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Natürlichkeit und Künstlichkeit

Der Begriff "authentisch" ist zum abgedroschenen Modejargon geworden. Es gibt kaum ein Genre oder eine Szene, in der er nicht verwandt wird, obwohl er uns nur noch Verschwommenes und Ungefähres mitzuteilen scheint. Was jedoch bedeutete der Begriff ursprünglich und wie hat er sich semantisch gewandelt?

Von Matthias Sträßner | 16.10.2011
    Der heutige Umgang mit dem Begriff des Authentischen erscheint maßlos. Es vergeht kaum ein Tag, an welchem uns das Wort "authentisch" nicht als Lesefutter hingeworfen wird. Dieser Film ist nach einer authentischen Begebenheit, jenes Buch ist, diese Persönlichkeit wird als besonders "authentisch" gepriesen. Es wird authentisch musiziert, authentisch gebaut, authentisch geschrieben, und – nicht zu vergessen - authentisch gelebt. Kreditkartenfirmen loben die neuen Sicherheiten der Personalisierungstechnologie, weil die Authentifizierung von Frau Mustermann mit Fingerabdruck, Iris oder biometrischen Daten aufs Beste gelingen soll, und diese Eindeutigkeit durch selbst gewählte Begrüßungstexte und Passwörter zur "Eineindeutigkeit" noch gesteigert werden kann. Der Begriff gerät in eine merkwürdige Gemengelage, in welcher Probleme der Identität und der Identifizierung munter durcheinander purzeln.

    Schlägt man Zeitungen an einem beliebigen Wochenende auf, dann erfährt man, wie sich "die Oldtimerszene auf das Authentische inklusive Beulen und aufgerissener Sitzpolster besinnt", während auf den Politikseiten die Samenspuren eines IFW-Präsidenten als authentischer Beleg für den Kontakt mit einem Zimmermädchen gelten oder im Reiseteil Urlaubsimmobilien in authentischer, will sagen: landestypischer Umgebung angepriesen werden. Als Begriffsmesser wirkt das Wort "authentisch" merkwürdig abgestumpft und verbogen. Statt Prädikate wie "wahr", "echt", "original", "wesenhaft" zu überbieten, geht es aus einem diffusen Gebrauch immer geschwächter hervor. Es mag deswegen sinnvoll sein, sich die Milieus genauer anzuschauen, in denen dieser Begriff historisch verwendet wurde und heute üblicherweise verwendet wird.

    "Erstens: Was Ossians Gesänge, die Bibel und Hitler-Tagebücher verbindet."

    Der Begriff "authentisch" wird vornehmlich im Kontext der Quellenkritik verwendet. Ein in diesem Sinn unverfänglicher Gebrauch des Wortes liegt beispielsweise bei David Hume vor, dem vor 300 Jahren geborenen Philosophen, der sich 1775 mit der Echtheit der vermeintlich original-gälischen Ossian-Gedichte beschäftigte, die in der Lesewelt einen gewaltigen Eindruck hinterlassen hatten.

    "Gerade die Art, in welcher es das Dokument der Öffentlichkeit präsentiert wird, schafft einen Vorbehalt gegen seine Authentizität ... Man hätte doch erwarten können, dass der vorgebliche Sammler und Übersetzer der Öffentlichkeit mitgeteilt hätte: 'Dieses Teil bekam ich von dieser Person, an diesem Ort; jenen anderen Teil von einer anderen Person. Ich korrigierte meine erste Fassung durch die Erzählung einer dritten ... ' Durch eine solche Geschichte der allmählichen Entdeckungen hätte er dem Ganzen das Ansehen der Wahrscheinlichkeit gegeben."

    In dem Text über die Authentizität der Schriften Ossians scheinen zunächst zwei Zuschreibungen vorrangig: Ein Dokument unbekannter Herkunft wird nach Jahren wenn nicht Jahrhunderten "vorgefunden", es ist plötzlich einfach "da", im wörtlichen Sinne vorhanden, "zur Hand". Zum andern wird gefragt, ob das Dokument echt und original sein kann. Zu der Positivität des Dokuments kommt eine Prüfung der Plausibilität. Kommen in dem Text vielleicht Sachen vor, welche der Datierung und Lokalisierung des alten Dokuments widersprechen?

