unsere Senatorinnen und Senatoren und unsere Fraktion im Abgeordnetenhaus waren in dieser Legislaturperiode viel selbstbewusster als in der ersten, haben auch mehr durchgesetzt. Es gab auch mal ein bisschen Zoff mit dem Koalitionspartner. Das schadet gar nichts. Wir haben dadurch ein stärkeres eigenes Bild bekommen. Also, ich hoffe, dass wir zulegen und dann warten wir es mal ab, ob die Träume der Grünen so in Erfüllung gehen, wie man das im Augenblick denkt. Das muss ja auch nicht der Fall sein.
Capellan: Lassen Sie uns unbedingt über den 1. Mai sprechen. Ab heute dürfen Arbeiter aus den osteuropäischen Beitrittsstaaten der Europäischen Union bei uns tätig werden. Ein Problem in Ihren Augen?
Gysi: Ja, aber aus folgendem Grund ein Problem. Erst mal ist das ja zu begrüßen. Man muss sehen, das Leben europäisiert sich. Wissen Sie, die heutige Jugend wird in einem anderen europäischen Bewusstsein aufwachsen, als es mir überhaupt möglich war. Und ich weiß nicht, vielleicht wenn die heutige Jugend im Rentenalter ist, kennen wir schon so etwas wie eine europäische Staatsbürgerschaft. Keine Ahnung, das kann sich ja alles noch entwickeln. Das Problem ist, dass die Bedingungen dafür nicht stimmen. Wir haben eben den Euro geschaffen, ohne eine politische Union zu haben damals. Die ganzen Voraussetzungen waren nicht gegeben, weder hinsichtlich der Versicherungen noch hinsichtlich der Steuern noch hinsichtlich der Löhne. Was ist das Problem? Das Problem besteht darin, dass Deutschland als eines der wenigen Mitgliedländer der EU keinen flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn hat. Das haben übrigens inzwischen 100 Staaten auf der Erde. 100 Staaten haben einen flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn. Nur unsere konservativ-liberale Regierung meint, sie ist schlauer als die ganze Welt und lehnt deshalb den flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn ab. Wenn wir ihn hätten, dann wäre ich zunächst einmal sicher, dass die polnische Arbeitnehmerin und der rumänische Arbeitnehmer hier wenigstens Mindestbedingungen garantiert bekommen. Nicht, dass ich die dann im Bauwagen sehe, wo sie untergebracht sind zu Achtzehnt, einen miserablen Lohn bekommen, den sie aber durch bestimmte Umtauschverhältnisse in ihren eigenen Ländern noch ganz gut verwenden können, an so was dürfen wir nicht teilnehmen. Ein Unternehmer soll die Wahl haben, ob er einen polnischen Arbeitnehmer einstellt oder einen deutschen Arbeitnehmer einstellt. Und wenn er sagt, ich nehme den polnischen Arbeitnehmer, weil der fleißiger ist, weil der besser ausgebildet ist, weil der überhaupt zuverlässiger ist, ist das völlig in Ordnung, und er würde immer meine Unterstützung finden. Wenn er aber sagt, ich nehme den, weil er billiger ist, dann kriege ich ein Problem. Und zwar das Problem, dass der deutsche Arbeitnehmer dann sagt, der klaut mir ja den Arbeitsplatz und ich kann zu diesem billigen Lohn gar nicht arbeiten, weil ich dann nicht mal mehr meine Miete bezahlen kann. Und dann ist Nutznießer dieser Entwicklung die NPD. Und das will ich auf gar keinen Fall. Deshalb, sage ich, sind wir in der Politik gefordert. Eine Bedingung ist der flächendeckende gesetzliche Mindestlohn . . .
Capellan: . . . aber andererseits, da, wo es einen Mindestlohn gibt in den Branchen, das gilt ja dann auch für die Zuzügler, auch die sozialen Mindeststandards, die man vereinbart hat.
Gysi: In bestimmten Bereichen haben wir sie und in anderen Bereichen haben wir sie nicht. Und meine Sorge bezieht sich auf die Bereiche, wo wir es nicht haben. Und in den Bereichen, wo wir es haben, müssen wir es auch noch durchsetzen. Ich habe mir das ja in Großbritannien genau angesehen. Alle Theorien, die besagen, ein flächendeckender gesetzlicher Mindestlohn führt zu mehr Arbeitslosigkeit - in Großbritannien wurde in diesem Zusammenhang die Arbeitslosigkeit abgebaut, nicht etwa aufgebaut. Zweitens habe ich die gefragt, wie macht ihr das mit der Schwarzarbeit? Hat die so zugenommen? Alle erklären mir ja, dass dann das Friseurhandwerk kaputt geht, weil die dann alle schwarz arbeiten et cetera. Die haben jetzt noch zwei Prozent Schwarzarbeit in Großbritannien. Davon können wir in Deutschland nur träumen. So was mache ich dann immer. Dann fahre ich hin und schaue mir das genau an und prüfe auch die konservativen Argumente, ob die stimmen oder nicht stimmen. Und die stimmen nicht. Der flächendeckende gesetzliche Mindestlohn wäre eine wichtige Sache in Deutschland.
Capellan: Was haben Sie gegen die Minijobs? Sind die nicht auch eine Möglichkeit gewesen in den vergangenen Jahren, den Wiedereinstieg in den Arbeitsmarkt zu erleichtern? Hat das nicht auch dazu beigetragen, die Arbeitslosenzahlen zu drücken?
