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Nerven wie ein Wurm
Der Ursprung des Gehirns

Hat der Mensch Nerven wie ein Wurm? Das haben sich Gelehrte schon im Jahr 1830 gefragt. In Paris stritten sie darüber, ob unser Nervensystem mit dem wirbelloser Tiere vergleichbar sei. Etliche Forschergenerationen später spaltet die Frage nach dem Ursprung des Gehirns noch immer die Wissenschaft.

Von Lennart Pyritz | 27.03.2016
    Zu sehen ist eine Skulptur des Künstlers Loris Marazzi. Zwei Hände halten ein Gehirn.
    Wie sind das Gehirn und die Vielzahl heute existierender Nervensysteme entstanden? (picture-alliance / dpa / Didier Saulnier)
    Hörtipp: Nerven wie ein Wurm. Über den Ursprung des Gehirns - Ostersonntag 16:30 (00:51)
    Die Entwicklungsgeschichte von Nervengewebe und Gehirn könnte relevante Informationen liefern: Nach welchen Mustern verläuft die Evolution? Wie entsteht Bewusstsein? Und vor allem: Nützt es im Kampf gegen Parkinson, Gehirne weit entfernter Arten zu untersuchen?
    Die Spurensuche ist schwierig: Fossilien weisen kaum Spuren von Nervengewebe auf, anhand derer Forscher die Vergangenheit rekonstruieren könnten. Vielerorts ist die Platzierung im Stammbaum der Lebewesen unklar oder die genetische Grundlage des Nervengewebes rätselhaft.

    Wurm: Da stehen sie auf dem dicken Teppichboden, kleine Gruppen von Menschen, mit Tassen in der Hand und reden.
    "Früher sind wir immer davon ausgegangen, Evolution geht von einfach oder primitiv zu komplex."
    Wurm: Komplex – damit meint der Mann mit Anzug und Brille sich selbst und seinesgleichen. Homo sapiens, die Menschen. Einfach – das bin wohl ich. Ein Wurm.
    "Das ist nicht mehr aufrecht zu erhalten. Auch ein vormals komplexes Hirn kann sich sekundär reduzieren."
    Wurm: Jetzt wird's interessant. So wie ich das sehe, stellt er gleich das Gehirn der Menschen neben das von uns sogenannten "primitiven" Lebewesen.
    "Jeder Organismus ist Resultat eines historischen Prozesses. Das bedeutet: Da gab's auch was davor. Das bedeutet: Wir Menschen – ehemals die Krone der Schöpfung – stehen gleichberechtigt neben einem Wurm, der sich irgendwo im Meeresboden festsetzt."
    "Man is but a worm": Vom Wurm zu Charles Darwin
    Frühling in London. Ein altehrwürdiger Bau der Royal Society an der Carlton House Terrace, ein paar Minuten nur vom Buckingham Palace. Der Neurowissenschaftler Frank Hirth hat zu einer Konferenz geladen. Sie soll endlich Antworten liefern auf Fragen, die schon lange im Raum stehen.
    "Wir wollen wissen: Wann ist das Nervensystem entstanden? Hat es mehrere Ursprünge oder nur einen?"
    Angereist sind Hirnforscher, Systematiker, Paläontologen, Molekularbiologen, sogar Philosophen. Durchaus philosophisch hat auch die Debatte um den Ursprung des Gehirns begonnen: 1830, beim sogenannten Pariser Akademiestreit, gerieten die französischen Naturforscher Étienne Geoffroy Saint-Hilaire und Georges Cuvier darüber aneinander, ob der Mensch denselben Bauplan habe wie andere Tiere.
    1882 erschien die Karikatur "Man is but a worm". Darin verwandelt sich ein langer, geringelter Wurm Schritt für Schritt in einen haarigen Affen und schließlich in Charles Darwin. Der hatte zwischenzeitlich seine Evolutionstheorie vorgestellt, in der er allen Arten einen gemeinsamen Ursprung zuschrieb – für viele damals unvereinbar mit ihrem Glauben an eine Schöpfung und dem Menschen als Krone derselben. Ihre Verwandtschaft mit den Tieren haben die meisten Menschen inzwischen akzeptiert. Doch wie das Gehirn entstand und die Vielzahl heute existierender Nervensysteme, diskutieren Forscher noch immer.
