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Nazi-Zeitungen als Faksimile am Kiosk

Der englische Verleger Peter McGee wittert ein gutes Geschäft: In der Reihe "Zeitungszeugen" werden Blätter aus der Nazizeit angeboten. Den Auftakt machen die Ausgaben vom 30. und 31. Januar 1933. Während das kommunistische Blatt "Der Kämpfer" zum Massenstreik aufruft, bejubelt Joseph Goebbels im "Angriff" die Machtübernahme Hitlers.

Von Burkhard Müller-Ullrich | 15.01.2009
    "Massenstreik! Massendemonstrationen!", zetert das kommunistische Organ "Der Kämpfer" in seiner Ausgabe vom 30. Januar 1933: "Verhindert die Papen-Hitler-Diktatur!" Der nationalsozialistische "Angriff" hingegen meldet unter demselben Datum: "Reichskanzler Hitler!" (Ausrufezeichen). So groß kann an historischen Tagen der Unterschied zwischen einer Morgen- und einer Abendzeitung ausfallen. Wie plötzlich das an jenem Montag, dem 30. Januar 1933 alles kam, zeigt sich daran, dass "Der Angriff" in derselben Ausgabe noch einen Leitartikel seines eigenen Herausgebers Joseph Goebbels brachte, in dem er unter dem Titel "Reinen Tisch machen!", zum x-ten Male das forderte, was sich nun gerade erfüllt hatte: die Reichskanzlerschaft Hitlers. "Bei Brüning brauchten wir zwei Jahre, um ihn zu fällen, bei Papen genügten fünf Monate, und bei Schleicher hatten wir nicht einmal zwei Monate nötig", brüstete sich Goebbels und drohte: "Würde ein anderer als Hitler ernannt, er wäre vermutlich in knapper Monatsfrist ein toter Mann, und das Tauziehen könnte aufs neue beginnen."

    Manchmal geht nichts über Originalton, um eine Zeitstimmung zu erfassen, und Zeitungen waren damals das wichtigste Medium dieses Tons, selbst wenn die "Deutsche Allgemeine Zeitung" in ihrem Kommentar über die neue Regierungsbildung das Scheitern von Schleichers unter anderem darauf zurückführte, dass er "keine ausgesprochene Rundfunkschönheit" war.

    Die "Deutsche Allgemeine", "Der Angriff" und "Der Kämpfer": das sind die ersten drei Ausgaben, die in der Faksimile-Serie "Zeitungszeugen" erschienen sind. Nun geht es im Wochentakt bis zum Jahresende weiter, als nächstes kommen der "Vorwärts", die "Vossische Zeitung" und der "Völkische Beobachter" mit ersten Berichten über den Reichstagsbrand.

    Mit der Faszination, die von diesen Dokumenten ausgeht, macht der englische Verleger Peter McGee ein schönes Geschäft – und das mitten in der aktuellen Pressekrise. Er hat seine Idee bereits in sieben anderen europäischen Ländern erfolgreich realisiert, und es ist klar, dass das Projekt in Deutschland nur funktionieren kann, weil es sich bereits anderswo als unbedenklich erwiesen hat. Auf alle Fälle kommen die Archivalien nur sorgfältig ummantelt an den Kiosk: garniert mit wissenschaftlichen Erklärtexten über historische Zusammenhänge und praktischen Lesehilfen, die zum Beispiel das Entziffern der Frakturschrift erleichtern sollen.

    Doch worin genau besteht die Faszination? Ist es der geheime Schauder, das Nazi-Aroma einzusaugen, das nicht nur den bösen Texten eines Goebbels, sondern allen publizistischen Paraphernalia jener Epoche anhaftet? Ist es ein medienkritischer Impetus, der darauf abzielt, die Verführung des Volks durch jämmerlichen Journalismus zu studieren? Eher dürfte wohl ein dritter Grund vorwiegen, und zwar die Wahrnehmung von Nebensächlichkeiten. Da nicht einzelne Artikel, sondern die Zeitungsausgaben als Ganze faksimiliert werden, sind auch Kleinanzeigen, Rundfunkprogramme und Unterhaltungsseiten enthalten, die tiefere Einblicke in die Zustände als manches Geschichtsbuch gewähren. Ein Artikel im Kommunistenblatt "Der Kämpfer" über den Zusammenbruch der deutschen Trotzki-Gruppe zeigt in seiner jubilierenden Selbstgerechtigkeit, was der KPD mindestens genauso wichtig war wie die Frage, wer Deutschland regiert.

    Geschichte "erlebbar" zu machen, sei ein wichtiges Unterfangen, meint Altbundespräsident Walter Scheel in einem von zahlreichen Statements, mit denen das Projekt "Zeitungszeugen" für sich wirbt. Tennis-Star Michael Stich möchte Geschichte nahebringen und lebendig halten. Andere möchten Geschichte "greifbar" oder "hautnah nachvollziehbar" machen. Man muss nicht Nietzsches Unzeitgemäße Betrachtung über Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben verinnerlicht haben, um bei solcher naiven Geschichtsbegeisterung einmal trocken schlucken zu müssen. Die Nazizeit "lebendig" und "greifbar", womöglich "hautnah"? Ein bisschen viel für 3,90 Euro pro Ausgabe oder 165 Euro im Jahresabo.