Heinemann: Sind Festspiele nicht auch Durchlauferhitzer für die Musikagenturen, die ihre Schützlinge auf möglichst vielen Bühnen unterbringen wollen, so daß bei vielen Festivals, vielleicht nicht unbedingt bei Ihnen, immer die gleichen Gruppen und Solisten spielen?
Eschenbach: Nun ja, wir bemühen uns, gerade das zu verhindern. Wir bemühen uns, nicht ein Durchlauf-Festival zu sein, wo Künstler eben anreisen, vom Nachbarfestival kommend, und ins nächste Nachbarfestival gehen. Wir bemühen uns eben auch durch unsere eigene Dramaturgie, die uns absetzt von anderen Festivals, daß wir dort doch eine eigene Note haben und uns nicht der Betriebsamkeit bedienen und auch nicht diese Betriebsamkeit fördern.
Heinemann: In den neuen Bundesländern steht manch einem Orchester oder Theater das Wasser bis zum Hals oder gar schon höher. Denken Sie an Suhl oder Potsdam. Andererseits werden alle Jahre wieder im Sommer hohe Summen bezahlt, unser Bundeskanzler würde vielleicht sagen verbraten, Geld für Superstars, die dann einmal singen, spielen oder dirigieren. Wie paßt das zusammen?
Eschenbach: Der Hauptteil des Geldes, was bei uns ausgegeben wird, ist privat und durch ein Sponsorensystem herangeführt, was wir hier haben und was andere Festivals auch haben. Deshalb kann man nicht sagen, daß das Steuergeld zum Fenster hinausgeschmissen wird.
Heinemann: In den USA ist es üblich, daß Kultur von Firmen oder Privatpersonen unterstützt wird. Sie haben gerade davon gesprochen. In jedem Programmheft der New Yorker Philharmoniker kann man nachlesen, wer wieviel gespendet hat. Ich vermute, in Texas ist das nicht anders. Sie, Herr Eschenbach, waren Chef des Symphonieorchesters in Houston. Wieso ist es hierzulande so schwierig, Spender für städtische Orchester zu finden, ganz zu schweigen von den Jugendmusikschulen, die hier reihenweise plattgemacht werden?
Eschenbach: Das hat mit dem Steuersystem zu tun. Sehen Sie, eine Spende in Amerika ist voll steuerlich absetzbar und ist dadurch attraktiv für den Spender. Das ist eben hier nicht, und deshalb ist es, wenn Spenden kommen und wenn Sponsoren gesucht werden, die Spenden geben, ein rein idealistischer Akt. Das ist natürlich auch sehr schön. Ich finde das sehr, sehr gut. Aber wenn das Steuersystem hilfreich wäre und das Geben leichter machen würde, dann hätten wir weniger Sorgen, daß Sachen plattgedrückt werden, wie Sie sagten, oder Theater beziehungsweise Institutionen geschlossen würden.
Heinemann: Was wäre vom amerikanischen Musikleben übrig, wenn dort hiesige Steuergesetzgebung gelten würde?
Eschenbach: Da wäre sehr wenig übrig, denn die Attraktion, Beträge zu geben, eben auch sehr große Beträge, hängt damit zusammen, daß sie steuerlich absetzbar sind. Es ist ein ganz einfacher Gedankengang, und wenn das nicht wäre, dann stände es sehr schlecht um das amerikanische Musikleben, das zu 99 Prozent privat subventioniert ist.
Heinemann: Musikstandort Deutschland, zehn Jahre nach der Vereinigung. Herr Eschenbach, ehemaligen DDR-Bürgern kommt es bedrohlich bekannt vor. Kultur-Staatsminister Naumann kürzt die Zuschüsse in den Ländern. Die Bayreuther Festspiele und die Bamberger Symphoniker sind davon zum Beispiel betroffen. Er tut dies, um mit diesem Geld seine Hauptstadt-Kultur bezahlen zu können, also alles nach Berlin. Droht uns in Deutschland ein Kulturzentralismus?
