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"Nehmt den Männern den Koran"

Autorin Nahed Selim - sie lebt als Dolmetscherin und Journalistin in den Niederlanden - hat den Koran intensiv studiert und beschlossen, ihn den Männern förmlich aus der Hand zu reißen. Die gebürtige Ägypterin weist in ihrem Buch nach, dass nicht der Islam an sich für die oft beklagenswerte Situation der Frauen in den muslimischen Ländern verantwortlich ist, sondern die Tatsache, dass der Koran bisher vornehmlich von Männern ausgelegt wurde. Von Katajun Amirpur.

    "Nehmt den Männern den Koran; versucht, ihn selbst zu lesen! Ihr müsst andere Interpretationen finden, um die Regeln moderner zu machen und sie abzuwandeln - wenn nötig."

    Nahed Selim ist nicht die erste und nicht die einzige, die eine feministische Koran-Exegese propagiert. Aber sie geht systematischer und gründlicher vor als andere, die zwar ebenfalls eine Neuinterpretation fordern, aber keinen Weg weisen, wie das geht. Selim belegt, dass die Vielfalt der Interpretation eine Tradition hat in der Geschichte des Islam. Packend beschreibt sie, wo und wie Frauen im Koran eine Rolle spielen. Oft sind es starke Frauengestalten. So will Nahed Selim dem Vorurteil entgegenwirken, der Koran und der Prophet Mohammed propagierten das Bild einer unterwürfigen Frau. Vor allem aber zeigt Selim auf, wie kontextgebunden die Aussagen des Koran sind.

    "Die Religion, auch der Islam, tat, was in ihren Kräften stand, um den Menschen im Rahmen der Beschränkungen der alten Kultur ein gewisses Maß an Zivilisation beizubringen. Zivilisation aber ist ein Prozess, der kein Ende kennt. Es wäre absurd, den Zivilisationsprozess zu einem bestimmten Zeitpunkt einfrieren zu wollen und zu glauben, dies wäre die Endstation. Korantexte, die Verhaltensregeln oder Vorschriften enthalten, sind in einer bestimmten historischen und geographischen Realität entstanden. Sie sind Zeugen dieses Umfelds und geben den Muslimen eine bestimmte Richtung vor. So sind sie zu verstehen - in ihrer allgemeinen Bedeutung, nicht in ihrem buchstäblichen Wortsinn."

    Diesen Satz muss man sich auf der Zunge zergehen lassen, denn das ist der Kern des Streits zwischen islamischen Fundamentalisten und Modernisten. Die entscheidende Frage ist, ob jede Bestimmung des Koran genau so angewendet werden müsse wie im Koran formuliert.

    "Die Männer aber stehen über den Frauen, weil Gott einem Teil der Menschen einen Vorzug vor dem anderen gegeben hat und weil die Männer von ihrem Vermögen hingeben. Die rechtschaffenen Frauen sind daher Gott demütig ergeben und bewahren das Verborgene für sich, wie auch Gott es für sich behält. Die Frauen aber, deren Widerspenstigkeit ihr befürchtet, meidet sie im Ehebett und straft sie!"

    "Ich könnte diese Frage auf zweierlei Arten und Weisen beantworten. Erstens: Es steht auch im Koran, dass einem Dieb die Hand abgehackt werden muss und dass Ehebrecher gesteinigt werden müssen. Doch diese Gesetze sind in den meisten islamischen Ländern abgeschafft worden. Es steht zudem im Koran, dass man Sklaven haben darf. Doch auch die Sklaverei ist offiziell in den islamischen Ländern abgeschafft worden. Es ist also durchaus möglich, die Gesetze des Koran zu ändern. Nur wenn es um die Regeln geht, die Frauen betreffen, dann will sie auf einmal niemand ändern."

    Selim zeigt an Beispielen auf, wie der Koran zeitgemäß interpretiert werden könnte. Das Erbrecht etwa. Laut islamischem Recht steht einer Tochter nur die Hälfte dessen zu, was der Sohn bekommt. Doch als dieses Gesetz im Koran festgeschrieben wurde, hätten, so Selim, völlig andere Umstände geherrscht. Heute, da Mann und Frau gleichermaßen zum Unterhalt der Familie beitragen, müsste auch beiden dasselbe Erbe zustehen, schreibt sie. Selim löst sich also weitgehend vom Wortlaut des Koran und hält das auch für legitim. Sie ergründe, wie sie sagt, die Richtung einer koranischen Aussage und interpretiere eine Sure auf dieser Grundlage neu.

    Selim steht in der Tradition bedeutender islamischer Korankenner wie dem Ägypter Nasr Hamid Abu Zayd und dem Pakistaner Fazlur Rahman. Und auch die Auseinandersetzung mit dem syrischen Dichter Nizar Qabbani hat Nahed Selim geprägt. Er schrieb in den 70er Jahren einen Aufruf an die arabische Frau:

    "Lehn dich auf!
    Ich wünsche mir, dass du dich auflehnst,
    Gegen den Osten der Sklavinnen und den Weihrauch.
    Lehn dich auf gegen die Geschichte,
    und besiege die Illusion.
    Hab keine Angst vor niemanden, denn die Sonne
    ist der Friedhof der Adler.
    Lehn dich auf gegen einen Osten, für den du
    ein Festschmaus im Bett bist."


    Nahid Salim lehnt sich auf. Doch sie lehnt sich - im Gegensatz zu anderen - nicht gegen die Religion an sich auf. Sie möchte Muslimin bleiben. Es gibt zwei Lager derer, die sich mit dem "Islam in der modernen Welt" auseinandersetzen. Auf der einen Seite eine Gruppe von Kritikern um Ayaan Hirsi Ali und andere. Die Niederländerin somalischer Herkunft hatte zusammen mit dem später ermordeten Theo van Gogh den Film "Submission" gedreht, der die Unterdrückung der Frau durch den Islam anprangerte. Nur wer dieser Religion abschwöre, könne seinen Weg in die Moderne finden, sagt Ayaan Hirsi Ali. Grund dafür sei die dem Islam immanente Inkompatibilität mit den Werten der Moderne: Freiheit, Gleichheit, Toleranz, Demokratie. Nahed Salim hält diesen Ansatz für verfehlt. Man müsse sich als Muslim nicht vollständig von seiner Religion lösen. Es gehe darum, die Religion den Gegebenheiten der Moderne anzupassen.

    Mit ihrem neuen Ansatz zur Interpretation steht Nahed Salim in der islamischen Welt nicht allein da - auch wenn es aus westlicher Perspektive bisweilen so scheint. Viele Reformdenker versuchen - wie sie - einen Weg aus der gegenwärtigen Misere zu finden, versuchen, die "Krankheit des Islam" - so der Buchtitel des Reformdenkers Abdel Wahab Meddeb - zu heilen. Ihre Ideen sind vielversprechend und werden in der islamischen Welt gehört und auch diskutiert. Doch das nimmt im Westen keiner so recht wahr. Verwunderlich ist das nicht, denn die Muslime, die sich in unser Bewusstsein bomben, erfahren aus naheliegenden Gründen mehr Aufmerksamkeit als ihre stillen intellektuellen Gegner. Doch das heißt nicht, dass um Modernität und Aufklärung in der islamischen Welt nicht gestritten würde. Das Buch von Nahed Selim ist dazu ein wichtiger Beitrag.

    "Nehmt den Männern den Koran": Nahed Selim hat dieses kämpferische, aber, wie wir gehört haben, auch wissenschaftlich fundierte Buch geschrieben. Es ist bei Piper erschienen, hat 336 Seiten und kostet 19,90 Euro.