    Wurm: Das ist mir schon aufgefallen: Am Nachmittag strömen die Menschen hier immer aus dem Raum, in dem sie stundenlang Vorträgen lauschen. Dann reden sie miteinander und trinken dabei Tee. Und alle haben kleine Schilder an Jackett oder Bluse geheftet. Bei dem dunkelhäutigen Mann in der Ecke steht Erich Jarvis drauf, Professor für Neurobiologie am Medizinischen Zentrum der Duke University in North Carolina:
    "Gibt es mehrere Ursprünge, bedeutet das: Komplexe Systeme wie das Gehirn können sich auf der Erde mehrfach entwickeln – vielleicht auch auf anderen Planeten. Gibt es nur einen Ursprung, legt das dagegen nahe, dass es eine Seltenheit ist, die die Evolution nur schwer hervorbringt."
    Wurm: Die da im dunklen Kostüm nennt sich Brigitte Galliot und ist Professorin in der Abteilung für Genetik und Evolution an der Universität Genf:
    "Was hält unser Nervensystem im Gegensatz zu dem anderer Tiere davon ab, sich zu regenerieren? Das ist eine ganz grundlegende Frage, die etwa das Altern betrifft."
    Vor 520 Millionen Jahren: Vielfalt der Lebewesen im Meer
    Wurm: Und der sich da vorne über den grau melierten Bart streicht, ist Peter Godfrey-Smith, ein Philosoph von der University of Sydney in Australien:
    "Wenn ich die Geschichte der Ursprünge verstehe; wenn ich begreife, wie die ersten Sinneseindrücke, die ersten Erinnerungen, die ersten Verhaltenssteuerungen entstanden sind. Dann werde ich verstehen, wie in einer materiellen Welt Organismen mit Bewusstsein möglich sind. Und warum haben gerade Nervensysteme dieses Bewusstsein hervorgebracht – obwohl die Kommunikation zwischen Neuronen nur ein Weg des Signalaustausches zwischen Zellen ist?"
    "This piece of rock is about 520 million years old. So it`s about half a billion years old."
    Auf dem Tisch vor Nicholas Strausfeld steht ein Mikroskop. Er schiebt einen kleinen Brocken Sedimentgestein in den Lichtkegel. Der Stein ist gelblich und von feiner Struktur. Darauf zeichnet sich dunkel eine wenige Millimeter lange Silhouette ab: mit gleichmäßigen Körpersegmenten, gestielten Augen und Fortsätzen am Bauch.
    "Das ist vermutlich das am besten erhaltene Exemplar seiner Art: Jianfengia multisegmentalis."
    Das Tier ist ein Gliederfüßer oder Arthropode, Vorläufer heutiger Insekten und Krebstiere und 520 Millionen Jahre alt.
    "Mit dem haben wir richtig Glück gehabt: Es gibt sieben solcher Exemplare, und drei zeigen Überreste eines Gehirns. Das ist wirklich fantastisch."
    Vor 520 Millionen Jahren schrieb man das Erdzeitalter des Kambriums. Das Land war noch unbesiedelt. Aber im warmen, nährstoffreichen Meer explodierte die Vielfalt der Lebewesen förmlich. Dort tummelten sich Schwämme, quallenartige Wesen, Weichtiere und urtümliche Gliederfüßer. Als Strausfeld 2012 das erste Gehirn aus dieser Zeit beschrieb, sorgte er damit für eine riesen Sensation. Denn bis dahin galt die Lehrmeinung: Gehirne fossilisieren nicht, sondern verrotten mit der Zeit.
    "This is a question that really bugged us. Because our critics all said: Impossible – brain, it decays."
    "Heilige Scheiße - es hat ein Gehirn!"
    Doch dann war der Neurowissenschaftler von der University of Arizona mit einer chinesischen Kollegin durch eine Fossiliensammlung in Südchina gestreift. Dabei fiel ihnen ein krebsähnliches Tier auf, mit Kopfschild, segmentiertem Rumpf und schmalem Hinterleib.
    "Ich habe zu ihr gesagt: Diese Fuxianhuias sehen wirklich so aus, als ob sie ein Nervensystem am Vorderende haben. Denn da waren kleine Lücken in der Färbung, die genau wie ein Nervensystem aussahen.
    Wir haben es unters Mikroskop gelegt, und ich habe gesagt: Heilige Scheiße – es hat ein Gehirn. Und da war es: wunderschön und flach wie eine gepresste Blume. Der perfekte Umriss eines Nervensystems."