Eschenbach: Der droht, wenn das so weitergeht. Ich finde es eine Schande, muß ich ehrlich sagen. Ich sage auch ganz hart und offen, daß in Bayreuth gekürzt wird, daß bei den Bamberger Symphonikern gekürzt wird, daß wir geradezu ein Beispiel sind, daß Kultur nach außen getragen wird. Ein Reiseorchester, was zeigt, was in Deutschland an Kultur gemacht wird, an musikalischer, symphonischer Kultur, daß dort gekürzt wird und bei den Bayreuther Festspielen ganz genauso, das ist eine Schande. In Berlin hat man andere Mittel, die Kunst zu fördern, oder sollte man andere Mittel dann erfinden. Daß dann aber ein zentralistisches Kultursystem entsteht, das finde ich total falsch, ist auch politisch-historisch total unangebracht für Deutschland.
Heinemann: Kaum ein Land verfügt über so viele Musikschulen und Musikhochschulen wie Deutschland. Natürlich wird nicht aus jedem Klavierschüler ein Christoph Eschenbach, aber es fällt doch auf, daß in der internationalen Spitze, also ganz oben, nur wenige Landsleute mitspielen, singen oder dirigieren. Woran liegt das Ihrer Meinung nach?
Eschenbach: Sehen Sie, das ist immer schwer. Das hat nicht nur mit dem deutschen Kultursystem zu tun. Gucken Sie mal überhaupt auf die Künstler, die sich in der Spitzenregion tummeln. Ob nun ein Dirigent, Instrumentalist oder Sänger, das sind immer wenige und ganz international gestreut. Amerika bejammert das gleiche fehlen von amerikanischen jungen Dirigenten zum Beispiel, England genauso und Frankreich ebenso. So ist es mit den Instrumentalisten auch. Es kommen, und das war schon immer so und das wird auch immer so bleiben, und es liegt irgendwo in der Natur der Sache, an die Spitze nur wenige.
Heinemann: Früh krümmt sich, was ein Häkchen werden soll. Wie sollten wir unsere Kinder musikalisch ausbilden, in den Schulen oder Hochschulen? Wenn Sie die Kultusminister beraten sollten, was würden Sie vorschlagen, was könnte man verbessern?
Eschenbach: Man sollte mehr Musikunterricht in den Schulen machen, und zwar schon in den Volksschulen. Der Musikunterricht wird ja oft ganz gestrichen, auch die Kunsterziehung oder auch Kunstgeschichte. Ich finde, es ist ein Jammer, daß von Kunst an der Schule eigentlich wenig zu merken ist und daß wenig darauf hingewiesen wird, ganz zu schweigen, daß es regelmäßig im Unterricht erscheint, so wie es etwa in meiner Jugend war. Wir hatten zweimal in der Woche Kunsterziehung, zweimal in der Woche Musik, hatten einen Chor an der Schule und hatten ein Orchester an der Schule. Das ist eine normale Schule gewesen. Das ist nicht mehr vorhanden, und da müßten eigentlich die Kultusministerien eingreifen in den Lehrplan, weil Kultur ist doch etwas lebensnotwendiges für den Menschen und nicht nur managen und Betrieb.
Heinemann: Viele Musikstudenten bekommen ihre Professoren während des Studiums kaum zu Gesicht, weil die Herrschaften selbst viel spielen und unterwegs sind. Bestes Gegenbeispiel die Juliette Scool in New York. Dort werden Spitzentalente fast täglich von Spitzenlehrern unterrichtet. Brauchen wir ein solches Eliteinstitut in Deutschland?
Eschenbach: Wir haben eigentlich ganz gute Hochschulen. Jetzt bin ich gerade in Schleswig-Holstein und denke an die Musikhochschule Lübeck, wo ganz hervorragende Leute unterrichten und nicht dauernd herumreisen und deshalb sehr gute Klassen haben. Wenn Sie etwa an Lehrer denken wie Geringas oder Pergamencikov, die in Deutschland unterrichten, die gar nicht sehr viel spielen und die passionierte Lehrer sind und die deshalb hervorragende Klassen haben. Jetzt haben wir eine fast Überschwemmung von jungen Cellisten, die aus diesen Schulen kommen. Es ist nicht nur so, daß das nur in New York so ist.