    Um dies zu überprüfen, sucht David Hume nach Anzeichen, die dafür sprechen, dass dieser Text nicht so alt sein kann, wie von ihm behauptet wird. Wenn sich das Personal in den gälischen Gedichten aus dem barbarischen 3. Jahrhundert so chevaleresk benimmt wie üblicherweise nur Ritter des 17. Jahrhunderts, dann kommen Zweifel auf. Wenn in dem unbekannten Bild eines Meisters Farben verwendet werden, die es zur behaupteten Zeit noch nicht gegeben haben kann, dann muss das Bild gefälscht sein. Am Schluss einer solchen einfachen Prüfung des Authentischen, mag sie nun für die Gedichte Ossians, die Schriften der Vorsokratiker, für Hitlers Tagebücher oder für überraschend aufgetauchte Bilder auf einer Auktion gelten, stehen klare Wertungen: Was vorliegt, ist Original oder Fälschung. Ist der konkrete Urheber nicht selbst zu ermitteln, dann meint "authentisch" immerhin noch die klare historische, zeitliche und örtliche Zuordnung eines Werkes, die durch vergleichbare Werke plausibilisiert werden kann.

    Eine Zuspitzung erfährt die Verwendung des Begriffs in diesem Verwendungsmilieu dann, wenn es nicht einfach nur um einen wichtigen Text der Kulturgeschichte geht, sondern schlechthin um den Text, auf den sich der Glaube und die Religion eines Volkes berufen. Fritz Mauthner ging 1910 in seinem "Wörterbuch der Philosophie" der Frage nach, was die biblischen Texte für Juden und Christen, was den Koran für den Islam zu einem "authentischen" Text werden lässt?

    "Was will es nun heißen, wenn das Konzil von Trient die Vulgata für authentisch erklärt? Wobei die groteske Tatsache nicht vergessen werden sollte, dass ... dieser authentische Text ja erst einige Jahre nach dieser Erklärung hergestellt wurde, dass also der Heilige Geist die Männer des Konzils Textworte authentisieren ließ, die erst eine spätere Generation aus philologischen Gründen für die richtigen ansehen lernte."

    Die besondere textkritische Aufgabe orientiert sich dabei an einer juristischen Beurteilung des Authentischen. Schon die Römer kannten das Verfahren einer notariellen Beglaubigung von Testamentsabschriften. Fritz Mauthner übersetzt deswegen den Begriff "authentisch" mit "zuverlässig, verbürgt, eigenhändig, urschriftlich".

    "Zweitens: Wenn einer eine Reise tut, dann kann er authentisch erzählen."

    Jenseits eines Umgangs mit "Originaldokumenten" in Literatur, Theologie und Rechtswesen, und jenseits auch von Originalen in der Kunst findet sich für die Zeugenschaft des Authentischen eine weitere Anwendung in den Reiseberichten. Dies umso stärker, je mehr sich die Reiseberichte von Herodot, Plinius, Tacitus bis Marco Polo zu jenen Meldungen verdichten, die seit der Revolution im Nachrichtenwesen in der Mitte des 19. Jahrhunderts durch die Telegrafendrähte schwirren. Spätestens seit den Berichten William Howard Russells vom Krimkrieg, damals in der Londoner "Times" 1853 bis 1856 veröffentlicht, bedeutet die Formulierung "authentisch erzählen" bzw. "authentisch berichten", dass ein Ereignis für ein erweitertes Publikum "von einem Augen- oder Ohrenzeugen" erzählt wird, und zwar ereignisnah, also nicht etwa nur aus der historischen Erinnerung oder Distanz heraus.

    "Drittens: Rilkes Torso. Das Authentische wird zum Archaischen."

    Schon der Handel mit klassischen Kunstwerken und die mit ihm einhergehende Erfindung der Antike und der Klassik hatte zu einer weiteren begrifflichen Beanspruchung des Authentischen geführt. Die auf klassische Werke des Altertums bezogene Kauf- und Besitzwut, die ihren Höhepunkt im Kunsthandel des 18. und 19. Jahrhunderts erfuhr, löste noch die üblichen Echtheitsprüfungen aus. Forscher und Fälscher, Johann Joachim Winckelmann ebenso wie Konstantin Simonides, zielen auf Authentizität und "Authenticity" von Skulpturen und Manuskripten. Trotzdem wird der Begriff "authentisch" gerade durch die Kunstwissenschaft am Ende des 19. Jahrhunderts in ein weiteres Milieu überführt. Die Entdeckung einer der "klassischen" Kunst Griechenlands vorgelagerten "archaischen" Kunst, und die besondere Würdigung gerade dieser Kunst vor Perikles nicht etwa als einer reinen "Vorläufer"-Kunst, sondern als Kunst aus eigenem Recht und Anspruch, all dieses führt zu einer Überhöhung des Urtümlichen und Primitiven.