Gysi: Ja, letzteres stimmt auf jeden Fall, weil das aber ein statistischer Trick ist. Schon mit einem 1,50 Euro-Job gelte ich ja nicht mehr als arbeitslos. Wenn das Jobcenter mich in irgendeine halbwegs sinnlose Maßnahme schickt, wo ich rum sitze, gelte ich ja in den Tagen nicht mehr als arbeitslos. Das sind für mich alles statistische Tricks, mit denen wir nichts anfangen können. Die Minijobs sind ein Problem. Erstens werden die zu zwei Dritteln weiblich besetzt. Schlecht bezahlte Jobs - Frauen hinsetzen. Zack, so läuft das bei uns. Das zweite ist, das das ja für viele nicht aufhört. Es ist eben nicht der Einstieg. Was glauben Sie wie viele Leute bei mir waren mit befristetem Arbeitsverhältnis. Die sind jetzt das vierte Jahr in einem befristeten Arbeitsverhältnis. Nichts mit der Hoffnung, nach anderthalb Jahren, dann werde ich mal unbefristet eingestellt. Da sind die Unternehmen viel zu vorsichtig und sagen, so werde ich den schneller wieder los. Abfindung ist viel billiger, muss nicht lange kündigen, der Vertrag läuft einfach aus. Es ist so eine bequeme Methode. Und bitte vergessen Sie eines nicht: Wir haben inzwischen immer mehr Aufstockerinnen und Aufstocker. Das sind Leute, die entweder Teilzeit arbeiten - da kann man das ja noch irgendwie hinnehmen -, aber wir haben auch viele Leute, die in Vollzeitjobs arbeiten und so wenig verdienen, dass sie anschließend noch Anspruch auf Hartz IV haben. Und dann sagt mir Frau Merkel, sie ist stolz darauf, dass der Staat das übernimmt. Und ich sage, ich finde das einen Skandal. Wenn jemand hier einen Vollzeitjob hat, dann hat er auch Anspruch auf einen Lohn, mit dem er in Würde leben kann und nicht den Anspruch, zum Jobcenter oder zum Sozialamt geschickt zu werden. Also, da müssen sich wirklich Dinge bei uns verändern.
Capellan: Gregor Gysi, eine abschließende Frage noch: Wie lange wollen Sie noch alleine an der Spitze der Fraktion stehen?
Gysi: Wir sind da offen. Wir werden darüber diskutieren. Wir wählen ja im Oktober den Fraktionsvorstand wieder und dann werden wir das entscheiden.
Capellan: Sarah Wagenknecht wird da als mögliche Partnerin genannt.
Gysi: Nein, also dazu werde ich mich jetzt überhaupt gar nicht äußern. Das werde ich mit allen besprechen und wir werden das auch miteinander besprechen. Und es ist übrigens noch nicht entschieden, ob wir tatsächlich eine zweite Vorsitzende wählen. Also, da ist noch vieles offen. Wir werden darüber diskutieren.
Capellan: Aber es müsste eine Vorsitzende sein, es müsste wieder das Spielchen Mann/Frau, Ost/West sein.
Gysi: Zumindest, wenn ich wieder Vorsitzender werden sollte, was ich ja hoffe, dann müsste es eine Frau sein. Ja. Wenn zwei gewählt werden, dürfen es zwei Frauen sein, aber niemals zwei Männer, außer bei Oskar und mir. Das war die Ausnahme. Da hatten wir auch noch nicht die Regelung entsprechend. Und bei Oskar und Lothar übrigens auch nicht. Das war natürlich keine gute Quotierung.
Capellan: Aber Sie halten die Quote für richtig?
Gysi: Ich halte die Quote für richtig, aber ich sage immer beides. Erstens kann man auch zwei Frauen wählen, und zweitens kann man zu bestimmten Zeiten aus bestimmten Gründen auch darauf verzichten.
Capellan: Gregor Gysi, vielen Dank für das Gespräch.
Gysi: Bitte!
Frank Capellan: Gregor Gysi, als wir uns für dieses Interview verabredet haben, da wollten wir vor allen Dingen über den 1. Mai und den Tag der Arbeit sprechen, über Themen, die insbesondere von Ihrer Partei besetzt werden. Das werden wir ausreichend tun, aber unsere Hörer werden es wohl kaum verstehen, wenn ich nicht zu Beginn auch das fragen würde, was sich viele fragen: Was ist eigentlich an der Spitze der Linkspartei los? Was macht das Führungsduo falsch, dass diese interne Kritik an den Parteivorsitzenden Gesine Lötzsch und Klaus Ernst doch immer wieder aufkeimt?
Gregor Gysi: Na ja, es ist so: Wir sind ja die einzige Partei, die eine Vereinigung durchführt und nicht einen Beitritt. Ein Beitritt anderer Parteien zu einer bestehenden Partei heißt, die anderen haben sich einfach ein- und unterzuordnen. Aber wir machen eine richtige Vereinigung, und die ist natürlich komplizierter, die ist schwieriger. Das ist das eine Problem. Das Zweite ist, dass mein Eindruck darin besteht, dass an unserer Parteibasis das zusammenwächst. Also es gibt Basisgruppen aus Ost und West, die machen Dinge zusammen, die verstehen sich auch immer besser. Das wird was. Und bei den Funktionären ist das noch nicht der Fall, sondern da ist noch viel - sagen wir mal - im Unglatten. Da wird noch ziemlich auch zum Teil ruppig reagiert. Aber das sind Prozesse, mit denen man leben muss. Und nachdem man so starke Führungspersönlichkeiten hatte wie Lothar Bisky und Oskar Lafontaine bleibt so etwas auch nicht aus.
Capellan: Die Fusion, kann die noch funktionieren . . .
Gysi:. . . ja, selbstverständlich . . .
