Winkels: Er war ein großgewachsener Mensch, eine imposante Erscheinung, sprach immer sehr leise, und machte auf mich immer den Eindruck eines verkörperten Citoyens, eines aufgeklärten, sehr gebildeten, etwas vornehmen Bürgers, eigentlich eines Typus, der so in der Landschaft relativ selten vorkommt. Gerade unter Kritikern gibt es viele sehr ruppige, polemische, scharfzüngige Menschen. Und er war im Auftreten immer eher leise und bescheiden, in Kenntnis und Urteil allerdings durchaus entschieden.
Schossig: Er hat in den vergangenen Monaten an einem Manuskript über seine Lebenserinnerungen gearbeitet, hat es wohl auch abschließen können. Das schildert seinen Weg von der oberschlesischen Heimat, wo er seine Kindheit verbracht hat, bis in die Nachkriegszeit der Bundesrepublik. Und seitdem kann man sagen, seit der Nachkriegszeit, hat Baumgart die deutsche Literatur begleitet.
Winkels: Ja, das hat mich ein bisschen überrascht, die Nachricht, die wir erst heute bekommen haben, dass er in seinem Verlag ein Manuskript abgeschlossen hat über sein Leben. Und zwar deshalb, weil er zu den Kritikern gehörte, die zwar durchaus subjektiv geurteilt haben, aber eigentlich nicht viel und gerne über sich selbst gesprochen haben. Er war auch nicht extrem in Händel aller Art verwickelt, wo man sagen würde: Das muss unbedingt aufgeschrieben werden. Sondern alles, was er zu sagen hatte, hat er über und mittels Literatur gesagt. Dass er jetzt über sich selber ein Buch schreibt oder geschrieben hat, das hat mich sehr verblüfft. Ich denke, dass er aber zwischen diesen Polen immer hin- und hergeschwankt ist. Er war ja seit 1990, also eigentlich schon im Pensionsalter, Professor an der Technischen Universität in Berlin und unterrichtete Literaturwissenschaft, sagte aber, er fühle sich nicht als Literatur-Professor, er sei kein Philologe, sondern er sei jemand, der schöngeistig mit Literatur umging. Und dieser Begriff ist ja nicht gerade populär. Die schöngeistige Haltung, die hat ihn schon ausgezeichnet. Darin steckt auch eine gewisse vornehme Distanz zu seinen Gegenständen. Er war ein großer Thomas Mann und Proust Liebhaber. Andererseits, was ich an ihm immer sehr bewundert habe, war er völlig unideologisch. Er las auch Literatur, die erkennbar überhaupt nicht die seine war, zu der er auf verschiedene Weise gar keinen Zugang hatte, zum Beispiel ganz junge Literatur, auch im hohen Alter. Und man merkte, er war immer bereit, sich von einem Text korrigieren zu lassen. Und er konnte Abstand zu seinen vorgefassten Meinungen haben. So war er zum Beispiel der einzige, an den ich mich erinnere, der in den großen kritischen Organen zum Beispiel das Buch "Blackbox" von Benjamin von Stuckrad-Barre besprochen hat, der als junger Popliterat gar nicht ernst genommen wurde. Aber der Grand Seigneur der Literaturkritik macht sich darüber her und fiel nicht darüber her. Er hat es schon kritisiert, aber sehr höflich und vorsichtig, und das galt auch für Sabine Peters und viele andere. Also, er war ein neugieriger Mensch auf der Grundlage einer sehr guten Kenntnis der Literatur des 20. Jahrhunderts, aber, um auf Ihre Frage zurück zu kommen, vor allen Dingen der Literatur nach 1945. Und das hat er mit einer solchen Systematik letztlich ein Leben lang betrieben, dass sein großes 600, 700 Seiten umfassendes Buch "Deutsche Literatur der Gegenwart", vor zehn Jahren ungefähr erschienen, tatsächlich die beste Literaturgeschichte nach 1945 ist. Sie beginnt mit Arno Schmidt, Koeppen und Heinrich Böll - "Die drei" nennt er diesen Aufsatz - und reicht bis Brigitte Gronau und Reinald Götz, die er übrigens mal sehr schön kontrastiert hat mit "Die Kristallzüchterin und der Berserker", was sehr schön zeigt, wie weit seine Spannweite war.