    Das urzeitliche Gehirn hatte eine dreiteilige Struktur, mit Vorder-, Mittel- und Hinterhirn. Damit zeigte es Ähnlichkeit zu heute lebenden Insekten. Deren Hirngewebe ist extrem dicht und fest und enthält viele wasserabweisende Lipide – Eigenschaften, die das Fossilisieren urzeitlicher Gliederfüßer unterstützt haben könnten.
    Die Tiere wurden plötzlich von feinem Sediment begraben, denkt Strausfeld. Vermutlich habe es an ihrer Lagerstätte auch keinen Sauerstoff gegeben, sodass Bakterien sie nicht zersetzen konnten.
    Strausfeld musste viel Überzeugungsarbeit leisten. Um auch die letzten Zweifel unter seinen Kollegen auszuräumen, spielte er die Fossilisierung sogar im Labor nach:
    "Wir haben ganz feine Tonerde genommen, deren Konsistenz der der kambrischen Sedimentgesteine ähnelt, und mit Meerwasser gemischt. Dann haben wir Sandwürmer und Kakerlaken bei vier, fünf Grad Celsius in dieser Erde vergraben und obendrauf Gewichte gestapelt. Nach drei, vier Monaten war das restliche Wasser verdunstet. Und siehe da: Wir hatten einen schönen Steinblock. Und als wir den aufbrachen, fanden wir tatsächlich Hirngewebe. Und es war nicht verwest. Es sah wirklich ganz unversehrt aus."
    Lebewesen mit komplexen Gehirnen schon im frühen Kambrium
    Inzwischen haben sich auch andere auf die Suche gemacht. Erst Anfang März beschrieben Wissenschaftler im Fachmagazin PNAS das Fossil eines weiteren krebsähnlichen Tieres, das vor 520 Millionen Jahren im Meer lebte. Es war so gut erhalten, dass sie sogar einzelne Nervenfasern von fünftausendstel Millimeter Länge erkennen konnten.
    Die Funde belegen: Schon im frühen Kambrium gab es Lebewesen mit einem komplexen, geradezu modernen Gehirn. Doch einen erdgeschichtlichen Wimpernschlag weiter zurück beginnt der Graubereich. Ediacarium heißt das Erdzeitalter, das dem Kambrium vorangeht. Forscher vermuten, dass damals im Meer die ersten Vielzeller entstanden. Wie sie aussahen und sich entwickelten, ist rätselhaft. Denn Fossilien gibt es aus dieser Zeit kaum.
    "Ich denke, das war´s. Das Ediacarium: Da wissen wir noch nicht einmal, wer die Lebewesen waren, oder ob einige von ihnen schon herumgekrochen sind."
    Wie und warum sich damals im urzeitlichen Meer die ersten Nervensysteme entwickelten – darüber lässt sich nur spekulieren.
    "Wenn man ein Lebewesen ist, das schnell reagieren muss auf einen Feind oder um eine Beute zu bekommen, dann sind die nicht-neuronalen Übertragungsmechanismen viel zu langsam."
    Gerhard Roth ist Neurobiologe und Professor am Institut für Hirnforschung der Universität Bremen. Er vermutet, dass die ersten Nervensysteme vor 600 bis 700 Millionen Jahren entstanden, als urzeitliche Mehrzeller ihr Lebensmodell umstellten: Nicht nur an einem Ort auf dem Meeresboden festsaßen und zufällig vorbei schwimmende Nahrung einsammelten, sondern die Umwelt gezielt durchstreiften. Damit wurden einige Tiere zu Jägern, andere zu Gejagten.
    "Wenn das also Zelle für Zelle für Zelle ging, dann wäre man schon längst aufgefressen oder man würde jede Beute verpassen. Also der Druck von beiden Seiten auf die Schnelligkeit war sicherlich ein ganz wesentlicher Stimulus, ein Nervensystem und Nervenzellen auszubilden."
    Auch Würmer entwickelten sich im urzeitlichen Meer
    Zellen spezialisierten sich also darauf, Informationen schnell, effizient und über weite Strecken zu übertragen. Sie bildeten lange Fortsätze, um chemische und elektrische Signale weiterzuleiten, beispielsweise von einer Sinnes- zu einer Muskelzelle. So entstanden Nervenzellen – und aus ihnen Nervensysteme.