Capellan: . . . die Fusion von PDS und WASG? Wie will man es hinbekommen - ich sag mal -, kommunistische Ideologen, die es vermehrt auch in den Westverbänden gibt, und die Pragmatiker, die Reformer, die Leute, die Regierungserfahrung haben aus dem Osten: Wie will man die unter einen Hut bekommen?
Gysi: Also ich weiß gar nicht, ob der Begriff der kommunistischen Ideologen stimmt. Die sind so eine Rarität, auch in unserer Partei, die spielen eigentlich kein Gewicht. Aber es gibt natürlich Leute, die die Dinge radikaler sehen und auch radikaler darüber sprechen. Und es gibt andere, die eben pragmatischer wirken, schon in ihrem ganzen Auftreten. Es gibt immer auch den Unterschied zwischen einem Säbel und einem Florett, auch in einer Partei. Das ist alles gar nicht so dramatisch, wissen Sie, so lange alle wissen, dass sie etwas auch Gemeinsames wollen, dann können sie auch gemeinsam streiten, selbst wenn es dann unterschiedliche Auffassungen gibt. Und das müssen wir wieder lernen, und ich glaube, wir sind dabei. Ich sehe uns gar nicht so auf schlechtem Weg. Es gibt inhaltliche Themen, und das ist das Entscheidende, für die wir in der Gesellschaft gebraucht werden. Man kann eine reine Parlamentspartei sein, was ich falsch finde. Man kann eine Mitgliederpartei sein, das ist etwas ganz anderes, oder man kann eine Medienpartei sein. Im Augenblick sind wir eine Idee zu viel Medienpartei.
Capellan: Und demnächst müssen Sie den Parteivorstand fragen, ob Sie mit dem Deutschlandfunk ein Interview machen dürfen? Da gibt's einen Vorschlag von den ganz Linken in der Partei, dass solche internen Fragen, die wir jetzt auch besprechen, nur noch über die parteinahen Medien - über "Das neue Deutschland" oder "Die junge Welt" - behandelt werden dürfen. Das kann doch auch nicht der richtige Weg sein, oder?
Gysi: Nein, es geht ja nicht um ein Verbot, sondern es geht darum, dass man sagt: Bestimmte interne Auseinandersetzungen kann man doch auch intern führen, dazu muss ich doch nicht die "FAZ" oder den "Spiegel" benutzen. Und schon gar nicht muss man sich an Journalistinnen und Journalisten wenden, die Die Linke sowieso nicht leiden können, weil - wenn ich denen jetzt irgend etwas Negatives über die Person A erzähle, freuen die sich ja nur darüber, dass ich jetzt was Negatives über A sage, und das wird dann multipliziert in die Medien gebracht . . .
Capellan: . . . aber Sie sehen auch keine Kampagne der Medien gegen die Linkspartei?
Gysi: Nein, nein!
Capellan: Das ist schon ein Problem, was aus der Partei herauskommt?
Gysi: Ja! Das haben wir schon selbst angerichtet. Man muss immer erst die Fehler bei sich suchen, bevor man auf andere verweist. Wir können gerne mal eine Sendung über die Medien machen, und dann ziehe ich auch gerne über die Medien her, über die ich mich ja auch schon seit vielen Jahren ärgere. Aber eigene Fehler begehen wir und nicht andere.
Capellan: Warum ist der Ton so scharf geworden - von wegen "Klappe halten" und "Zurücktreten!"
Gysi: Ja, das habe ich auch nicht verstanden. Aber ich sage, das sind so Töne von Funktionären - hin und her. Wir haben zum Teil auch ein bisschen genug voneinander. Wissen Sie, in meinem Alter wird man souveräner, da steht man drüber, da hat man das einfach nicht mehr nötig.
Capellan: Manche werden jetzt vielleicht sagen: Ja, Gregor Gysi hat gut reden, der hat die Diskussion um Oskar Lafontaine ins Spiel gebracht, hat mit der Rückkehr von Lafontaine gedroht.
Gysi: Nein, ich habe nicht damit gedroht - erstens. Ich habe nur gesagt, dass er im Notfall käme, was ja auch stimmt. Aber wir haben keinen Notfall, deshalb steht die Frage jetzt gar nicht.
Capellan: Warum haben Sie es dann gesagt?
Gysi: Ich wollte vor allen Dingen die beiden Vorsitzenden nicht beschädigen, ich wollte, dass etwas anderes aufhört: Die ständige Debatte um diese Fragen. Und das habe ich ja auch bei einigen erreicht, die gesagt haben: Ja, Du hast recht, lass uns jetzt Schluss machen mit der Debatte, wenn Neuwahlen sind, sind Neuwahlen - und bis dahin haben wir unseren gewählten Parteivorstand, der ist auch demokratisch gewählt und mit dem werden wir jetzt leben.
Capellan: Also es war doch irgendwie eine Drohung?
Gysi: Eine Drohung war es nicht, sondern es war der Hinweis darauf, dass, wenn sie das weiter zuspitzen, bis eine Notsituation da ist, dass es dann eben auch Notlösungen gibt. Das sollten sie begreifen, und deshalb habe ich das ja auch gemacht.
Capellan: Dennoch wird Lafontaine ein eher autoritärer Führungsstil nachgesagt. Ihm wird auch nachgesagt, er habe den Fehler gemacht, die Partei zu sehr verengt zu haben auf die sozialen Themen. Also das wollen ja auch die Kritiker nicht, dass ein solcher Parteivorsitzender wieder zurück kommt.