    Johann Joachim Winckelmanns Apollon vom Belvedere war, was seinen Erhaltungszustand anlangt, fast makellos perfekt, ganz im Gegensatz zu jener im Louvre ausgestellten Jünglingsplastik von Milet, auf die sich Rilke beziehen wird. Was für die Philosophie und Kunstgeschichte Jacob Burckhardt und Friedrich Nietzsche, für die Klassische Archäologie Heinrich Brunn, Adolf Furtwängler und später noch Ernst Buschor zum Ausdruck bringen, das formuliert Rainer Maria Rilke in seinem Gedicht zum "Archäischen Torso Apollos" sogar noch als Appellform für die Zeitgenossen: "Du musst dein Leben ändern." Das Ursprünglich-Unvollständige und Torsohafte wird geradezu zu einem Adelsmerkmal des Authentischen, das sich mit einem "fast unwiderstehlichen Pathos der Ursprünglichkeit" aufzuladen versteht.

    "Archaïscher Torso Apollos

    Wir kannten nicht sein unerhörtes Haupt,
    darin die Augenäpfel reiften. Aber
    sein Torso glüht noch wie ein Kandelaber,
    in dem sein Schauen, nur zurückgeschraubt,

    sich hält und glänzt. Sonst könnte nicht der Bug
    der Brust dich blenden, und im leisen Drehen
    der Lenden könnte nicht ein Lächeln gehen
    zu jener Mitte, die die Zeugung trug.

    Sonst stünde dieser Stein entstellt und kurz
    unter der Schultern durchsichtigem Sturz
    und flimmerte nicht so wie Raubtierfelle;

    und bräche nicht aus allen seinen Rändern
    aus wie ein Stern: denn da ist keine Stelle,
    die dich nicht sieht. Du musst dein Leben ändern."


    Die Würdigung des Urtümlichen und Primitiven im Authentischen durchgeistert so unterschiedliche Bereiche wie die Archäologie, die Musik Strawinskys, den Primitivismus der Malerei, den Kult der Vorsokratiker in der Philosophie. Auffällig häufig ersetzen heutige Kunstgeschichtler den Begriff des Archaischen durch den Begriff des Authentischen, so etwa Salvatore Settis (- und ihm folgend auch Henning Ritter in seinen "Notizheften"), womit im Nachhinein dokumentiert wird, wie sehr sich dieser Begriff auch vitalistisch aufladen konnte, und dabei alle Erinnerung an den rousseauschen Naturzustand oder an Idyllen-Inseln frühzeitlicher Naivität hinter sich lässt. Neben dem Original, das als fertiges Kunstwerk eines bekannten Meisters zu gelten hat, von dem ggf. auch Kopien zu machen wären, steht mit gleichem Recht der Torso eines anonymen Urhebers, dem gerade durch die Unwiederholbarkeit eine besondere Würde des Einmaligen, Unverwechselbaren und Unnachahmlichen zukommt.

    Viertens: "Die Negation des Werkes wird häufig zu einer besonderen Form seiner Authentisierung"

    Bei der Verwendung des Begriffs "authentisch" in den diversen Milieus setzen sich auch Nebenbedeutungen und Konnotationen fest: Das Authentische verdankt einen Teil seiner Würde offensichtlich der Tatsache, dass es trotz widrigster Umstände noch "da" und vorhanden ist. Das Authentische ist von konzessiver Plausibilität. Was authentisch sein will, ist, fast muss man sagen: obsessiv konzessiv. Jedes authentische Dokument bekommt dadurch gleichsam eine Doppelbeigabe an Positivität und Negativität: Das Werk ist überraschend vorhanden und "Die Negation des Werkes wird häufig zu einer besonderen Form seiner Authentisierung", heißt es in Henning Ritters "Notizheften" mit Blick auf Rimbaud. Die unverhoffte Rettung eines verleugneten und verstoßenen Werks vor seinem Urheber scheint dieses Werk für die Nachwelt nur umso sprechender zu machen. In den fiktiven Welten literarischer Erzählung kann dies auch heitere Seiten haben: "Wenn ich heute morgen schon gewusst hätte, was ich schreiben würde, hätte ich gar nicht geschrieben" heißt es Wilhelm Raabes "Prinzessin Fisch", und der Leser hält den dann doch geschriebenen Liebesbrief eines Backfischs in seiner authentischen Naivität für umso wertvoller.

