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Neapel hören

Die Sopranistin Simone Kermes hat, begleitet vom Ensemble "Le Musiche Nove", Arien aus dem Neapel des 18, Jahrhunderts aufgenommen.

Von Annika Täuschel | 06.09.2009
    Neapel - von Griechisch: nea polis, die "neue Stadt" - ist eigentlich schon ziemlich alt, 2500 Jahre, und mindestens ebenso geschichtsträchtig. Viele berühmte Künstler waren über die Jahrhunderte dort, und vor allem die Oper ist mit Neapels Vergangenheit untrennbar verbunden. Arien, komponiert in einer der einflussreichsten Musikmetropolen des 18. Jahrhunderts, hat jetzt Simone Kermes beim Label "deutsche harmonia mundi" aufgenommen, begleitet wird die Sopranistin vom Ensemble "Le Musiche Nove". "Lava" ist der Titel der CD und dementsprechend brodelt es auch, wie Sie gleich hören können. Es begrüßt Sie herzlich Annika Täuschel.

    " Giovanni Battista Pergolesi: "Tu me da me dividi", aus: L'Olimpiade "

    Von Hass, Schmerz und Betrug singt hörbar aufgebracht Aristea in der Oper L'Olimpiade von Giovanni Pergolesi - der Zorn der rachsüchtigen Dame richtet sich gegen ihren Liebhaber, von dem sie sich verlassen fühlt. Mit dieser Arie "Tu me da me dividi" eröffnet die Sopranistin Simone Kermes ihre neue CD; an ihrer Seite zwölf ausgezeichnete Instrumentalsolisten, die unter dem Namen "Le Musiche Nove" firmieren.

    LAVA steht in roten großen Buchstaben als Titel auf dem Cover, und Simone Kermes lässt dazu ihre farblich passenden Haare wallen. Eine rote Zora, am Fuße des Vulkans, mit Arien, ebenso lodernd, heißblütig und emotional eruptiv wie das glühende Magma aus dem Vesuv, Neapels mahnendem Wahrzeichen.

    Heute ist der Schauplatz Neapel nur mäßig attraktiv: korrupt, mafiös, brutal, eine Stadt, die im Müll erstickt. Man überlegt sich, ob man wirklich hinfährt, nach "Bella Napoli"; das alte geflügelte Wort "Neapel sehen und sterben" hat im 21. Jahrhundert einen zynischen Beigeschmack bekommen. 250 Jahre zuvor war das anders, Neapel war damals Weltstadt, kulturell auf Augenhöhe mit Paris und London. Einige der besten Musiker waren hier versammelt, es wurde auf höchstem Niveau gesungen, gespielt, komponiert. In Jean-Jacques Rousseaus Dictionaire de Musique von 1768 heißt es:

    "Eile, flieg nach Neapel, um den Meisterwerken von Leo, Durante, Jommelli, Pergolesi zu lauschen."

    Was die neapolitanische Schule besonders pflegte, war die "opera seria"; die ernste, tragische, heroische Form der Oper, mit Stoffen aus der Antike und Königen, Rittern und Göttern als Protagonisten. Auf den Kompositionsstil übertragen bedeutete das ein Maximum an emotionaler Dramatik und stimmlicher Virtuosität. Koloraturen, extreme Sprünge, permanente Affektwechsel und stimmliche Ausbrüche sind das notwendige Arsenal, über das Opera-seria-Interpreten verfügen können müssen. Das tut die gebürtige Leipzigerin Simone Kermes in beachtlichem Maß, auch in der Arie des Arbace "Fra cento affani" aus der Oper Artaserse von Leonardo Vinci:

    " Leonardo Vinci: "Fra cento affani e cento", aus: L'Artaserse "

    Opernarien aus dem Neapel des 18. Jahrhunderts, mit der Koloratursopranistin Simone Kermes und dem Ensemble "Le Musiche Nove" unter Claudio Osele. Wir hörten die Arie des Arbace "Fra cento affani" aus der Oper Artaserse von Leonardo Vinci, von den Zeitgenossen immerhin als "die berühmteste italienische Oper" gefeiert.

