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Nemzow-Mord
Ermittlungen stocken

Drei Wochen nach dem Mord an dem russischen Oppositionellen Boris Nemzow wirft die bisherige Tatversion immer größere Fragezeichen auf. Der Hauptverdächtige zog sein Geständnis zurück; er und ein weiterer Festgenommener sollen zudem Alibis haben. Währenddessen häufen sich am Tatort weiter die Blumen der Trauernden.

Von Sabine Adler | 19.03.2015
    Ein Bild des russischen Oppositionspolitikers Nemzow liegt auf der Straße am Tatort in Moskau; es wird von zwei Kerzen beschwert. Darauf und daneben liegen Blumen.
    Mord an Nemzow: Zweifel an der bisherigen Tatversion (dpa / picture alliance / RIA Novosti)
    Ein Mann Mitte vierzig überquert mit weißen Rosen den Roten Platz. Wer hier mit einem Strauß unterwegs ist, will zur Kremlbrücke, dorthin, wo sich die Blumen auftürmen, dort, wo vor drei Wochen Boris Nemzow erschossen wurde. Michael stellt sich als Internet-Poet vor und zitiert die letzten beiden Zeilen eines Gedichtes, das er zum Gedenken an Boris Nemzow verfasst hat:
    "Wo man einen von den seinen hinterrücks erschießt, ist der Tod für alle nur vier Schritte entfernt".
    Eine Malerin, mit roten Rosen unterwegs, war bei Nemzows Verabschiedung dabei und hat dort Hoffnung geschöpft, weil viele Tausende kamen:
    "Als Boris Nemzow im Sarg herausgetragen wurde, applaudierten wir alle, und dann warfen alle, die stundenlang in der Kälte draußen im Park gewartet hatten, ihre Sträuße auf den Sarg. Das war ein einziger Blumenregen."
    Mancher, der jetzt noch Blumen bringt, tut das möglichst fix. Mit dem Auto, hält kurz, legt sie nieder, fährt weiter, denn wer jetzt hierher mit Blumen kommt, gibt zu verstehen, dass er ein Andersdenkender ist und nicht zu jener Masse gehört, die an gleicher Stelle vor zwei Tagen die Annexion der Krim feierten. Quer durch alle Parteien waren sich Russlands Politiker und die meisten Bürger einig: Die Krim gehört ihnen. Gennadi Sjuganow, Kommunistenführer dankte Präsident Putin und dem früheren Diktator Stalin:
    "Am 1. Mai 1945 hat Stalin Leningrad, Stalingrad, Sewastopol und Odessa zu Heldenstädten erklärt."
    Der einzige wirklich unabhängige Duma-Abgeordnete Dmitri Gudkow hat seine Kollegen in dieser Woche zu einer Schweigeminute aufgefordert. Die gesamte Duma lehnte ab, nur er und ein zweiter Kollege blieben demonstrativ eine Weile im Plenarsaal stehen. Für Jewgenia Albatz, Chefredakteurin "The New Times" hat sich die Duma einmal mehr diskreditiert:
    "Das sind Bürokraten, die sich aus irgendeinem Grund Parlamentarier nennen. Diese Bürokraten hängen nicht von ihren Wählern ab, sondern davon, ob man sie in die Kandidatenliste aufnimmt oder nicht. In der Duma gibt es nur zwei Politiker: Dmitri Gudkow und Viktor Subkow."
    Das Nemzow von Tschetschenen aus religiösen oder anderen Gründen umgebracht worden sein könnte, hält die Chefredakteurin für so wenig wahrscheinlich wie Nemzows Tochter Schanna. Ihr Vater habe sich bei dem damaligen Präsidenten Jelzin für die Beendigung des Tschetschenienkrieges eingesetzt. Die Ermittler verfolgen jetzt angeblich die Version, dass Nemzow wegen seiner Charlie-Hebdo-Äußerung ermordet wurde. Die war laut der Tochter aber derart moderat, dass sie kaum einen Racheakt habe auslösen können.
    "Ihn hat erstaunt, dass der Rat der Muftis die Sünde eines Mordes mit der Sünde der Karikatur auf eine Stufe stellen. Das ist meiner Meinung nach nun wirklich keine radikale Äußerung."
    Der Hauptverdächtige Saur Dadajew hat sein Geständnis widerrufen und ein Alibi. Tamerlan Eskerchanow, ein zweiter Verdächtiger, war genauso wenig am Tatort, sondern arbeitete an jenem Abend als Türsteher vor einem Nachtklub, was Aufnahmen einer Überwachungskamera belegen.
    Der unter Hausarrest stehende Oppositionspolitiker Alexej Nawalny sagte der Washington Post, dass der Mord von der russischen Führung sanktioniert worden sei - und zwar nicht, um Leute wie ihn einzuschüchtern, sondern diejenigen, die im Moment noch zögern, sich politisch zu engagieren.