    Fünftens: Nacktkultur, Fidus und Birkenstock. Die Berufung des Authentischen auf Heidegger ist ein Übersetzungsproblem.

    Rilkes Appell von 1908 wird gehört und von den Lesern häufig übersetzt als: "Du musst authentisch leben!" Spätestens mit dem 1. Weltkrieg wird umgangssprachlich davon ausgegangen, dass die Formulierung "authentisch leben" Sinn macht. Der Begriff des Authentischen wird dabei erneut einem harten Stresstest unterzogen. Mauthners oben zitierter Lexikon-Text von 1910 ist dabei schon deswegen interessant, weil der Begriff des Authentischen unerachtet der Zeit der Abfassung nur in der textkritischen Bedeutung vorkommt.

    Wer spätere, und vor allem zeitgenössische Philosophielexika heranzieht, wird den Begriff des "Authentischen" mit der Existenzial- und Lebensphilosophie verbunden finden, mit Namen wie Rudolf Bultmann, Martin Heidegger oder Karl Jaspers. In der Heidegger-Rezeption wird "authentic" bzw. "authentisch" als englische Übersetzung des Heideggerschen "Eigentlichen" gängig. Und umgekehrt verändert sich das deutsche Adjektiv "eigentlich" wieder durch die Rückübersetzung: "Eigentlich" und "authentisch" werden synonym gebraucht, was begriffsgeschichtlich überhaupt nicht selbstverständlich ist. Denn hätte Heidegger den Begriff "authentisch" statt "eigentlich" benutzen wollen, dann hätte er ihn zu seiner Zeit auch im Deutschen benutzen können.

    Philosophen des Authentischen wie Erich Fromm (und sein Herausgeber) verwandeln das "Originale" des Authentischen in das "Ursprüngliche". Authentisch wird jetzt zusätzlich zu einem Gegenbegriff des Entfremdeten. Im authentischen Leben wird das Unfertige und Unvollendete des Torsos in die Authentizität einer Persönlichkeit umgemünzt, der man dafür ihr Widersprüchliches gönnen kann. Jedenfalls gilt, dass der künstlerische Torso jenseits seiner handwerklichen Nicht-Vollendung eben doch vollendet, konzessiv vollendet ist, und der authentische Mensch ebenso. Während in den Idealen der Jugendbewegung der Begriff "authentisch" nach Nacktkultur, Fidus und Birkenstock klingt, wird der Begriff mit der Jünger- und Heidegger-Rezeption auch durch Stacheldraht und Schützengräben des Ersten Weltkriegs gezogen.

    "Sechstens: Blut und Wein in Ernst Jüngers Tagebuch oder: Warum authentische Tagebücher häufig besonders künstlich sind."

    "Authentisch zu schreiben" wird zu einem spezifischen Anwendungsfall des authentischen Lebens. Die Tagebuchliteratur von Montaigne bis Rousseau mit ihren auswuchernden "Aufrichtigkeitsfantasien" wird im Rückblick immer wieder auf ihre Authentizität geprüft und es gilt die wohlmeinende Vermutung, dass man "mit der nassen Feder in der Hand" schreiben, denken und erleben kann. Wenn Reporter des Ich jetzt nicht Ereignisse der Außenwelt, sondern die noch viel weiteren Wege zu sich selbst schildern, braucht es offensichtlich besondere Testate der Wahrhaftigkeit. Für die Glaubhaftigkeit scheint es dabei eine besondere Rolle zu spielen, dass erhaltene Texte nicht nur aufrichtig, sondern vor allem intentionslos verfasst wurden, ohne den Blick auf ein potenzielles Publikum. Das ist der Grund, warum Henning Ritter in seinen Notizheften Montaigne zum Vorbild macht.

    "Es liegt in meiner Situation nahe, zu Montaigne zu greifen. Denn er schrieb seine Essais ja zunächst für sich und für seine Freunde, ohne auf Echo und Nutzen zu achten. Die Aufrichtigkeit ist das Siegel solcher Privatheit."