Gysi: Also das finde ich ja eine völlig ungerechte Beurteilung von Oskar Lafontaine. Hätten wir Oskar Lafontaine nicht gehabt, hätte es gar keine Vereinigung von WASG und PDS gegeben, dann säßen wir beide unter der Fünf-Prozent-Hürde, würden bundespolitisch gar keine Rolle spielen. Also ich finde, wir sind ihm zu tiefer Dankbarkeit diesbezüglich verpflichtet. Außerdem ist der nicht "eng", der macht Außenpolitik, der macht Finanzpolitik, der macht Steuerpolitik, der macht Sozialpolitik. Also, der ist sehr viel breiter angelegt. Ja, und was seinen Stil betrifft: Wissen Sie, da sage ich immer folgendes: Keine Geschäftsordnung ersetzt natürliche Autorität. Das ist ein Unterschied, den kenne ich auch. Also ich bin auch mehr der Typ, der nicht die Geschäftsordnung braucht. Das ist ja ein genialer Mann, das kann ja überhaupt niemand leugnen. Auch die, die ihn nicht mögen - also außerhalb meiner Partei meine ich jetzt -, die ihn sogar als Gegner empfinden, akzeptieren das immer, dass er zum Beispiel jemand ist, der in seinen Büchern die Finanzkrise schon dargelegt hat, als noch niemand daran glaubte, der die ganzen Zusammenhänge aufgedeckt hat und so weiter.. Nein, das ist ein großer Gewinn für uns und wir werden ihn auch künftig nutzen. Aber dabei geht es nicht um einzelne Ämter, das hat er ja auch gar nicht nötig.
Capellan: Warum hat Die Linke in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz verloren? Auch im Bund stehen Sie momentan nicht so da, wie es angesichts einer Finanz- und Wirtschaftskrise ja sein könnte - bei acht bis neun Prozent. Woran hat das gelegen, auch an der Führungsdebatte?
Gysi: Also, sagen wir es mal anders: Nicht an der Führungsdebatte, sondern daran, dass wir zu lange Selbstbeschäftigung gemacht haben. Wissen Sie, was man unter dem Stichwort "Führungsdebatte" bezeichnet - oder Personaldebatte oder sonst was -, das heißt doch immer: Wir beschäftigen uns mit uns selbst. Da sagt A: B ist eigentlich nicht richtig, C wäre viel besser und so weiter. Und dann sagen die Leute draußen: Ja, wann kümmern die sich eigentlich mal um mich, weshalb interessiert die immer nur ihr innerer Zustand? Das ist das Problem, und das hat sich sicherlich ausgewirkt. Zum Zweiten hat sich ausgewirkt, dass natürlich jetzt andere Themen anstanden. Mit der ganzen ökologischen Erneuerung werden eben eher die Grünen verbunden, als wir verbunden werden. Dann kommt noch hinzu, dass wir dort noch nicht in den Landesparlamenten waren, weder in Rheinland-Pfalz noch in Baden-Württemberg. Also gab es keine Erfahrung mit uns in Landespolitik. Das ist immer ein schwieriger Start, wenn man das erste Mal antritt.
Capellan: Wie wichtig ist die Wahl in Bremen Ende Mai? Bremen war das erste Landesparlament im Westen, wo Sie reingekommen sind - 2007 mit 8,7 Prozent. Sie haben jetzt die Chance, erstmals eine Mitgliedschaft in einem Landesparlament im Westen zu verteidigen.
Gysi: Na ja, das hatten wir schon zwei Mal. Einmal hatten wir sie in Hessen verteidigt und einmal haben wir sie in Hamburg verteidigt . . .
Capellan: . . . aber jetzt war es erstmals eine volle Legislaturperiode . . .
Gysi: . . . ja, da haben Sie recht. Es ist das erste Mal nach einer vollen Legislaturperiode, deshalb ist Bremen und Bremerhaven für uns wichtig. Also mein Ziel ist, dass wir auf jeden Fall wieder einziehen. Das müssen wir schaffen, und dafür müssen wir noch was tun. Und wir haben ja jetzt dafür noch etwas Zeit im Mai, uns politisch zu ordnen. Denn alles, was wir jetzt diskutieren, hat auch viel mit der Linken zu tun. Die ganze ökologische Erneuerung muss man ja auch sehen unter dem Faktor der sozialen Ausgleichung des Vorgangs. Man kann ja einfach sagen, wir machen das ganze Leben teurer - ich sag mal, die Grünen damals: Fünf Mark wollten sie pro Liter Benzin. Das ist ja Ökologie über Ausgrenzung, indem ich sage, die sozial-finanziell Schwächeren bleiben draußen, dürfen nicht mehr Auto fahren, die anderen können Auto fahren. Das darf niemals der Weg der Linken sein, der Weg der Linken ist die Zusammenführung von ökologischer Erneuerung und sozialer Gerechtigkeit. Und das müssen wir schon deutlich machen bei den Energiekosten. Wer kriegt die eigentlich, wenn wir jetzt lauter erneuerbare Energien gewinnen? Und wenn wir das politisch herausarbeiten, dann werden wir den Wiedereinzug schaffen - also das schaffen, was Sie gerade gesagt haben: Die Verteidigung, dass wir da wieder drin sind.
Capellan: Wenn das schief geht, geht dann die Debatte über Gesine Lötzsch und Klaus Ernst wieder los?
Gysi: Darüber diskutiere ich mit Ihnen am Montag danach, und jetzt mache ich nicht mit Ihnen hier keine Debatte, was nun in diesem Falle wäre.
Capellan: Und das wäre auch nicht eine Notsituation, dass Oskar Lafontaine zurück kommt?