    Kennen können Sie diese Musik nicht. Bis auf zwei sind nämlich alle Arien dieses LAVA-Albums von Simone Kermes Weltersteinspielungen; die handschriftlichen Noten fand Dirigent Claudio Osele in Archiven und Bibliotheken - vor der musikalischen Arbeit stand bei diesem Projekt also die wissenschaftliche Recherche. Das allein ist ein Verdienst und macht die CD zu einem aufregenden Hörerlebnis. Nicht minder brillant ist die Leistung der Musiker, die neben Furor und Verve auch sanfte Töne anschlagen können - wie sie in der Arie "Manca sollecita" aus Leonardo Leos Oper Il Demetrio zeigen:

    " Leonardo Leo: "Manca sollecita", aus: Il Demetrio "

    Der Beginn der Arie "Manca sollecita" aus der Oper Il Demetrio von Leonardo Leo, einem neapolitanischen Komponisten des 18. Jahrhunderts. Simone Kermes wurde begleitet vom Ensemble "Le Musiche Nove", einer zwölfköpfigen Instrumentalistenschar.
    Alle Stimmen, auch die Streicher, sind bei Dirigent Claudio Osele solistisch besetzt, was den Klang äußerst transparent, das Spiel sehr individuell und flexibel macht. Ihre musikalische Brillanz zeigen die Instrumentalisten nicht nur in den extrem präzisen, akzentuierten, leidenschaftlichen Begleitpassagen, sondern ebenso bei den für die opera seria charakteristischen konzertanten Soli.

    Im Fokus dieser Arien-CD steht dennoch die vielfach prämierte Alte-Musik-Spezialistin Simone Kermes, die sich nach ihren Händel- und Vivaldi-Alben nun mit Musik von Porpora, Vinci, Leo, Pergolesi und Hasse auf kompositorisches Neuland begibt. Dass sie stilistisch und gesangstechnisch allerdings zuhause ist in diesem barocken Idiom, das hört man bei Simone Kermes bereits nach wenigen Takten. Bruchlos und sicher wie auf den Schienen einer Achterbahn singt sich die Leipziger Sopranistin durch die Register, sauber in der Intonation, immer mit 150 Prozent Engagement, sodass man froh und erleichtert ist, braver Hörer und nicht Opernfigur und somit Ziel ihrer gesanglichen Attacken zu sein. Das Timbre von Simone Kermes ist, passend zum temperamentvollen Repertoire, leicht rau und markig - kein einschmeichelnder Samt-Klang. Das kann zunächst irritieren, legt beim wiederholten Hören aber um so mehr Nuancen frei. Ihre Stimme lebt und pulsiert in jeder Note, auch in der Arie "Perché, se tanti siete" aus Johann Adolf Hasses Oper Antigono:

    " Johann Adolf Hasse: "Perché, se tanti siete", aus: Antigono "

    Die Arie "Perché, se tanti siete" aus der Oper Antigono von Johann Adolf Hasse, jenem "deutschen Neapolitaner", der sich 1722 dauerhaft in der Musikmetropole am Vesuv niedergelassen hatte und einer der letzten Schüler Scarlattis gewesen war. Das war ein weiterer Ausschnitt aus der neuen Arien-CD der Koloratursopranistin Simone Kermes, die beim Label "deutsche harmonia mundi" erschienen ist und neapolitanische Opernarien des 18. Jahrhunderts vereint - zehn der zwölf Stücke sind Weltersteinspielungen. LAVA heißt der Titel des fulminanten Albums, bei dem nicht nur die Musik feurig und stürmisch klingt, sondern auch die Interpreten ihr Bestes zur akustischen Erdschmelze beitragen - meint Annika Täuschel, die sich damit herzlich verabschiedet.

    "Lava. Opera Arias from 18th Century Napoli"
    Simone Kermes, Sopran
    Le Musiche Nove; Ltg. Claudio Osele
    (Deutsche harmonia mundi CD 88697 54121 2 / LC 00761)