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Navid Kermani: "Iran - Die Revolution der Kinder"

Als vor gut anderthalb Wochen Staatspräsident Chatami von drei Vierteln der iranischen Wähler in seinem Amt bestätigt worden war, dürften nicht nur viele inneriranische Gegner der konservativ-islamistischen Mullahs aufgeatmet haben. Trotzdem: Eine Garantie für die zarten Reformpflänzchen bedeutet auch dieser Sieg des populären Chatami noch keineswegs. Auch wenn die Jugend des Landes auf Chatami hofft. "Iran - die Revolution der Kinder" nennt Navid Kermani sein Buch, das die Wurzeln des Umbruchs freilegen möchte.

Bahman Nirumand | 18.06.2001
    Navid Kermani, Publizist und Islamwissenschaftler, war sich vermutlich bewusst, dass ein Buch über die jüngste Entwicklung Irans ein Wagnis bedeutet. Denn die Lage des Landes ist äußerst kompliziert, unüberschaubar, voller Widersprüche, die vielfältigen Fronten sind verhärtet, Hoffnungen, heute geweckt, werden am nächsten Tag zunichte gemacht. Eine umfassende, in sich stimmige Analyse ist kaum zu leisten. Das ist aber auch nicht Kermanis Absicht. Und doch gewährt er dem Leser weit mehr als eine wissenschaftliche Untersuchung, er verhilft zu einem tiefen Einblick in das Geschehen der letzten Jahre.

    "Als ein Augenzeuge schreibe ich über Iran, nicht als ein Islamwissenschaftler oder Iranist, der alle Aspekte sorgsam abzuwägen und ein ausgewogenes Gesamtbild zu geben hat. Ein Augenzeuge sieht nicht alles, aber er sieht manches genauer."

    Es sind Momentaufnahmen von wichtigen Ereignissen, von persönlichen Begegnungen mit Politikern, Geistlichen, Journalisten, Schriftstellern, Momentaufnahmen, die Kermani wie Mosaiksteine zusammensetzt, um den vielseitigen, qualvollen Entwicklungsprozess eines von Islamisten beherrschten Landes hin zur Demokratie, zu einer modernen Gesellschaft zu vermitteln. Sein Bericht zieht sich wie eine Spirale entlang der atemberaubenden Ereignisse, hält immer wieder inne, gewährt sich selbst und dem Leser eine Pause, um nachzudenken, um nicht endgültige, aber doch gewisse allgemeine Schlüsse zu ziehen. Das verleiht dem Buch einen besonderen Reiz, eine Spannung, die von der ersten bis zur letzten Seite anhält.

    Der Text beginnt mit der Veröffentlichung eines von 134 iranischen Schriftstellern unterzeichneten offenen Briefes gegen die Zensur im Oktober 1994 und endet im Juni 2000 als der populäre Schriftsteller Houshang Golshiri zu Grabe getragen wird.

    Der Offene Brief, der weltweit Aufsehen erregte, war nach langen, dunklen Jahren der erste öffentliche Protest gegen die Islamisten, er bildete den Auftakt des allgemeinen Aufbegehrens, das später den Namen "Reformbewegung" erhielt. Die Reaktion der Theokraten ließ nicht lange auf sich warten. Einige Unterzeichner wurden kaltblütig ermordet, andere in Haft gesteckt oder zur Flucht ins Ausland getrieben.

    Es waren aber nicht nur Schriftsteller, die sich öffentlich zu Wort meldeten. Kermani zeigt anschaulich, wie bereits zu Beginn der neunziger Jahren in nahezu allen Bereichen der Gesellschaft ein Zerfallsprozess im iranischen Gottesstaat einsetzte. Frauen forderten Mitspracherecht, Jugendliche wollten endlich frei sein und am Leben Spaß haben. Am empfindlichsten traf jedoch die islamischen Herrscher das Reformbegehren der islamischen Geistlichkeit, unter denen die Radikalsten sogar die Trennung von Staat und Religion forderten. Der politische Machtkampf zwischen Reformern und Konservativen, der sich in den letzten Jahren immer mehr zugespitzt hat, ist im Grunde nichts anderes als ein Hinweis auf jene Erosion, die bereits Jahre zuvor unter der politischen Oberfläche nahezu die gesamte Gesellschaft erfasst hatte.

    Kermani sieht die Ursachen für diese Erosion in der massiven Anhäufung von Ereignissen der letzten zwanzig Jahre, die die Menschen im Land existentiell getroffen haben: Die gewaltsame Umwälzung der gesellschaftlichen Verhältnisse und die radikale Umorientierung der Werte, Massenhinrichtungen, der achtjährige Krieg gegen den Irak, der allein auf iranischer Seite fast eine Million Opfer forderte, Korruption und Misswirtschaft, endlose Terroranschläge, Flucht von über drei Millionen zumeist Angehörigen der Mittelschicht, darunter zahlreiche Akademiker und Fachkräfte. Wen wundert es, dass selbst jene Schichten, die zu Beginn der Revolution die eigentliche Basis des Gottesstaates bildeten, ihm inzwischen den Rücken gekehrt haben?

    "Es gibt einen unausweichlichen Grund, weshalb einem theokratischen Staatsmodell in Iran die Zeit abläuft: Ihm ist die Gesellschaft abhanden gekommen."