Gysi: Nein, das ist nicht die Notsituation. Also, Sie haben mich ja immer gefragt. Die klassische Notsituation wäre, wenn die beiden Vorsitzenden und ich bei einem Flugzeugunglück umkommen. Sehen Sie mal, das ist doch wirklich eine Notsituation, das . . .
Capellan: . . . das haben Sie aber nicht gemeint . . .
Gysi: . . . nein, das habe ich nicht gemeint. Aber es wäre eine klassische Notsituation.
Capellan: Bleibt immer noch die Frage, was Sie wirklich gemeint haben mit der Notsituation. Aber das wollen Sie uns nicht verraten?
Gysi: Nein.
Capellan: Dann reden wir über das Programm. Im Oktober soll es verabschiedet werden. Es gibt einen Entwurf, der stammt noch aus der Feder von Lothar Bisky und Oskar Lafontaine. Und Klaus Ernst, der jetzige Parteivorsitzende, auch Gesine Lötzsch erwecken den Eindruck, als solle da wenig verändert werden. Ist es das, was viele Mitglieder auch aufbringt? - Es steht drin: Wir wollen eine sozialistische Gesellschaft. Es steht drin: Politische Streiks müssen erlaubt werden. Es steht drin, dass Privatisierungen nicht erfolgen dürfen, dass man sich an keiner Regierung beteiligen will, die Sozialabbau und die Stellenabbau betreibt. Richtig?
Gysi: Also gehen wir noch mal zum ersten Punkt. Natürlich, wir sind demokratische Sozialistinnen und Sozialisten und wollen deshalb eine demokratische sozialistische Gesellschaft. Was das auch heißt, ist: Ein autoritärer Sozialismus kommt mit uns nie wieder in Frage. Die sind gescheitert, die Menschen wollen ihn nicht . . .
Capellan: . . . da haben viele Gesine Lötzsch anders verstanden, als sie über Wege zum Kommunismus sprach . . .
Gysi: . . . ja, das war ein irrtümlicher Satz, aber wenn man den Text als Ganzes sieht, dann weiß man auch, dass sie nichts anderes als einen demokratischen Sozialismus meinte. Ein demokratischer Sozialismus ist allerdings wichtig, weil ich den Kapitalismus nicht für die letzte Antwort der Geschichte halte. Der hat ja auch nicht gesiegt, sondern der ist übrig geblieben, und das reicht nicht. Das Zweite: Politische Streiks. Die gibt es in Frankreich, die gibt es in anderen Ländern. Ich verstehe überhaupt nicht, warum die in Deutschland verboten sind. Ich nenne mal ein Beispiel: Die Gewerkschaften waren höchst unzufrieden, als das Renteneintrittsalter auf 67 Jahre verschoben wurde. So etwas darf aber nicht mit einem Streik in Deutschland beantwortet werden, in Frankreich ja. Warum eigentlich nicht?
Capellan: Der Hintergrund ist aber ein anderer. Andre Brie, der ja als Vordenker gilt in Ihrer Partei . . .
Gysi: . . . von den Medien vor allen Dingen hat er diesen Titel bekommen, aber er kann denken, das stimmt. Ich habe ihm mal gesagt ´Wenn Du ein Vordenker bist, dann bin ich ein Nachdenker´ - das fand er immerhin witzig.
Capellan: Er hat zumindest gesagt, die Linkspartei darf nicht den Eindruck erwecken, als wolle man einen Umsturz durch soziale Unruhen auf den Weg bringen.
Gysi: Nein, das ist ja auch gar nicht unser Ziel ...
Capellan: . . . das könnte hinter ´politischen Streiks´ stehen . . .
Gysi: . . . nein, bei politischen Streiks geht es um solche Fragen, wo die Gewerkschaften relativ wehrlos den Veränderungen gegenüber stehen - weil sie ja nur aus Tarifgründen streiken dürfen. Sie dürfen aber zum Beispiel nicht gegen eine Rente erst mit 67 streiken. Das ist ein Problem in Deutschland, in Frankreich dürfen Sie das. Was glauben Sie, was da los ist bei bestimmten Entscheidungen. Und bei uns nicht. Das tut mir leid, und ich möchte, dass da die Gewerkschaften bessere Möglichkeiten bekommen. Was war Ihre dritte Frage?
Capellan: Verstaatlichung. Da haben Sie zum Beispiel gerade gesagt . . .
Gysi: Nein: Keine Privatisierung. Das ist ein großer Unterschied. Die letzten Jahre waren dadurch geprägt, dass die öffentliche Daseinsvorsorge privatisiert worden ist. Ob ich Wasser nehme, ob ich Energie nehme, ob ich all diese Bereiche nehme - selbst die Riester-Rente ist ja zum Teil privatisiert worden und vieles andere mehr. Und das hat gravierende Folgen. Die gravierendste Folge ist, dass die Politik da nichts mehr damit zu tun hat. Stellen Sie sich mal vor, wir würden das Wasserwerk in Berlin vollständig privatisieren. Dann hätten wir nichts mehr zu sagen. Wir hätten auch bei den Preisen nichts mehr zu entscheiden. Und ich sage jetzt mal, bei der Finanzkrise haben wir es doch gemerkt, wie die Deutsche Bank gespielt hat mit der Politik. Herr Ackermann hat doch entschieden, was Frau Merkel macht und nicht Frau Merkel, was Herr Ackermann macht. Und die haben dabei abgezockt und sie machen das alles schon wieder. Aber um jetzt wieder ein Missverständnis sozusagen auszuräumen, ich will doch nicht, dass alles staatlich ist - das hatte ich schon mal, das geht völlig schief -, sondern es geht uns um die öffentliche Daseinsvorsorge und es geht uns um solche Großunternehmen, die eine Monopolstellung haben.