    Die frühesten waren vermutlich diffuse Nervennetze auf der Körperoberfläche von Tieren. Heute finden sich solche einfachen Nervensysteme noch bei den Hohltieren. Dazu zählen Quallen und Polypen – radiärsymmetrische Tiere mit hohlem, zylinderförmigem Körper und einer tentakelbesetzten Mundöffnung. Teilweise verdichtet sich hier bereits Nervengewebe.
    "Tendenzen zur Zentralisierung gibt es seit Beginn."
    Im urzeitlichen Meer haben sich auch Würmer entwickelt. Ihre Körper hatten ein hinteres und ein vorderes Ende, mit dem sie gezielt mit ihrer Umwelt in Verbindung traten. Wo die Sinneszellen saßen, konzentrierten sich wohl auch die Nervenzellen. Ab diesem Organisationsgrad könne man in der Evolutionsgeschichte von einem Gehirn sprechen, sagt Roth:
    "Ein Gehirn kann man bei den Wirbellosen erkennen, wenn sich meist um den Schlund herum Nervenzellen in großer Zahl kondensieren und sogenannte Ganglien bilden. Dann gibt es meist einen Schlundring, und in diesem Ring sitzen dann Anhäufungen von vielen Nervenzellen, Hunderte bis Tausende manchmal. Und von diesen Ganglien gehen dann Markstränge aus oder ähnliche lange Fortsätze, die dann den Körper vom Kopf her innervieren. Und diese Zweiteilung hat sich als äußerst erfolgreich erwiesen."
    "Körperliche Ähnlichkeit sagt nicht automatische etwas über die Verwandtschaft aus"
    Ein Kopf, in dem sich Nervenzellen konzentrieren: Das Prinzip setzte sich in der Entwicklungsgeschichte der Mehrzeller durch. Der Bauplan wurde dabei variiert und mündete in einer enormen Vielfalt an Gehirnen.
    "Ein großer Entwurf ist das Arthropoden-Gehirn, besonders auch das Insekten-Gehirn, das dreiteilig ist, aber in allen drei Teilen – besonders im ersten Teil – äußerst kompliziert geworden ist. Auch mit wunderbaren Sinnesorganen besetzt. Der zweite große Entwurf ist bei den Weichtieren, insbesondere bei den Kraken zu finden, die riesige Gehirne ausgebildet haben, die ihre Dreiteiligkeit kaschieren.
    Aber wenn man sich deren Vorfahren genau anguckt, ist klar: Es ist derselbe Bauplan. Und schließlich hat sich das Gehirn aller Wirbeltiere auch aus einem dreiteiligen Gehirn – einem Vorder-, Mittel- und Nachhirn oder Hinterhirn entwickelt, und ist dann zu einem fünf- bis sechsteiligen Gehirn geworden."
    Wurm: Sieh an. Meine wurmartigen Vorfahren hatten also bereits Köpfchen. Wenn ich mir die Menschen so anschaue – etwas ganz Neues ist ihnen auch nicht eingefallen. Da vorne spricht gerade einer von ihnen, ein älteres Exemplar mit schneeweißem Haar. Nicholas Holland, Meeresbiologe:
    "Das Problem beim Vergleichen von Arten ist, dass körperliche Ähnlichkeit nicht automatisch etwas über die Verwandtschaft aussagt. Zum Beispiel fressen Languren – eine asiatische Gruppe von Affen – hauptsächlich Blätter und haben ähnliche Verdauungsenzyme wie Kühe. Aber Affen und Kühe sind nicht eng miteinander verwandt."
    Wurm: Jetzt vergleicht er Affen mit Kühen. Würde mich nicht wundern, wenn er gleich auch noch ...
    "Und nehmen sie einen kleinen schleimigen Wurm und einen Mensch. Welche Teile sind da vergleichbar?"
    Wurm: Ich hab`s gewusst. Wir Würmer haben es den Menschen offensichtlich angetan. Jedenfalls denken sie viel über die Verwandtschaft mit uns nach.
    Hat die Natur ganz zu Beginn nur eines oder mehrere Nervensysteme entworfen?
    Um herauszufinden, wie aus den ersten Nervenansammlungen Gehirne entstanden, bleibt den Forschern nur eine Möglichkeit: Sie müssen die Verwandtschaftsverhältnisse klären. Dabei nähern sie sich von mehreren Seiten: Über Körperbau, Biochemie, Genetik, oder das Verhalten.