    Das Handicap dieser Authentizität der Ich-Beschreibungen ist nicht zwingend die mutmaßliche Lügenhaftigkeit des Autors, sondern die von ihm getroffenen Maßnahmen, um den Text neben dem von Beruf und vom Privatleben geprägten Tagesablauf authentisch zu generieren und zuzurichten. Die Zurichtung hat ihre handwerklichen Seiten: Wer nicht dazu kommt, alles gleich aufzuschreiben, macht sich "stellvertretende Anmerkungen", die später aufgefüllt werden sollen. Nicht immer ist das Verfahren lässlich. Bei James Boswell, um ein interessantes Beispiel zu nennen, hat der Autor ausweislich schon längst den Tripper, als er sich gemäß Tagebuch erst noch mit der betreffenden Dame treffen will. Das verdankt sich der besonderen Zurichtung des Tagebuchs für authentische Einträge im Präsens, die sich der Autor auch noch zehn Tage nach dem Ereignis gestattet.

    Wenn sich "authentisch leben" und "authentisch schreiben" verbünden, besteht die Gefahr, dass sich beides zu besonderer Künstlichkeit potenziert. In jedem Fall kommen immer raffiniertere Authentisierungsstrategien zum Tragen. Ein Autor, der dieser Mischung authentischen Lebens mit authentischem Schreiben seinen besonderen Ruf verdankt, ist Ernst Jünger. Ernst Jüngers Kriegstagebücher aus dem 1. Weltkrieg gelten auch heute noch als besondere Dokumente authentischer Kriegserfahrung und als Kult authentischen Lebens, das gerade im Krieg stattfinden soll. Das authentische Leben ist ein "sich Ausleben", das sich Widersprüche und Rauheiten ebenso gönnt, wie einem alten Kunstwerk. Wo es sich schriftlich dokumentiert, herrscht die Aura des Handschriftlichen. Dabei gibt es auch hier interessante Zurichtungen. Ernst Jünger tut so, als müsse er sein Originaltagebuch "entziffern".

    "Es war eine seltsame Beschäftigung, im bequemen Sessel das Gekritzel dieser Hefte zu entziffern, an deren Deckeln noch der vertrocknete Schlamm der Gräben klebte, und dunkle Flecken, von denen ich nicht mehr wusste, war es Blut oder Wein."

    Aber diese Authentizität ist ein Kunstwerk. Ernst Jünger bietet im Vorwort zur fünften Auflage der Stahlgewitter dem Leser zur Veranschaulichung eine Kostprobe aus seinem Originaltagebuch an:

    "Ran! Kein Pardon. Wut. Aus Stollen Schüsse, Handgranaten rein. Geheul. Über den Damm. Packe einen am Hals. Hände hoch! Sprungweise hinter Feuerwalze vor. Melder Kopfschuss. Sturm auf MG -Nest. Mann hinter mir fällt. Schieße Richtschützen ins Auge. Handgranaten. Drin! Allein, Streifschuß. Wasser, Schokolade. Weiter. Einige fallen. Zwei Mann laufen zurück, Kopfschuss, Bauchschuss. Bin grimmig. Engländer fliehen aus Baracken, einer fällt. Stockung, befehle Sturm gegen Dorfrand Vraucourt. Volltreffer, Verluste, Vor!"

    Jünger zitiert dies, um zu begründen, warum dieses Text-Staccato vom Autor anschließend denn doch ausgearbeitet werden muss, um nicht rätselhaft zu bleiben. Allein, was hier so tut, als drängen die ipsissima verba des Krieges direkt an das Ohr des Lesers, ist mit Stil und Kalkül formuliert. Was Jünger in falscher Steigerung als "tatsächlichster Stil, einfacher Rhythmus, ohne Skrupel und Schnörkel" bezeichnet, der die "unmittelbare und rohe Kristallisation des Erlebnisses" sein soll, ist nachweislich auch schon eine Bearbeitung und nicht das Originaltagebuch.