Capellan: Sie haben das zum Beispiel jetzt angesprochen mit Blick auf die Energiekonzerne, die müsste man zerlegen.
Gysi: Ja.
Capellan: Das geht doch in Richtung Verstaatlichung.
Gysi: Nicht zerlegen, da kann man auch rekommunalisieren, da kann man auch kleinere private Unternehmen haben. Was uns wichtig ist, sind die Netze. Die Netze müssen in öffentliche Hand, damit der Staat etwas mit zu entscheiden hat. Das ist wichtig bei der Energieversorgung. Wenn ich die privatisiere und ein Privater die Netze einfach schließen kann und der Bevölkerung den Strom entziehen kann, und ich kann gar nichts mehr machen, weil ich es ihm alles verkauft habe - nein, das wäre ein großer Fehler. Also, ich glaube, wir brauchen das richtige Verhältnis. Das müssen wir zum Beispiel programmatisch klären. Also nicht überziehen mit dem staatlichen Eigentum, aber auch nicht zu wenig, denn zu wenig heißt immer Entmündigung der Politik. Und das heißt immer Entmündigung der Demokratie.
Capellan: Herr Gysi, ist die Linkspartei zu sehr die Hartz-IV-Partei?
Gysi: Nein, weil das gar nicht unserem Anliegen entspricht. Aber ich räume ein, es ist ein bisschen der Eindruck entstanden. Nun stand das Thema auch im Vordergrund und nach wie vor beschäftigt uns das. Und natürlich vertreten wir engagiert auch die Interessen der Hartz-IV-Empfängerinnen und Hartz-IV-Empfänger. Aber wir vertreten natürlich auch die Interessen der Geringverdienenden. Wir vertreten auch die Interessen der normal verdienenden Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer; auch der besser verdienenden Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Wir vertreten auch die Interessen der Klein- und mittleren Unternehmerinnen und Unternehmer, insbesondere der Unternehmerinnen und Unternehmer, die von der Binnenwirtschaft leben. Und durch den Reallohnrückgang, den wir hatten einschließlich Rentenrückgang et cetera hat ja die Kaufkraft der Bevölkerung ständig nachgelassen, was für diese Klein- und mittleren Unternehmen eine Katastrophe ist. Und da wir dort eine soziale Stärkung fordern, höhere Löhne fordern, fordern wir ja auch mehr Kaufkraft wiederum im Interesse der Unternehmen. Und letztlich gibt es noch eine Gruppe, die wir gerne ansprechen wollen, das sind natürlich auch die Intellektuellen. So, und wenn ich Ihnen das gesagt habe, muss ich jetzt als Defizit deutlich machen, das wird nicht so richtig klar. Das heißt, das müssen wir deutlicher machen in unserer Politik. Aber wir sind breiter und das müssen wir auch wieder öffentlich deutlich machen.
Capellan: Hartz, Rente mit 67, Mindestlohn - das sind im Moment aber nicht die zentralen Themen, die die Menschen beschäftigen. Oder sehen Sie das doch so?
Gysi: Na ja, diejenigen, die es betrifft, die wird das schon beschäftigen. Aber natürlich stehen im Augenblick auch zum Teil andere Fragen im Vordergrund. Ich finde ja auch die Frage spannend, dass wir jetzt vielleicht wirklich den Übergang zu einem neuen Industriezeitalter erleben, also weg von der fossilen Energie, weg von der Atomenergie vor allen Dingen, und in erster Linie hin zu erneuerbaren Energien. Das ist eine gewaltige Umstellung. Die Grünen machen das natürlich innerkapitalistisch. Die sagen dem Konzern, ihr müsst jetzt eure Profite machen mit erneuerbaren Energien und nicht mehr mit Atomenergie. Aber immerhin, sie wollen ja doch eine Erneuerung, sie wollen etwas Moderneres. Und wir müssen in dem Zusammenhang neben der notwendigen Erneuerung der ganzen ökologischen Basis in unserer Gesellschaft wiederum die soziale Frage stellen. Ich sage Ihnen, erneuerbare Energie wird Geld kosten. Und jetzt droht ja die Union schon absichtsvoll damit, dass die Strompreise so steigen. Deshalb sage ich ja, dann brauchen wir wieder eine staatliche Preisregulierung, damit die Politik dafür verantwortlich ist. Und wir brauchen für die, die wenig verdienen, egal ob sie Rentnerin oder Rentner sind, ob sie Hartz-IV-Empfangende sind oder ob sie in Arbeit stehen und wenig verdienen, brauchen wir einen Sozialtarif in der Energie. Ich kann nicht davon ausgehen, dass die Leute den Strom abschalten, weil sie sich das nicht mehr leisten können. Das ist indiskutabel.
Capellan: Ist das auch gegen die Grünen gerichtet?
Gysi: Ein bisschen, weil die Grünen immer sich entwickelt haben. Sie müssen ja wissen, die meist verdienendsten Wählerinnen und Wähler haben die Grünen. Und sie haben so eine Distanz zur sozialen Frage entwickelt. In der Regierung mit der SPD waren es die Grünen, die wollten, dass der Spitzensteuersatz gesenkt wird. Und sie waren ja auch einverstanden mit Hartz IV und so. Aber sie haben dann natürlich dann auch manchmal so die großzügige Note eines Typs, wie ich auch einer bin, verstehen Sie? Ich selber verdiene ja nicht schlecht, aber ich bin nicht gerne von Armut umgeben. Aber das prägt die Grünen nicht ausreichend. Deshalb sagen sie, sie wollen die erneuerbaren Energien und werfen die sozialen Fragen in dem Zusammenhang gar nicht auf. Und die SPD sagt, sie will die erneuerbaren Energien und redet dann in erster Linie über die Großverbraucher. Und wir sagen, wir wollen die erneuerbaren Energien und wollen aber, dass alle Verbraucher sich die auch leisten können.
