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Nervennetz mit Spinnenseide

Medizin. – Bei Indiostämmen im Regenwald werden Spinnennetze als Pflasterersatz verwendet, und auch unsere Vorfahren setzten die Netze von Kreuzspinnen so ein. Die proteinhaltige Spinnenseide ist bakterizid und regt die Zellteilung an: Selbst große Wunden heilen dann binnen weniger Tage. Zwei Wissenschaftlerinnen der Medizinischen Hochschule Hannover untersuchen jetzt das Potenzial der Spinnenseide für die moderne Medizin.

Von Michael Engel | 12.07.2007
    Auf der Tür steht "Schwesternzimmer". Doch nicht Kaffeemaschine und Mobiliar stehen herum, sondern mannshohe Yucca-Palmen, Drachenbäume und gewöhnliche Zimmerpflanzen mit hängenden Trieben. Erst auf den zweiten Blick fallen in dem sonst leeren Raum die riesigen Spinnennetze auf – zwei Meter im Durchmesser. Die Handteller großen Konstrukteure, die kopfüber in den Netzen hängen, heißen Nephila clavipes. Es sind goldene Seidenspinnen.

    "Die fühlen sich in Glaskästen auch nicht wohl. Deswegen halten wir sie hier auch frei im Raum. Die sind auch sehr standorttreu. Also, sie bauen ihr Netz und bleiben auch dort. Es ist nicht so, dass sie jetzt über den Boden kriechen würden. Dafür sind die Tiere auch viel zu schwer, das mögen sie gar nicht, sondern sie hängen dann in ihren Netzen. Da finden wir sie dann auch immer wieder, da werden sie dann auch von uns gefüttert und entsprechend dann auch zur Seidenentnahme einfangen."

    "Spinnen kurbeln" nennt Dr. Kerstin Reimers-Fadhlaoui die Prozedur. Zweimal pro Woche wird jede der 23 Spinnen auf einem Schaumstoffkissen fixiert. Da stets ein kleiner Faden hinten aus der Spinndrüse heraushängt, ist der Anfang schnell gefunden. Mit einer Art Spindel können so 100 Meter Spinnenseide pro Sitzung "gemolken" werden.

    "Wenn man diesen Faden zum Beispiel 40 Mal nebeneinander legt, hat er solche Stabilität, dass man damit einen ganzen Stuhl hochheben könnte. Das macht diesen Faden so außergewöhnlich. Der Faden hat ungefähr eine Dicke von 20 Mikrometer und ist im Normalgebrauch eigentlich relativ dünn, aber durch die außergewöhnliche Zusammensetzung der Spinnenseide und kleine Mikrospulen, die die Spinnseide auch noch in bestimmten Abständen hat, bekommt sie diese Stabilität."

    Christina Allmeling hatte die Idee, die reißfeste Spinnseide gewissermaßen als "Leitsystem" für neu aussprossende Nervenfasern zu verwenden. Besonders Motorradfahrer, die bei einem Unfall von der Maschine katapultiert werden, erleiden beim Aufprall häufig einen Nervenabriss im Schulterbereich. Arme und Hände können dann lange Zeit nicht mehr bewegt werden, bis neue Nerven nachgewachsen sind. Leider finden die neu aussprießenden Nervenfasern nicht immer bis zur Hand, weil vernarbtes Bindegewebe im Wundbereich den Weg versperrt. Der Arm bleibt dann für immer bewegungslos. Und so könnte die Überbrückung aussehen. Reimers-Fadhlaoui:

    "Die schlichteste Alternative ist, dass man eine Vene dem Patienten entnimmt, den Spinnenfaden einzieht, und dieses Konstrukt dann als Nerveninterponat verwendet..."

    ..... also als Platzhalter für die neu aussprießenden Nerven. Die Vene bildet dabei einen Tunnel zum Beispiel zwischen der Schulter, wo die abgerissenen Nerven neu aussprießen, und der Hand, wo die Axone genannten Nervenfasern hinwachsen sollen. Die Umhüllung der Nervenzellen – die sogenannten Schwann’schen Zellen – bilden sich dabei zuerst – und zwar genau entlang der innen liegenden Spinnenseide. Allmeling:

    "Die Schwann’schen Zellen, die setzen sich um die Spinnenseide drum rum, bilden dann praktisch schon die Vorhut. Und letztendlich durchläuft der Axon bis ins distale Ende auch noch dieses Konstrukt und verdrängt letztendlich dann auch noch den Spinnenfaden. Also der Spinnenfaden wird vom Körper kompensiert. Und dort, wo vorher der Spinnenfaden war, ist der Axon dann hinterher."

    Es funktioniert fantastisch: Spinnenseide wird vom körpereigenen Immunsystem nicht abgestoßen, sie wirkt antibakteriell, fördert obendrein die Zellteilung – regt also das Nervenwachstum an. Versuche mit Ratten stimmen euphorisch. Jetzt beginnt eine vorklinische Phase mit Schafen. In nicht allzu ferner Zukunft, so hoffen die beiden Forscherinnen, könnte die Therapie mit Spinnenseide bei menschlichen Patienten eingesetzt werden.