Schossig: Diese Existenz als Literaturkritiker und gleichzeitig als literarisch Tätiger ist ja immer problematisch und wird natürlich von der Konkurrenz beäugt. Heine hat mal gesagt: "Man sitzt entweder in der Jury oder man tanzt". Das war für ihn anscheinend kein Problem?
Winkels: Doch, es war insofern ein Problem als er wirklich für seine ersten beiden Romane, die ich eben erwähnt habe, Anfang der 60er, herb kritisiert wurde. Unter anderem von Reich-Ranicki, der ihn, das ist interessant nachzulesen, schon 1962/63 heftig verrissen hat, übrigens auch mit dem Argument: Ein Intelligenzler, Kritiker, der schreibt, das kann nicht gut gehen. Woraufhin sich dann aber auch Baumgart gerächt hat, der als Spiegel-Kolumnist Reich-Ranicki schwere Vorwürfe gemacht hat im Hinblick auf sein Realismus-Verständnis, dass das altbacken, aus dem 19. Jahrhundert, vielleicht noch aus dem sozialistischen Realismus stammt. Das war eigentlich die erste große Fehde, die mit Reich-Ranicki in Deutschland ausgetragen wurde. Die ging damals von Reinhard Baumgart aus, ist heute fast vergessen.
Schossig: Das waren Anmerkungen von Hubert Winkels zum Tod des Literaturwissenschaftlers und Essayisten Reinhard Baumgart. Hören wir ihn noch einmal selbst, ein Ausschnitt eines Gesprächs im vergangenen Jahr im literarischen Kolloquium in Berlin.
Baumgart: Ich bin während der Universitätszeit fast immer aus der aktuellen Literatur ausgetreten. Ich habe nichts gelesen. Sobald ich im Verlag war dann in der zweiten Hälfte der 50er Jahre, wir hatten auch die ersten Geschichten von Walser im Verlag, die begutachtet wurden. Und dann fing Ende der 50er Jahre der Wunsch an: Ich will auch. Und ich habe aber wohlgemerkt Kritiken und die ersten Geschichten parallel geschrieben. Und als ich anfing, den ersten Roman zu schreiben, war ich immer noch voll Lektor. Das Arbeitspensum war enorm, und dann war ich im letzten Jahr nur noch ein Halbwochen-Lektor.
Schossig: Die Stimme von Reinhard Baumgart. Gestern ist er 74-jährig überraschend gestorben.
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Schossig: Er hat in den vergangenen Monaten an einem Manuskript über seine Lebenserinnerungen gearbeitet, hat es wohl auch abschließen können. Das schildert seinen Weg von der oberschlesischen Heimat, wo er seine Kindheit verbracht hat, bis in die Nachkriegszeit der Bundesrepublik. Und seitdem kann man sagen, seit der Nachkriegszeit, hat Baumgart die deutsche Literatur begleitet.
Winkels: Ja, das hat mich ein bisschen überrascht, die Nachricht, die wir erst heute bekommen haben, dass er in seinem Verlag ein Manuskript abgeschlossen hat über sein Leben. Und zwar deshalb, weil er zu den Kritikern gehörte, die zwar durchaus subjektiv geurteilt haben, aber eigentlich nicht viel und gerne über sich selbst gesprochen haben. Er war auch nicht extrem in Händel aller Art verwickelt, wo man sagen würde: Das muss unbedingt aufgeschrieben werden. Sondern alles, was er zu sagen hatte, hat er über und mittels Literatur gesagt. Dass er jetzt über sich selber ein Buch schreibt oder geschrieben hat, das hat mich sehr verblüfft. Ich denke, dass er aber zwischen diesen Polen immer hin- und hergeschwankt ist. Er war ja seit 1990, also eigentlich schon im Pensionsalter, Professor an der Technischen Universität in Berlin und unterrichtete Literaturwissenschaft, sagte aber, er fühle sich nicht als Literatur-Professor, er sei kein Philologe, sondern er sei jemand, der schöngeistig mit Literatur umging. Und dieser Begriff ist ja nicht gerade populär. Die schöngeistige Haltung, die hat ihn schon ausgezeichnet. Darin steckt auch eine gewisse vornehme Distanz zu seinen Gegenständen. Er war ein großer Thomas Mann und Proust