Capellan: Sie schießen sich sehr oft auf die Grünen und auch auf die Sozialdemokraten ein. Halten Sie das nach wie vor für richtig? Also, mit Grün regiert die SPD jetzt auch als Juniorpartner in Baden-Württemberg, mit der Linkspartei nicht.
Gysi: Daran sehen Sie mal, dass die SPD sich bewegen muss. Die bleibt immer hinter der Zeit und ihren Möglichkeiten. Wenn die der Gesellschaft deutlich machen würde, sie kann koalieren mit der Union, sie kann koalieren mit der FDP - ich meine, das gefällt mir alles nicht, aber sie kann es -, sie kann koalieren mit den Grünen, sie kann aber auch koalieren mit den Linken und akzeptiert auch bei den Linken, wenn die stärker sind, sind sie stärker. Dann stellt eben die Linke den Ministerpräsidenten und nicht die SPD. Das kann sie nicht, verstehen Sie? Sie kann über einen bestimmten ideologischen Schatten nicht springen, was letztlich zu ihrem Nachteil wird, denn sie engt sich ein. Und ich sage mal, was jetzt unsere östlichen Landtagsfraktionen betrifft, so sind die ja alle auch durchaus pragmatisch, also mit denen kann man zusammen arbeiten. Wir haben doch hier nicht schlecht mit der SPD in Berlin regiert. Was mir wichtig ist in Berlin, ist, dass wir gestärkt aus dieser Regierungskoalition heraus gehen. Denn mein Landesverband, das muss ich sagen, und unsere Senatorinnen und Senatoren und unsere Fraktion im Abgeordnetenhaus waren in dieser Legislaturperiode viel selbstbewusster als in der ersten, haben auch mehr durchgesetzt. Es gab auch mal ein bisschen Zoff mit dem Koalitionspartner. Das schadet gar nichts. Wir haben dadurch ein stärkeres eigenes Bild bekommen. Also, ich hoffe, dass wir zulegen und dann warten wir es mal ab, ob die Träume der Grünen so in Erfüllung gehen, wie man das im Augenblick denkt. Das muss ja auch nicht der Fall sein.
Capellan: Lassen Sie uns unbedingt über den 1. Mai sprechen. Ab heute dürfen Arbeiter aus den osteuropäischen Beitrittsstaaten der Europäischen Union bei uns tätig werden. Ein Problem in Ihren Augen?
Gysi: Ja, aber aus folgendem Grund ein Problem. Erst mal ist das ja zu begrüßen. Man muss sehen, das Leben europäisiert sich. Wissen Sie, die heutige Jugend wird in einem anderen europäischen Bewusstsein aufwachsen, als es mir überhaupt möglich war. Und ich weiß nicht, vielleicht wenn die heutige Jugend im Rentenalter ist, kennen wir schon so etwas wie eine europäische Staatsbürgerschaft. Keine Ahnung, das kann sich ja alles noch entwickeln. Das Problem ist, dass die Bedingungen dafür nicht stimmen. Wir haben eben den Euro geschaffen, ohne eine politische Union zu haben damals. Die ganzen Voraussetzungen waren nicht gegeben, weder hinsichtlich der Versicherungen noch hinsichtlich der Steuern noch hinsichtlich der Löhne. Was ist das Problem? Das Problem besteht darin, dass Deutschland als eines der wenigen Mitgliedländer der EU keinen flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn hat. Das haben übrigens inzwischen 100 Staaten auf der Erde. 100 Staaten haben einen flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn. Nur unsere konservativ-liberale Regierung meint, sie ist schlauer als die ganze Welt und lehnt deshalb den flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn ab. Wenn wir ihn hätten, dann wäre ich zunächst einmal sicher, dass die polnische Arbeitnehmerin und der rumänische Arbeitnehmer hier wenigstens Mindestbedingungen garantiert bekommen. Nicht, dass ich die dann im Bauwagen sehe, wo sie untergebracht sind zu Achtzehnt, einen miserablen Lohn bekommen, den sie aber durch bestimmte Umtauschverhältnisse in ihren eigenen Ländern noch ganz gut verwenden können, an so was dürfen wir nicht teilnehmen. Ein Unternehmer soll die Wahl haben, ob er einen polnischen Arbeitnehmer einstellt oder einen deutschen Arbeitnehmer einstellt. Und wenn er sagt, ich nehme den polnischen Arbeitnehmer, weil der fleißiger ist, weil der besser ausgebildet ist, weil der überhaupt zuverlässiger ist, ist das völlig in Ordnung, und er würde immer meine Unterstützung finden. Wenn er aber sagt, ich nehme den, weil er billiger ist, dann kriege ich ein Problem. Und zwar das Problem, dass der deutsche Arbeitnehmer dann sagt, der klaut mir ja den Arbeitsplatz und ich kann zu diesem billigen Lohn gar nicht arbeiten, weil ich dann nicht mal mehr meine Miete bezahlen kann. Und dann ist Nutznießer dieser Entwicklung die NPD. Und das will ich auf gar keinen Fall. Deshalb, sage ich, sind wir in der Politik gefordert. Eine Bedingung ist der flächendeckende gesetzliche Mindestlohn . . .
Capellan: . . . aber andererseits, da, wo es einen Mindestlohn gibt in den Branchen, das gilt ja dann auch für die Zuzügler, auch die sozialen Mindeststandards, die man vereinbart hat.
