Nehanda wartet in der Stille. Ihre Kehle ist so trocken wie das ausgedörrte Land. Der Wind hat die Ackerkrume weggefegt und sie zum Horizont getragen. Das Gras ist vom Regen vergessen worden. Wasser steigt ihr in die Augen, in denen große dunkle Wolken aufgezogen sind, so, als ob es geregnet hätte. Ein Sturm bricht los, und der Boden unter ihren Füßen bebt erbarmungslos. Der Wind trägt Wolken von verwelkten Blättern zum wartenden Horizont.
Yvonne Vera war 12 Jahre alt und besuchte die Grundschule in ihrer Heimatstadt Bulawayo, als sie zum ersten Mal das Foto von Nehanda in einem Schulbuch entdeckte. Das war 1976, zur Zeit des zweiten Befreiungskriegs gegen die weißen Eroberer. Damals wußte sie noch nicht genau, was im Land vor sich ging, aber sie spürte die Spannung um sich herum. Nach 6 Uhr abends durfte man das Haus nicht mehr verlassen. Männer aus der Familie verschwanden plötzlich und kamen nicht mehr zurück. Das Foto hatte irgendwie mit all diesen Dingen zu tun, mit der geheimnisvollen Welt der Erwachsenen. 17 Jahre später, nach ihrem Literaturstudium in Kanada, widmete sie Nehanda ihren ersten Roman. Yvonne Vera:
Ich habe versucht, die historische Tatsache zu widerlegen, daß sie gehängt wurde. Und zu sagen, daß unsere Vorstellung von Geschichte, so wie wir sie in uns tragen, sich dem widersetzt, was niedergeschrieben, fotografiert und in Geschichtsbüchern festgelegt worden ist. .. Und da unsere Form von Geschichte auf Legenden beruht, auf Mythen und all diesen oralen Äußerungen - deshalb kann ich das auch tun. .. Ich schildere die Ereignisse aus Nehandas Sicht, ihre ganz besonderen Erfahrungen. Ihre Beziehung zu Tod und Geburt, zum Land und zu den Ahnen. Und so widerlege ich das fotografierte Ereignis.
Was aber auch einen Widerspruch in sich birgt, denn Yvonne Vera verläßt ja ihre orale Herkunftskultur und wählt selbst die Ausdrucksform der Fremden, indem sie ein Buch schreibt. Das Spannungsfeld zwischen dem gesprochenen und dem geschriebenen Wort taucht immer wieder auf. Es symbolisiert die Spannung zwischen der eigenen Welt und dem, was die weißen Siedler ins Land gebracht haben. Im Roman spricht Ibwe vor der versammelten Dorfgemeinschaft über diesen zentralen Punkt in der Identität seines Volkes:
Unser Volk kennt die Macht des gesprochenen Wortes. Das ist auch der Grund, warum wir uns bemühen, die Worte immer wieder auszusprechen und damit lebendig zu erhalten. .. Das Papier ist eine ureigene Sitte der Fremden. Unter uns ist Sprache kein totes Gestein. Worte können nicht von den Menschen getrennt werden, die sie hervorgebracht haben. Die Menschen sind ihre Worte.
Yvonne Vera schreibt vom Körper und von den Sinnen her, in einer metaphorischen, bisweilen gewaltsamen Bildersprache. Nehanda war ihr erster Roman und als sie ihn schrieb, hat sie sich selbst noch nicht als Schriftstellerin verstanden. Sie war noch auf der Suche nach einer eigenen Handschrift, einer eigenen Stimme. "Das Buch gab seinen Stil selbst vor." - so sagt sie im Nachhinein. Und obwohl im Umfang mit knapp 120 Seiten ein eher schmales Buch, ist Nehanda von der Größe seiner Bilder her gesehen geradezu episch geraten. Der Leser tut gut daran, sich bei der Lektüre Zeit zu lassen Die opulenten Bilder müssen sich erst setzen, bevor sich der Raum dahinter öffnet und Platz für die feineren Schwingungen, die Gedanken zwischen den Zeilen entsteht.
Es war mein erster Roman und er deutet schon die Richtung an, die ich als Schriftstellerin einschlagen sollte, obwohl mir das damals noch nicht bewußt war. Jetzt, wo ich ihn erneut gelesen habe, sehe ich darin schon diese Liebe zur Poesie, das Verständnis für die Verbindung der Afrikaner zu ihrem vorkolonialen Bewußtsein für das Land, für die Religion, für die Geschichte. So wie sie sie identifizieren im Verlauf der Zeit. All das ist in Nehanda. ich glaube, dieser Roman definiert - mehr als alle meine anderen Bücher - eine Philosophie von Afrika, was es wirklich ist oder gewesen ist.
Yvonne Vera gehört zur jungen Generation afrikanischer Schriftstellerinnen, die in der 2. Hälfte des letzten Jahrhunderts geboren wurden und - neben den unvermeidlichen Klassikern der Weltliteratur - bereits literarische Vorbilder aus dem eigenen Kontinent hatten. Immer wieder greift sie Themen auf, über die viele nur ungern sprechen, die zuweilen gesellschaftliche Tabus berühren. Themen, die sich mit den unterschiedlichen Erscheinungsformen von Gewalt auseinandersetzen. Ohne daß ihre Bücher mit einem vordergründig politischen Impetus daher kämen, hat sie den Anspruch, als Autorin die Verhältnisse in ihrem Heimatland Zimbabwe mit zu beeinflussen.
Für mich schafft Schreiben das Licht, das die zarte Kontur der Dinge festhält; ein Licht, das sucht und erhellt, das eine sichere Zone schafft, in der wir den Scherbenhaufen unserer Erfahrung ordnen können.