    "Siebtens: Die Erfindung der Geschichte"

    Zwischen dem Ersten und Zweiten Weltkrieg hat sich der Begriff des Authentischen endgültig gegen das "Künstliche" profiliert. Es ist der Philosoph Hellmuth Plessner, der diesen Kult der Natürlichkeit ins Reich der Fantasie verweist. Der Mensch ist von Natur künstlich, und dies ggf. sogar in noch größerem Maße, wenn er "authentisch" sein will. Das Authentische ist kein A-Kriterium, dafür aber umso mehr ein sehr wirksamer Mythos. So wirksam, dass sich mit dem Verweis auf scheinbare Authentisches eine deutliche Kunstfeindlichkeit begründen lässt.

    Trotzdem bleiben auch nach Plessners Klarstellung weitere Entwicklungen zu beobachten. Je umfassender und gewaltiger die künstlichen Welten des Menschen erkannt werden, von der individuellen bis zur kollektiven Geschichtsschreibung, von der erfundenen Autobiografie bis zur erfundenen Geschichte eines Volkes oder eines Kollektivs, desto stärker insistiert das Authentische auf mikroskopisch untersuchten Gegenwelten. Das Authentische tritt gerade nicht mehr einfach mit dem Historischen als Paar auf, sondern es steigert sich gegen das Historische, das auch erfunden sein kann. Dass wir Geschichte erfinden, und zwar individuell wie kollektiv, ist schon vor dem 2. Weltkrieg vereinzelt klar geäußert worden. So Djuna Barnes in Nachtgewächs:

    "One's live is peculiar to one's own when one has invented it.
    Das Leben gehört einem erst so recht, wenn man es erfunden hat."


    Gerade deswegen gibt es heute einen neuen zusätzlichen Bedarf an "Authentischem", einen Bedarf an Texten, die nicht auf den potenziellen Leser intendiert sind. Ein breiter Naivitätsverlust und ein allgemein gewordener Vorbehalt gegen künstliche Textkulissen profilieren das Authentische gegen Massenliteratur und Informationsware. Offensichtlich muss bzw. soll sich das Authentische als David gegen einen Goliath der Überinformation durchsetzen. Die innere Wahrheit des Erzählten wird der Außenseite der Wahrheit geradezu zwanghaft mit naturwissenschaftlicher Beweisführung abgetrotzt: mit Dokumenten, Fakten, Beweisen und Zeugen abgeglichen. Alltagsdokumente werden behandelt wie früher nur Papyrus.

    Tagebücher spielen dabei eine gegenüber früher veränderte Rolle: Die überkommene Tagebuchgattung der Apologia pro Vita sua hat ausgedient. Der Titel, mit welchem noch Kardinal John Henry Newman (1801-1890) seine autobiografischen Aufzeichnungen überschreiben und dann veröffentlichen konnte, wird wegen intentionaler Zurichtung und dem innewohnenden Blick auf ein Publikum heute nicht mehr als "authentisch" gewertet. Es wird kritisch in Anrechnung gebracht, dass die vorgebliche Authentizität Teil einer Strategie des Tagebuchschreibers sein könnte, sich selbst zu erfinden, und sich die neue Identität von der Menge der angeführten persönlichen Fakten indirekt beglaubigen zu lassen.

    "Achtens: Von den scharfen Gewürzen des Authentischen"

    Misstrauen gegenüber möglichen Voreingenommenheiten, seien sie in der Interpretation der Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft, führen zu einem Kult zugerichteter Intentionslosigkeit. Gesucht werden ausschließlich Schreibende, bei denen ein Hintergedanke an die Idee einer Veröffentlichung ausgeschlossen werden kann. Die größte Beweiskraft hat heute inzwischen offensichtlich der Schnappschuss, die Kamera der Video-Überwachung, die Webcam, die Postkarten der Soldaten, die privaten Tagebücher, die nachweislich nie das Licht der Öffentlichkeit erblicken sollten, oder Tagebücher, die nur gegen den Willen ihrer Verfasser überhaupt ans Licht der Öffentlichkeit kamen.

    Neben handschriftlichen Texten wird der O-Ton zur "Ikone der Authentizität", so Brigitte Kronauer in ihrem Buch Favoriten. Und Film, Funk und Fernsehen tragen zu dieser Mythenbildung jeden Tag bei: Denn dem O-Ton, den wir vorgeführt bekommen, wird niemand mehr den "Schnitt" und damit seine neue Künstlichkeit anmerken. Die Erinnerungen an "9/11" (Nine-eleven) , die Folter-Bilder von Abu Ghuraib oder auch die Videos brutaler Schläger-Überfälle in Berliner und Münchner U-Bahnen prägen sich uns umso mehr ein, je zufälliger der von einem Passanten oder der Webcam aufgezeichnete Videoclip ist, je gekörnter und gepixelter die Aufnahme, je verwackelter der Kamera-Schuss. Dass die optische Qualität gerade nicht den üblichen (professionellen) Ansprüchen genügt, gehört zur konzessiven Plausibilität und spricht gerade für die Authentizität.