Gysi: In bestimmten Bereichen haben wir sie und in anderen Bereichen haben wir sie nicht. Und meine Sorge bezieht sich auf die Bereiche, wo wir es nicht haben. Und in den Bereichen, wo wir es haben, müssen wir es auch noch durchsetzen. Ich habe mir das ja in Großbritannien genau angesehen. Alle Theorien, die besagen, ein flächendeckender gesetzlicher Mindestlohn führt zu mehr Arbeitslosigkeit - in Großbritannien wurde in diesem Zusammenhang die Arbeitslosigkeit abgebaut, nicht etwa aufgebaut. Zweitens habe ich die gefragt, wie macht ihr das mit der Schwarzarbeit? Hat die so zugenommen? Alle erklären mir ja, dass dann das Friseurhandwerk kaputt geht, weil die dann alle schwarz arbeiten et cetera. Die haben jetzt noch zwei Prozent Schwarzarbeit in Großbritannien. Davon können wir in Deutschland nur träumen. So was mache ich dann immer. Dann fahre ich hin und schaue mir das genau an und prüfe auch die konservativen Argumente, ob die stimmen oder nicht stimmen. Und die stimmen nicht. Der flächendeckende gesetzliche Mindestlohn wäre eine wichtige Sache in Deutschland.
Capellan: Was haben Sie gegen die Minijobs? Sind die nicht auch eine Möglichkeit gewesen in den vergangenen Jahren, den Wiedereinstieg in den Arbeitsmarkt zu erleichtern? Hat das nicht auch dazu beigetragen, die Arbeitslosenzahlen zu drücken?
Gysi: Ja, letzteres stimmt auf jeden Fall, weil das aber ein statistischer Trick ist. Schon mit einem 1,50 Euro-Job gelte ich ja nicht mehr als arbeitslos. Wenn das Jobcenter mich in irgendeine halbwegs sinnlose Maßnahme schickt, wo ich rum sitze, gelte ich ja in den Tagen nicht mehr als arbeitslos. Das sind für mich alles statistische Tricks, mit denen wir nichts anfangen können. Die Minijobs sind ein Problem. Erstens werden die zu zwei Dritteln weiblich besetzt. Schlecht bezahlte Jobs - Frauen hinsetzen. Zack, so läuft das bei uns. Das zweite ist, das das ja für viele nicht aufhört. Es ist eben nicht der Einstieg. Was glauben Sie wie viele Leute bei mir waren mit befristetem Arbeitsverhältnis. Die sind jetzt das vierte Jahr in einem befristeten Arbeitsverhältnis. Nichts mit der Hoffnung, nach anderthalb Jahren, dann werde ich mal unbefristet eingestellt. Da sind die Unternehmen viel zu vorsichtig und sagen, so werde ich den schneller wieder los. Abfindung ist viel billiger, muss nicht lange kündigen, der Vertrag läuft einfach aus. Es ist so eine bequeme Methode. Und bitte vergessen Sie eines nicht: Wir haben inzwischen immer mehr Aufstockerinnen und Aufstocker. Das sind Leute, die entweder Teilzeit arbeiten - da kann man das ja noch irgendwie hinnehmen -, aber wir haben auch viele Leute, die in Vollzeitjobs arbeiten und so wenig verdienen, dass sie anschließend noch Anspruch auf Hartz IV haben. Und dann sagt mir Frau Merkel, sie ist stolz darauf, dass der Staat das übernimmt. Und ich sage, ich finde das einen Skandal. Wenn jemand hier einen Vollzeitjob hat, dann hat er auch Anspruch auf einen Lohn, mit dem er in Würde leben kann und nicht den Anspruch, zum Jobcenter oder zum Sozialamt geschickt zu werden. Also, da müssen sich wirklich Dinge bei uns verändern.
Capellan: Gregor Gysi, eine abschließende Frage noch: Wie lange wollen Sie noch alleine an der Spitze der Fraktion stehen?
Gysi: Wir sind da offen. Wir werden darüber diskutieren. Wir wählen ja im Oktober den Fraktionsvorstand wieder und dann werden wir das entscheiden.
Capellan: Sarah Wagenknecht wird da als mögliche Partnerin genannt.
Gysi: Nein, also dazu werde ich mich jetzt überhaupt gar nicht äußern. Das werde ich mit allen besprechen und wir werden das auch miteinander besprechen. Und es ist übrigens noch nicht entschieden, ob wir tatsächlich eine zweite Vorsitzende wählen. Also, da ist noch vieles offen. Wir werden darüber diskutieren.
Capellan: Aber es müsste eine Vorsitzende sein, es müsste wieder das Spielchen Mann/Frau, Ost/West sein.
Gysi: Zumindest, wenn ich wieder Vorsitzender werden sollte, was ich ja hoffe, dann müsste es eine Frau sein. Ja. Wenn zwei gewählt werden, dürfen es zwei Frauen sein, aber niemals zwei Männer, außer bei Oskar und mir. Das war die Ausnahme. Da hatten wir auch noch nicht die Regelung entsprechend. Und bei Oskar und Lothar übrigens auch nicht. Das war natürlich keine gute Quotierung.
Capellan: Aber Sie halten die Quote für richtig?
Gysi: Ich halte die Quote für richtig, aber ich sage immer beides. Erstens kann man auch zwei Frauen wählen, und zweitens kann man zu bestimmten Zeiten aus bestimmten Gründen auch darauf verzichten.
Capellan: Gregor Gysi, vielen Dank für das Gespräch.
Gysi: Bitte!