    Aber so schrecklich die letzten zweiundzwanzig Jahre auch gewesen sind, sie haben das Land zur Selbstbesinnung, zu einer tiefgreifenden Reflexion über die eigene Geschichte, Tradition und Religion veranlasst. Es ist überaus beeindruckend, wie eine islamische Gesellschaft, ausgehend von der Vergangenheit und Gegenwart, inzwischen ihren eigenen Weg zu einem säkularen, demokratischen Staat beschreitet. Sollte er zum Erfolg führen, würde er für die gesamte islamische Welt weitreichende Konsequenzen haben. Die Geschichte hat einen Streich gespielt, sie hat eine Gesellschaft hervorgebracht, die sich den Zielen und Vorstellungen der Gottesmänner entgegengesetzt verhält.

    Kermani weist nach, wie die Erlebnisse der vergangenen Jahre selbst die ursprünglich treuesten Anhänger der Revolution - darunter sogar zahlreiche Geistliche - allmählich säkularisiert haben. Er weist aber zurecht darauf hin, dass gerade die religiösen Aufklärer, im Gegensatz zu den laizistischen Intellektuellen, keineswegs westlich orientiert sind.

    "Ihr Weltbild ist religiös, ihre Wertvorstellungen konservativ und ihre Argumentation eher theologisch als wissenschaftlich. Fast durchweg haben sie eine Vergangenheit im religiös-revolutionären Widerstand, stammen sie aus denselben gesellschaftlichen Verhältnissen wie ihre fundamentalistisch gebliebenen Kontrahenten ... Doch haben sie die theoretischen Positionen einer Opposition formuliert, die in einem islamischen Staat wie Iran naturgemäß die gefährlichste ist: der islamischen. Sie setzt sich aus ganz unterschiedlichen Strömungen zusammen, aus zornig gewordenen Quietisten, zunehmend selbstbewussten Theologinnen, ehemaligen Linksislamisten, Studentengruppen, Mystikern, Anhängern Montazeris, bürgerlich-islamischen Gruppierungen wie der illegalen 'Iranischen Freiheitsbewegung' und eben den zahlreichen Schülern der 'Religiösen Aufklärer', die in den Universitäten, theologischen Seminaren und in der Presse tätig und intellektuell häufig deutlich verwegener als ihre Lehrer sind."

    Vorreiter der neuen Bewegung sind nicht nur geistliche Reformer, Intellektuelle, Künstler und Schriftsteller, sondern vor allem Frauen und Jugendliche. Die Islamische Republik hat die Frauen aus ihren Häusern herausgeholt, um sie für Massenaufmärsche und Versammlungen, für Dienstleistungen und hinter der Kriegsfront einzusetzen. Doch einmal außer Haus, gingen sie ihren eigenen Weg. Selbstbewusster als je zuvor sind sie nahezu in allen Bereichen der Gesellschaft, selbst in Berufen, die traditionell den Männern vorbehalten waren, aktiv. An den Universitäten gibt es mehr Studentinnen als Studenten. Auch die Jugendlichen, die heute siebzig Prozent der Gesamtbevölkerung ausmachen, haben längst andere Ziele als von der islamischen Obrigkeit erwünscht:

    "Die jungen Leute, die im Juli 1999 auf die Straße Teherans und anderer Städte Irans gingen, wollen nichts Besonderes: Sie wollen nur frei leben. In einem Staat wie der Islamischen Republik ist das leider etwas Besonderes. Sie sind die Gängelungen satt, die Korruption, die Arroganz, die Vorsicht, nicht überall sagen zu können, was sie denken, und vor allem die Anmaßung eines Staates, den eigenen Bürgern und zumal der Jugend vorzuschreiben, wie sie leben, was sie lesen, welche Musik sie hören, an wen sie glauben sollen."

    Mit der Wahl Chatamis zum Staatspräsidenten Irans im Mai 1997 trat das Brodeln im Innern der Gesellschaft an die politische Oberfläche. Chatami, das weiß man, ist kein Revolutionär, er hat auch keineswegs die Absicht, den islamischen Staat abzuschaffen. Sein Ziel ist es aber, eben diesen Staat zu reformieren und zu demokratisieren. Aber: Der Präsident hat wenig Macht. Während das Volk immer lauter nach Reformen ruft, legen ihm die Konservativen ständig Steine in den Weg. Er fordert Geduld, bahnt seinen Weg mit behutsamen, kleinen Schritten. Allzu weit hat ihn das bisher nicht gebracht. Und doch ist der Iran nicht mehr das Land, das es vor seiner Wahl gewesen ist. Wird Chatami sein Ziel erreichen können? Kermani wagt keine Prognose. Wie Millionen Iraner schwankt auch er zwischen Hoffnung, Zweifel und Verzweiflung:

    "Die Alternative zu einem sanften Wandel aber ist nicht der dauerhafte Status quo, sondern Chaos und jenes Ausmaß an Gewalt, das Revolutionen, vor allem aber Bürgerkriegen eigen ist. In Iran ist die Alternative zur Freiheit, wie (der Journalist) Maschollah Schamsolwaezin es gesagt hat, der Tod."

    Navid Kermani: "Iran - Die Revolution der Kinder", erschienen bei C.H. Beck in München, 262 Seiten, erhätlich für 38 Mark.