Heinemann: Also wir bräuchten nicht eine solche Eliteförderung, wie die Amerikaner das machen?
Eschenbach: Ich meine, Eliteförderung ist immer gut, aber wenn sie die entsprechenden Lehrer dafür haben, dann geschieht das automatisch.
Heinemann: Man fragt sich gelegentlich oder Musikkritiker fragen gelegentlich, wenn man in ein Konzert geht, wieso macht der Mensch dort vorne eigentlich Musik. Da werden Töne ordentlich abgeliefert, aber man vermißt ein bißchen die Musik hinter den Noten, vor allen Dingen bei jüngeren Leuten. Hand aufs Herz: Geht Ihnen das als Zuhörer, vielleicht auch als Dirigent in Zusammenarbeit mit Musikern manchmal auch so?
Eschenbach: Das geht mir öfter so als Zuhörer von Konzerten, aber manchmal eben auch nicht. Dann bin ich sehr froh. Das Hinterfragen der Noten oder das Aufdecken der Notenköpfe - wenn Sie sich vorstellen, daß die Note wie eine Mohnkapsel ist und Sie die aufmachen können und darin lauter kleine Partikel finden -, das sollte man mit jeder Note tun. Jeder Interpret sollte das tun und sollte nach dem Aufdecken dann das noch füllen mit seiner eigenen Emotion. Diesen interpretatorischen Vorgang, der eigentlich eine Kondition ist für das Musik machen, den muß ich eigentlich voraussetzen. Natürlich kapiert das nicht jeder und nicht jeder macht das. Oft stellen Leute ihr Ego zwischen sich und die Musik, was das allerschlimmste ist. Bei vielen geht es und viele können damit eben Musik doch noch aufs Publikum projezieren, und das mit Erfolg.
Heinemann: Werden im heutigen Musikbetrieb auch Talente verheizt?
Eschenbach: Das ist eine große Gefahr, weil der sogenannte Musikbetrieb, um es etwas böse poentiert zu betonen, stürzt sich auf immer jüngere Talente. Es sind auch etliche Hunderte davon da, unter 20, unter 15, manchmal unter 10. Das finde ich sehr, sehr gefährlich, weil meine Mutter sagte immer, ich mache dich nicht zum Wunderkind, übe so viel wie du willst, ich zwinge dich nicht dazu, ich gebe dir neben dem Klavier auch noch eine Geige, daß du Musik auf breiter Basis erfährst, du mußt Kammermusik machen. Bloß nicht die Verheizung der Nerven, der Jugend vor allem. Die Kinder werden um ihre Jugend gebracht, und das zahlt sich nachher sehr, sehr bitter aus. Nur einige wenige durchstehen diese harte Mißhandlung, könnte man eigentlich sagen. Das ist eine ganz große Gefahr. Das sehe ich auch so.
Heinemann: Herr Eschenbach, Ihre Bilanz Musikstandort, Ihre Bilanz im Sommer 1999, optimistisch oder eher ein bißchen pessimistisch?
Eschenbach: Immer optimistisch, weil ich sehe, gerade wo Sie von jungen Talenten sprachen, es gibt so viele junge Talente wie es nie gegeben hat. Die werden, wenn die Musik Gefahr läuft unterzugehen, was ich auch nicht glaube, sie retten. Die werden sich mit Macht durchsetzen wollen, weil sie passioniert die Musik vertreten. Die werden dagegen kämpfen. Ich glaube, es wird bald einen Gegenlauf gegen dieses Musik-Business geben und auch gegen die Verkitschung der Musik.
Heinemann: Stichwort drei Tenöre?
Eschenbach: Ich wollte es nicht sagen; Sie sagen es, gut. In diese Richtung, ja!
Heinemann: Das Gespräch mit dem Dirigenten und Pianisten Christoph Eschenbach, der das Schleswig-Holstein Musikfestival leitet, haben wir vor dieser Sendung aufgezeichnet.