    Zu den scharfen Gewürzen des Authentischen gehören auch der Schmerzbeweis und der (Schmerz-) Wettbewerb des Authentischen. Hinter immer gesteigerteren Forderungen nach Authentizität steckt heute inzwischen das reißerische Bedürfnis, dass uns die zerrissenen, zerliebten und verweinten Laken auch gezeigt werden, unter denen das geheime Tagebuch versteckt und das Opfer vergewaltigt wurde. Das Tagebuch wird am Tabu gemessen, das es bricht. Und Authentizität beweisen, heißt heute häufig, den Schmerzbeweis zu liefern, den Blut-, Sperma- und Drogentest zu machen.

    An aktuellen Verwendungen des Begriffs klebt jedenfalls auffällig viel Blut. Das vorgeblich "Authentische" wird sogar zu einer Kategorie der Aus- und Abgrenzung, ja es wird als Kategorie eines Wettbewerbs benutzt. In der angelsächsischen Welt ist dafür inzwischen der Begriff der out-authentication in Mode gekommen, beziehungsweise das Verb to out- authenticate. Die Nutzung des Begriffs geht dabei über den engen Kontext von Sicherheitssystemen, Identifizierungen mit Codes und Zugangskontrollen weit hinaus. Es bezeichnet die ergriffenen Maßnahmen, mit denen sich ein China-Restaurant, die vietnamesische Garküche oder eben auch ein Rapper darstellt, um authentischer zu erscheinen als der Konkurrent, und um damit die Authentizität des Konkurrenten infrage zu stellen. Bei Rappern bedeutet dies beispielsweise, dass die sozialprekäre Herkunft mit authentischen Schusswunden und beglaubigten Mordanschlägen unter Beweis gestellt werden muss.

    Je mehr Authentisches gefordert wird, desto mehr bleibt aber häufig auch unberücksichtigt, dass über die Phase des authentischen Schreibens wirklich kaum Aussagen gemacht werden können. Es muss ja nicht der Finger Gottes sein, der nach einer jüdischen Legende die Zehn Gebote in die Tafeln eingedrückt hat, auch die erste handschriftliche Notiz, das Stenogramm, das Diktat – jeder uranfängliche Vorgang der authentischen Hervorbringung bleibt magisch blind. Die schärfste Kritik des Authentischen muss anerkennen, dass über den authentischen Augenblick so wenig zu reden ist wie über das Auge in einem Tornado. Aus einer Kritik des Authentischen folgt ein geradezu "heiliger" Bereich des Authentischen:
    Henning Ritter in seinen Notizheften über Roland Barthes:

    "Aufzeichnungen, Notizen seien das einzige Schreiben, meint Barthes, das in der puren Gegenwart lokalisiert ist. Sie gleichen einem Schnappschuss, der an dem, was er festhält, keine Korrekturen und keine Ausmalungen erlaubt. So gelingt es den Aufzeichnungen, die Zeit anzuhalten. In dieser Zeit der Aufzeichnung gilt ein eigenes Wahrheitsregime: 'Wenn ich Notizen mache', schreibt er, 'sind sie alle wahr.' Einer Kritik sind sie nicht zugänglich."

    Diese Aussage von Roland Barthes gilt aber eben auch für die jüngste Sorte authentischer Selbstkundgaben: den kleinen Texte in Facebook und Twitter, die von Wissenschaftler inzwischen als Labor für soziologische Studien benutzt werden. Die Kommunikation der Facebook-Clique über Popkultur, Nachtleben, Drogen und Sexualität soll als Protokoll eines authentischen Austauschs der Partner gelten. Diese Texte bezahlen ihre Authentizität allerdings meist mit einer nicht zu überbietenden inhaltlichen Armut, sodass in einer Geschichte authentischer Texte es ganz neu heißen müsste: Stell dir vor, ein Text ist authentisch, aber es steht nichts drin!