Liebhaber. Andererseits, was ich an ihm immer sehr bewundert habe, war er völlig unideologisch. Er las auch Literatur, die erkennbar überhaupt nicht die seine war, zu der er auf verschiedene Weise gar keinen Zugang hatte, zum Beispiel ganz junge Literatur, auch im hohen Alter. Und man merkte, er war immer bereit, sich von einem Text korrigieren zu lassen. Und er konnte Abstand zu seinen vorgefassten Meinungen haben. So war er zum Beispiel der einzige, an den ich mich erinnere, der in den großen kritischen Organen zum Beispiel das Buch "Blackbox" von Benjamin von Stuckrad-Barre besprochen hat, der als junger Popliterat gar nicht ernst genommen wurde. Aber der Grand Seigneur der Literaturkritik macht sich darüber her und fiel nicht darüber her. Er hat es schon kritisiert, aber sehr höflich und vorsichtig, und das galt auch für Sabine Peters und viele andere. Also, er war ein neugieriger Mensch auf der Grundlage einer sehr guten Kenntnis der Literatur des 20. Jahrhunderts, aber, um auf Ihre Frage zurück zu kommen, vor allen Dingen der Literatur nach 1945. Und das hat er mit einer solchen Systematik letztlich ein Leben lang betrieben, dass sein großes 600, 700 Seiten umfassendes Buch "Deutsche Literatur der Gegenwart", vor zehn Jahren ungefähr erschienen, tatsächlich die beste Literaturgeschichte nach 1945 ist. Sie beginnt mit Arno Schmidt, Koeppen und Heinrich Böll - "Die drei" nennt er diesen Aufsatz - und reicht bis Brigitte Gronau und Reinald Götz, die er übrigens mal sehr schön kontrastiert hat mit "Die Kristallzüchterin und der Berserker", was sehr schön zeigt, wie weit seine Spannweite war.
Schossig: Diese Existenz als Literaturkritiker und gleichzeitig als literarisch Tätiger ist ja immer problematisch und wird natürlich von der Konkurrenz beäugt. Heine hat mal gesagt: "Man sitzt entweder in der Jury oder man tanzt". Das war für ihn anscheinend kein Problem?
Winkels: Doch, es war insofern ein Problem als er wirklich für seine ersten beiden Romane, die ich eben erwähnt habe, Anfang der 60er, herb kritisiert wurde. Unter anderem von Reich-Ranicki, der ihn, das ist interessant nachzulesen, schon 1962/63 heftig verrissen hat, übrigens auch mit dem Argument: Ein Intelligenzler, Kritiker, der schreibt, das kann nicht gut gehen. Woraufhin sich dann aber auch Baumgart gerächt hat, der als Spiegel-Kolumnist Reich-Ranicki schwere Vorwürfe gemacht hat im Hinblick auf sein Realismus-Verständnis, dass das altbacken, aus dem 19. Jahrhundert, vielleicht noch aus dem sozialistischen Realismus stammt. Das war eigentlich die erste große Fehde, die mit Reich-Ranicki in Deutschland ausgetragen wurde. Die ging damals von Reinhard Baumgart aus, ist heute fast vergessen.
Schossig: Das waren Anmerkungen von Hubert Winkels zum Tod des Literaturwissenschaftlers und Essayisten Reinhard Baumgart. Hören wir ihn noch einmal selbst, ein Ausschnitt eines Gesprächs im vergangenen Jahr im literarischen Kolloquium in Berlin.
Baumgart: Ich bin während der Universitätszeit fast immer aus der aktuellen Literatur ausgetreten. Ich habe nichts gelesen. Sobald ich im Verlag war dann in der zweiten Hälfte der 50er Jahre, wir hatten auch die ersten Geschichten von Walser im Verlag, die begutachtet wurden. Und dann fing Ende der 50er Jahre der Wunsch an: Ich will auch. Und ich habe aber wohlgemerkt Kritiken und die ersten Geschichten parallel geschrieben. Und als ich anfing, den ersten Roman zu schreiben, war ich immer noch voll Lektor. Das Arbeitspensum war enorm, und dann war ich im letzten Jahr nur noch ein Halbwochen-Lektor.
Schossig: Die Stimme von Reinhard Baumgart. Gestern ist er 74-jährig überraschend gestorben.
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