    Doch das Vergleichen ist tückisch. So ähnelt der Flügel eines Vogels auf den ersten Blick stark dem einer Fledermaus, anatomisch aber sind sie ganz unterschiedlich aufgebaut. Flügel entwickelten sich erst, als beide Tiergruppen längst getrennte Wege gingen. Wie der gemeinsame Vorfahr von Vögeln und Fledermäusen aussah – darüber verraten die Flügel also nichts.
    Dazu kommt: Je nachdem, welche Ebene gerade erforscht wird – Anatomie, Gene oder Chemie – verästelt sich der Baum anders. Dadurch rücken Arten näher zusammen oder weiter auseinander. Erhalten einen gemeinsamen Vorfahren oder verlieren ihn. Reihen sich ein in eine Abstammungslinie oder bilden einen eigenen Zweig.
    Besonders groß ist das Chaos an der Wurzel des Stammbaums, bei den ursprünglichen Weichtieren, Würmern und Polypen. Und den Schwämmen: Einfache, am Meeresboden festsitzende Tiere, die Nahrungspartikel aus dem Wasser in ihre vasenförmigen Körper einstrudeln – ganz ohne Nervengewebe. In dieser weitgehend unerschlossenen Region sorgt derzeit ein quallenähnliches Wesen für Aufregung:
    "Nature is much more innovative than we think."
    Hat sich die Natur ganz zu Beginn einen Entwurf eines Nervensystems einfallen lassen oder mehrere? Darum dreht sich der Streit. Und eine seiner zentralen Figuren ist Leonid Moroz. Moroz stammt aus Russland, lehrt inzwischen an der University of Florida und forscht über eine besonders rätselhafte Tiergruppe. Seestachelbeere, Meerwalnuss oder Rote Tortuga heißen die Arten und gehören zu den Ctenophoren oder Rippenquallen.
    Nervenzellen von Rippenquallen kommunizieren auf einzigartige Weise
    Wie ihr Name vermuten lässt, erinnern sie äußerlich an Quallen – eiförmige Wesen aus transparenter Gallerte, die durch die Meere schweben. Allerdings sind sie nicht direkt mit diesen verwandt, haben zum Beispiel keine Nesselzellen. An welche Stelle des Stammbaums sie gehören – näher an die echten Quallen oder eher in die Verwandtschaft von Würmern – ist umstritten. Doch Moroz legt sich fest:
    "Wir haben herausgefunden, dass Rippenquallen eine eigene chemische Sprache in ihrem Nervensystem nutzen. Außerdem gibt es Hinweise darauf, dass Rippenquallen die Schwestergruppe aller anderen Tiere sind. Sie gehen also auf einen sehr alten Zweig des Stammbaums zurück."
    2013 hatten andere Forscher im Fachmagazin "Science" eine Studie veröffentlicht, in der sie das komplette Erbgut einer Rippenqualle analysierten. Ihre Untersuchungen wiesen tatsächlich darauf hin, dass sich die Lebewesen als erste von einem Urahn aller Tiere abspalteten – sogar noch vor den Schwämmen. Doch damit nicht genug. Leonid Moroz ist überzeugt: Er hat bei den Rippenquallen einen eigenen, unabhängigen Ursprung des Nervensystems gefunden.
    Am Ende ihrer Ausläufer übersetzen Nervenzellen den elektrischen Impuls in einen chemischen Botenstoff. Der überwindet den Spalt zur nächsten Nervenzelle und wird dort wieder zurückübersetzt in Elektrizität. Die Nervenzellen von Rippenquallen kommunizieren dabei auf einzigartige chemische Weise, sagt Moroz:
    "Wenn man in der Zeit zurückgeht und sich einzelne Neuronen anschaut, zeigen sich Unterschiede bei den Tieren am Fuß des Stammbaums. Chemische Unterschiede. Was soll das anderes bedeuten, als dass Nervenzellen mehrfach entstanden sind?"
    Forscher müssten die Evolution im Labor nachahmen
    Moroz‘ Theorie ist brisant – und überzeugt nicht alle seine Fachkollegen. Viele denken nach wie vor, dass die Rippenquallen entstanden, als es bereits ein Nervensystem gab, und dass sie später die ursprüngliche Signalübertragung abwandelten. Doch Moroz kann das nicht nachvollziehen. Er wählt eine Analogie aus der Linguistik:
    "Nur ein einziger Ursprung? In diesem Fall müsste man annehmen, dass es eine einzige Ur-Sprache mit Ur-Grammatik gab. Und dann müsste die im Lauf der Evolution wieder verschwunden sein, und eine ganz neue Sprache und Grammatik tauchte auf."
