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Nervenheilkunde im Umbruch

In Deutschland leben rund fünf Millionen psychisch Kranke, von denen nur zwei Millionen psychiatrisch oder psychotherapeutisch behandelt werden. Am Samstag ging in Berlin der Internationale Kongress der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde zu Ende. Wichtigstes Thema: der Zusammenhang zwischen Nervenkrankheiten und Vorgängen im Gehirn.

Von Carsten Schroeder |
    In den letzten zehn Jahren ist ein Dogma ins Wanken geraten: Gehirnzellen, so hieß es, können nicht neu entstehen. Wir würden mit einer bestimmten Zahl geboren, diese Zellen verschalten sich im Lauf des Lebens und bilden Strukturen, aber sie vermehren sich nicht. Und bei jedem Vollrausch - darüber haben nicht nur Medizinstudenten ihre Witze gerissen - stürben soundsoviel tausend Gehirnzellen unwiderruflich ab.

    Soweit die alte Lehre. Aber: Sie ist falsch. In einigen Bereichen des Gehirns können sich auch im Alter Zellen durchaus neu bilden.

    Das ist ein Paradigmenwechsel in der Gehirnforschung, und er hat Auswirkungen auf die Behandlung von neurologischen und psychischen Krankheiten.

    Prof. Fritz Hohagen, der Präsident der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde verspricht sich zwar nicht für sofort, wohl aber für die Zukunft einschneidende Verbesserungen bei der neurologischen Behandlung seelischer Krankheiten:

    " Man kann es sicherlich nicht schon jetzt in therapeutische Optionen umsetzen, aber wenn wir mal verstehen, wie sich Nervenzellen organiseren, oder wie sie aus diesem Reservoir schöpfen, wie Nervenzellen, die inaktiv waren, aktiv werden und so weiter kann man, wenn man die entsprechenden Stoffe kennt, auch therapeutische Optionen daraus entwickeln. "

    Vor allem für die Behandlung von Demenzen, allen voran die Alzheimer-Demenz, könnte das von Bedeutung sein.

    Soweit ist es noch nicht. Gegenwärtig konzentriert sich die Arbeit der Wissenschaftler darum auf einfache Fragen. Beispielsweise gibt es eine Untersuchung an Londoner Taxifahrern; die hat man sich deshalb ausgesucht, weil man annahm, dass sie über ein besonders gutes räumliches Orientierungsvermögen verfügen. Tatsächlich haben Londoner Taxifahrer einen deutlich größeren Hippocampus, einen bestimmten Teil des Großhirns, als die Durchschnittsbevölkerung. Offensichtlich sind ihnen also Nervenzellen gewachsen. Allerdings ginge das nicht unbegrenzt, so Dr. Gerd Kempermann vom Max-Dellbrück-Centrum für Molekulare Medizin in Berlin, denn sonst müsste den Taxifahrern irgendwann der Schädel platzen.

    Umgekehrt hat man einen um 10 Prozent verkleinerten Hippocampus bei Patienten mit Depressionen gefunden. Für viele Wissenschaftler ist dies ein Hinweis auf den engen Zusammenhang zwischen Neurogenese, also der Bildung von Nervenzellen, und Depressionen. Sie vermuten, dass bei depressiven Patienten eine Störung der Neurogenese vorliegt und deshalb Nervenzellen nicht ausreichend nachwachsen.

    Die Zahl der Forschungsarbeiten zu dieser Frage ist in den letzten fünf Jahren explosionsartig gestiegen, doch bislang ist alles nur Hypothese. Eines der Hauptgegenargumente: Depression ist eigentlich keine Krankheit des Hippocampus.

    Darum vermuten andere Forscher, dass diese beobachteten Phänomene nur Symptome, aber keine Ursache sind.

    Prof. Fritz A. Henn, Direktor des Zentralinstituts für seelische Gesundheit in Mannheim, verfolgt einen anderen Ansatz:

    " Scheinbar nimmt das Gehirn in einer depressiven Phase Informationen auf und bearbeitet sie in einer negativen Weise. Das muss eine strukturellen Hintergrund habe. Und was wir glauben heutzutage ist, dass es vorkommt, dass die Information nicht richtig weitergegeben wird, und es kann vielleicht daran liegen, dass Synapsen sich zurückziehen, und es nicht soviel Verbindungen zwischen Nervenzellen gibt. "

    Bislang ist die Diskussion, ob Depression mit Fehlern bei der Bildung von Nervenzellen oder mit Fehlern bei der Verschaltung von Nervenzellen zusammenhängt, unter Wissenschaftlern unentschieden. Das Gehirn hält nicht nur für Forscher viele Fragezeichen parat.