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Neo Klassik
Ein Indie-Phänomen wird Mainstream

Elektronisch veränderte Cellos, präparierte Klaviere, der Computer als "primus inter pares": Im Indie-Pop wird immer mehr mit Instrumenten der klassischen Musik experimentiert. Diese Musik, die dem Muff der ewigen Reproduktion entfliehen will, wird Neo Klassik genannt – und immer erfolgreicher.

Von Christoph Möller | 26.01.2017
    Ludovico Einaudi sitzt an einem Flügel, der auf einer Plattform im eisschollendurchsetzten Meer schwimmt, im Hintergrund Eisberge
    Mit einem Konzert im Eis unterstützte der Komponist Ludovico Einaudi im Juni 2016 Greenpeace. (picture alliance / EFE / GREENPEACE HANDOUT)
    Ein schwarzer Steinway-Flügel auf einer weißen Plattform im Arktischen Ozean. Im Hintergrund ein massiver Gletscher auf Spitzbergen. Große Teile der Gletscherwand krachen ins Wasser. Begleitet, am Klavier, vom italienischen Komponisten Ludovico Einaudi.
    Am Ende des Videos der Aufruf: "Please save the arctic. Greenpeace". Einaudi: Aktuell einer der meistgestreamten Komponisten. Auf Spotify hat er mehr Follower als Beethoven. "Neo Klassik" - so wird diese Musik genannt, die sich nicht so ernst nimmt wie klassische Konzertmusik und Einflüsse aus Pop und Jazz in ihre Kompositionen einbaut. Einaudi ist ihr Star, Nils Frahm, Hauschka oder Chilly Gonzales die elaborierten Techniker.
    Musik: "Green's Leave" von Chilly Gonzales
    Pop-Fans feiern, Klassik-Freunde sind empört: Ein Kritiker des Guardian meint, Einaudis Musik sei ungefähr so spannend, wie sich einen Sonnenuntergang nicht in echt, sondern auf Instagram anzuschauen.
    Sie ist kontrovers, diese gefühlige Klavier- und Cello-Musik. Der Erfolg von "Neo Klassik" ist aber unstrittig.
    Weidenmüller: "Ich finde den Begriff schwierig, er trifft's eigentlich nicht."
    Horst Weidenmüller, Labelchef von !K7, einem Label für elektronische Musik, hat gerade ein neues Sub-Label für "Neo Klassik" gegründet: 7K!
    "Ich finde, es ist einfach an der Zeit, wo es einen Begriff dafür geben sollte, wo man in den Plattenladen gehen kann und sagen kann: Wo ist denn das Regal für...? Die Entwicklung ist jetzt so weit, dass wir einen Namen dafür brauchen. Da ist Neo Klassik nicht der schönste, aber auch nicht der allerschlimmste. Ich könnte damit leben, auch wenn ich nicht glücklich bin."
    Das erste Signing von 7K!: Luca D’Alberto. Noch ein Italiener.
    Musik: "Blessed Messenger" von Luca D’Alberto
    Weidenmüller glaubt, Interpreten legen heutzutage mehr Wert auf Sound. Es geht ihnen nicht darum, Kompositionen möglichst virtuos und fehlerfrei nachzuspielen, wie in der klassischen Musik üblich.
    Wiedenmüller: "Da dreht es sich nur darum, wie kann man Bach reproduzieren. Und ich glaube, da tut sich was. Und das ist eigentlich auch das Spannende dabei, eigene Komposition, neuer Sound, eigener Sound. Vor allem einen eigenen Sound zu entwickeln."
    Musiker wie Luca D’Alberto, klassisch ausgebildet, mit Arrangements an der Mailänder Scala, entfliehen dem Muff der ewigen Reproduktion. Klassische Musik ist für sie nur noch ein entferntes Echo, das sie mit elektronischer Klangveränderung in neue Formen überführen.
    Musik: "Four" von Ólafur Arnalds & Nils Frahm
    Boysen: "Und das finde ich sehr schön, dass man sozusagen das, was man im Grunde kennt, noch mal neu erfindet, und noch mal neu permutiert."
    Ben Lukas Boysen, Komponist und Musiker beim angesehenen Indie-Label Erased Tapes.
    Musik: "Nocturne 3" von Ben Lukas Boysen
    Erased Tapes veröffentlicht seit zehn Jahren "Neo Klassik". Damals war der Begriff noch gar nicht erfunden. Boysen freut, dass durch die Gründung von Labels wie 7K! mehr über das Phänomen gesprochen wird. Er befürchtet aber auch, im neu entstehenden Markt werde es große qualitative Unterschiede geben. Shooting-Star Ludovico Einaudi sei doch eher…
    Boysen: "Ja, wie sage ich das jetzt? Es ist halt die Belanglosigkeit in Tüten. Das klingt halt alles perfekt. Also, das klingt wirklich so feenstaubmäßig perfekt. Du kannst das sofort durchschauen. Aber der Unterschied ist, glaube ich, zwischen Toast und Vollkornbrot. Das kannst du beides essen, ist auch irgendwie der gleiche Formfaktor, nur, das eine gibt dem Körper was zu arbeiten, und das andere nicht."
    Horst Weidenmüller ist sich sicher, bei 7K! vor allem diese nahrhaften Vollkornbrot-Künstler zu veröffentlichen. Er weiß aber auch, dass er einen neuen Markt bedient. Aber das müsse ja nicht schlecht sein:
    "Mit 7K! wollen wir eigentlich eher auf einem ziemlich breiten Spektrum Strömungen darstellen, die in diesen Bereich passieren."
    Musik: "Wait For Me" von Luka D’Alberto
    "Neo Klassik" - einerseits eine Musik für das Streaming-Zeitalter. Lange, elegische Hymnen, die häufig in endloser Wiederholung im Hintergrund klimpern können. Aber auch eine musikalische Erneuerung. Die Interpreten sind experimentell, werden aber trotzdem von großen Konzerthäusern gebucht. "Neo Klassik" taumelt den holprigen Weg des Pop entlang. Irgendwo zwischen Indie-Phänomen und großem Ausverkauf.
    Weidenmüller: "Und ich finde es auch gut, dass es viele Leute verurteilen, weil damit hat es ja auch die Berechtigung, was Neues zu werden."