    Leonid Moroz geht sogar noch weiter. Er hat Daten zu den Verwandtschaftsverhältnissen und Nervenzellen anderer ursprünglicher Organismen zusammengetragen, darunter Seeanemonen, Quallen, Seeigel und Schneckenverwandte. Dabei habe sich gezeigt: Es gebe keine universellen Master-Gene für Nervenzellen bei allen Tieren.
    Und nicht alle Nervenzellen entstünden beim Heranwachsen aus denselben Geweben. Außerdem seien viele Tierarten noch gar nicht ausreichend untersucht worden. Sein Fazit: Nervenzellen und Nervensysteme könnten sich mindestens sieben Mal unabhängig voneinander entwickelt haben.
    Moroz hat auch eine zurzeit eher noch visionäre Idee, wie die Frage nach dem Ursprung des Gehirns endgültig beantwortet werden könnte: Forscher müssten die Evolution im Labor nachahmen.
    "Wir müssten molekulare Werkzeugkästen finden, die es ermöglichen, Nervenzellen zusammen zu bauen. Damit könnten wir klären, auf wie viele Weisen man ein Neuron konstruieren kann – eine, zwei, drei oder fünf? Wir müssten die Bildung von Nervenzellen verfolgen, zum Beispiel bei Rippenquallen. Nur wenn überall derselbe Werkzeugkasten zum Einsatz kommt, würde das tatsächlich für einen einzigen Ursprung sprechen."
    Bakterien: Lebewesen ohne Nervensystem
    Wurm: Wie es aussieht, erhitzt da gerade etwas die Gemüter der Menschen. Sie klimpern mit den Löffeln in den Tassen und äußern ständig einen Laut, der so klingt wie "Moroz", "Moroz".
    "Ich habe immer an die Hypothese eines einzigen Ursprungs des Gehirns geglaubt. Wenn ich jetzt aber Leonid höre, dann kann ich mir schon vorstellen, dass es mindestens zwei Ursprünge gab für Nervensysteme oder zumindest Nervenzellen."
    "Ich persönlich denke nach wie vor, dass Nervenzellen wohl ein Mal im Verlauf der Evolution im Tierreich entstanden sind und beziehe mich da insbesondere auf Nervenzellen, die über Synapsen verbunden sind. Diese Synapsen haben einen ganz speziellen Aufbau, und dieser Aufbau ist wahrscheinlich so nur einmal entstanden. Wenn man diese Frage also klären wollte, müsste man die Synapsen der Ctenophoren daraufhin untersuchen, welche speziellen Proteine in diesen Synapsen tatsächlich verwendet werden, das würde die Frage wirklich klären."
    "Im Moment fehlen uns molekulare Daten der Rippenquallen, um die Frage eindeutig zu beantworten."
    Die Debatte läuft. Und noch eine weitere Frage treibt die Forscher um: Warum haben sich bis heute überhaupt so viele unterschiedliche und vor allem komplexe Gehirne entwickelt? Der Bremer Neurobiologe Gerhard Roth:
    "Also ein komplexes Gehirn ist für bestimmte Dinge ganz nett. Aber brauchen tut man`s nicht. Nämlich die allermeisten Lebewesen auf dieser Welt sind die Bakterien, die in unglaublicher Zahl – unter anderem in unserem Körper – existieren. Und die als Einzeller, oder als Pseudo-Vielzeller unter ganz bestimmten Umständen, brauchen gar kein Nervensystem."
    Und Bakterien behaupten sich immerhin schon seit Milliarden Jahren auf der Erde.
    "Letztendlich werden die vielleicht gewinnen gegen uns. Und dann war`s mit der Mehrzelligkeit vorbei."
    Gemeinsame Grundprinzipien von intelligenten Gehirnen
    Es gibt auch Lebewesen, die im Lauf ihres Lebens das Gehirn wieder vereinfachen: Schwämme zum Beispiel. Deren Larven bewegen sich frei im Wasser und können Signale verarbeiten. Die erwachsenen Tiere dagegen verlieren wortwörtlich die Nerven und setzen sich am Meeresboden fest.
    Auf der Erde lässt es sich ohne Nervensystem leben. Dennoch steht fest: Viele Tiere haben komplexe Gehirne entwickelt – auf ganz unterschiedlichen Zweigen des Stammbaums. Gerhard Roth schätzt: Komplexe Gehirne haben sich hundertfach entwickelt. Auch Intelligenz entstand dabei mehrfach, etwa bei Honigbienen, Oktopussen, Buntbarschen, Rabenvögeln und Primaten – den Menschen eingeschlossen. Rein äußerlich ähneln sich diese intelligenten Gehirne wenig. Doch bei genauerem Hinsehen, haben Forscher gemeinsame Grundprinzipien entdeckt.
    "Nämlich Zellen, die sehr dicht gepackt sind. Die sehr schnell Signale hin- und her transportieren können. Und wo auch irgendein – jedenfalls in den meisten Fällen – eine Art von Kommunikationssystem vorliegt. Honigbienen haben ein winziges Gehirn, aber in diesem winzigen Gehirn gibt es relativ große Intelligenzzentren, die Pilzkörper. Und dann haben sie eine Sprache, nämlich die Schwänzelsprache. Etwas ganz Ähnliches finden wir bei den Vögeln: sehr kleine Gehirne im Vergleich zu unsrem Gehirn. Aber die Intelligenzzentren sind wieder ganz dicht gepackte Nervenzellen. Und: Sie haben den Vogelgesang."
    Auch wenn Wissenschaftler Ursprung und Ursache der Vielfalt von Gehirnen erst in Ansätzen verstehen – Einsichten liefert die Vielfalt der Nervensysteme allemal. Zum Beispiel im Hinblick auf künstliche Intelligenz:
    "Das ganz Spannende ist ja, dass, wenn wir bei aller Verschiedenheit der Gehirne in die Intelligenzzentren gucken, da Anordnungen finden, Strukturen und Funktionen, die sich auch ein Ingenieur ausdenken würde. Nämlich einen massiven sensorischen Input, dann eine äußerst schnelle und effektive Verrechnung auf kleinstem Raum und dann ein motorischer Output. Und so was kann man im Prinzip nachbauen."
    Auf der Suche nach den genetischen Werkzeugen von Regeneration
    Schätze bergen könnte die Vielfalt der Gehirne auch für Mediziner. Fische, Salamander oder Frösche regenerieren Nervenzellen. Vögel und Säugetiere haben diese Fähigkeit dagegen verloren. Wenn Forscher irgendwann verstehen, was hinter diesem Unterschied steckt, könnte das große Fortschritte im Kampf gegen Alzheimer oder Parkinson bedeuten. Das Gehirn könnte verlorene Zellen wieder aufbauen.
    Wurm: Nach zwei Konferenztagen schlurfen die Menschen doch recht müde auf der Suche nach Nahrung und etwas zu trinken aus dem Vortragsraum. Einige von denen suchen sich vermutlich auch gleich einen Schlafplatz, um sich wieder herzustellen.
    "Ich forsche zu Lebewesen, die sich immer wieder regenerieren. Und wir wollen die genetischen Werkzeuge finden, die sie dazu gebrauchen. Ob die dann nur bei dieser einen Art auftreten oder nicht, darum geht es mir gar nicht. Denn in beiden Fällen könnten die Werkzeuge den Weg weisen, um degenerative Erkrankungen beim Menschen zu behandeln."
    Wurm: Da vorne ist wieder die Frau von der Universität Genf. Oh, und da das ältere Exemplar mit dem weißen Haar: der Wurmforscher, Nicholas Holland:
    "Wir kennen nicht wirklich das Erbgut von genügend Arten. Denn meist nehmen sich Forscher nur Wirbeltiere vor. Etwas anderes lohnt sich oft auch beruflich nicht. Doch warum sollte eine unbeachtete Tiergruppe mit nur 15 Vertretern nicht genauso viel über die Evolution verraten, wie eine Gruppe mit 50.000? Aber wenn Sie in einem Flugzeug sitzen und ihrem Sitznachbarn erzählen, sie arbeiten an einer Wurm-Art, von der es nur ein paar Vertreter weltweit gibt – dann ernten sie schon komische Blicke."
    Wurm: Nicht so auf Würmer herabschauen – diesen Holland könnte ich ins Herz schließen, wie die Menschen manchmal sagen. Obwohl: Habe ich überhaupt so eins?!