Die Tür schließt sich: Dunkelheit, Stille. Keine Aufgabe belastet Hirn und Verstand. Der Blick geht nach innen, sucht innere Ruhe – und findet sie. Sie sind selten, die Augenblicke völliger Entspannung, so selten wie begehrenswert. Wenn es aber einmal geschieht, wenn der Geist nahezu still geworden ist, kommt dann auch das Gehirn zur Ruhe? Man sollte es meinen. Wenn die Forscher allerdings mit technischen Tricks in das Gehirn eines ruhenden Menschen hinein horchen, stellen sie etwas anderes fest: sie registrieren elektrisches Rauschen. Selbst jetzt, so scheint es, fließen Signale im Netz der Nervenzellen zielgerichtet hin und her.
In der Ruhe liegt die Kraft.
"To me the brain is on."
Was bedeutet es, dass sich in entspannten Situationen im Gehirn Aktivität messen lässt? Diese Frage bewegt die Neurowissenschaftler in den letzten Jahren immer heftiger, bisweilen sorgt sie sogar für Streit. Nicht wenige Forscher bezweifeln, dass diesem Befund größere Bedeutung zukommt. Andere hingegen sind sich sicher, dass er der Hirnforschung eine neue Richtung gibt und ihren bisherigen Blickwinkel maßgeblich erweitert.
Ein Mensch geht die Straße entlang: Schallwellen und Lichtimpulse erreichen ihn, treffen auf seine Sinnesorgane, auf Augen, Ohren, Nase, wandern tiefer, erregen Nervenzellen. Nervennetze werden aktiv. Der Mensch riecht, hört Stimmen, Geräusche, sieht Farben, Bewegungen.
"Das Gehirn empfängt Reize oder muss eine Aufgabe lösen und antwortet mit einem bestimmten Verhalten. Wenn man das Gehirn dabei beobachtet, wirkt es wie ein reflexives Organ. Hauptsächlich nach diesem Muster werden die Funktionen des Gehirns erforscht."
Bisher jedenfalls, meint Marcus Raichle von der Washington University School of Medicine in St Louis.
"Es hat sich auch die Auffassung gehalten, dass es noch etwas anderes gibt. Dass das Gehirn nämlich innerlich auch vorwegnimmt, was es tun wird. Es häuft Wissen an und organisiert dieses Wissen, um zukünftige Handlungen und Ereignisse vorzubereiten. Ich bin davon überzeugt, dass diese innere Tätigkeit des Gehirns ein Modell der Welt beinhaltet."
Wenn aber alle unsere Erkenntnis mit der Erfahrung anhebt, so entspringt sie darum doch nicht eben alle aus der Erfahrung. Denn es könnte wohl sein, dass selbst unsere Erfahrungserkenntnis ein Zusammengesetztes aus dem sei, was wir durch die Eindrücke empfangen, und dem, was unser eigenes Erkenntnisvermögen aus sich selbst hergibt.
[Immanuel Kant]
Ruhe wirkt Ordnung
[Laotse]
Ist im ruhenden Gehirn eine ganze Welt verborgen? Früher hat Marcus Raichle wichtige Pionierarbeiten zu den bildgebende Techniken der Hirnforschung veröffentlicht. Jetzt, zum Ende seiner Karriere hin, ist er zum Pionier der Erforschung des ruhenden Gehirns geworden. Zwar gab es schon einige Vordenker, aber erst mit ihm begann das Thema wirklich brisant zu werden.
"Es begann mit ganz gewöhnlichen Studien, bei denen wir mit Hilfe der so genannten Positronenemissionstomographie das Gehirn scannten. Wir präsentierten den Versuchspersonen eine Aufgabe, das Gehirn erhöhte seine Aktivität und wir versuchten herauszubekommen, welche Hirnregionen an der Aufgabe beteiligt waren."
Man darf nicht glauben, dass das Gemüt sofort ruhig sei, wenn der Körper liegt. Bisweilen ist die Ruhe unruhig.
[Seneca]
Eher per Zufall machte Raichle eine seltsame Entdeckung. Wenn die Versuchspersonen bei seinen Experimenten einfach nur ruhig mit offenen oder geschlossenen Augen im Scanner lagen, leuchtete eine Hirnregion auf, die bisher kaum aufgefallen war. Sie zog sich an der Mittellinie des Gehirns entlang. In dem Augenblick, als die Versuchspersonen begannen, eine Aufgabe zu lösen, erhöhte diese Region nicht ihre Aktivität, sondern verminderte sie. Raichle:
"Es gab aber überhaupt keine Erklärung für dieses ungewöhnliche Phänomen, also begann ich es genauer zu studieren. Wir gaben dieser Mittellinien-Region damals zunächst einen Scherznamen: Wir nannten sie die 'Mysteriöse Region im mittleren Scheitellappen'. Denn sie verminderte über verschiedenste Aufgaben hinweg immer wieder ihre Aktivität."
1997 präsentierte Raichles Labor der Fachwelt neun Studien mit 137 Versuchspersonen, die alle die ersten Ergebnisse bestätigten.
"Die Reaktion der wissenschaftlichen Gemeinschaft aber klang so: 'Na ja, das passiert nur deshalb, weil Du die Leute nur einfach so in den Scanner gelegt und nicht kontrolliert hast, was sie wirklich tun. Es hat damit überhaupt nichts Besonderes auf sich. Es ist einfach nur zwanglose Kognition, sonst nichts.' Diese Reaktionen haben mich wirklich geärgert, vor allem als das Ganze auf die Spitze getrieben wurde und ein zentrales Papier von uns mit dieser Begründung nicht veröffentlicht wurde."
Ende der 90er-Jahre interessierten sich nur wenige Forscher für den Ruhezustand. Ihnen wurde damals schon das gleiche Argument entgegengehalten, das ihnen auch heute noch zu schaffen macht: "Ihr wisst ja überhaupt nicht, was die Menschen im Ruhezustand wirklich tun! Denn wenn ihr sie fragt, was sie tun, stört Ihr ja gerade ihre Ruhe. Also solltet ihr lieber die Finger davon lassen."
Der wahre, tiefe Friede des Herzens und die vollkommene Gemütsruhe sind allein in der Einsamkeit zu finden.
[Arthur Schopenhauer]
Entzieht sich die Ruhe nicht letztlich aller wissenschaftlichen Forschung, weil diese immer in sie eingreifen muss? Tatsächlich ein schwerwiegender Einwand. Trotzdem ist die Zahl der Forschungsarbeiten über den Ruhezustand des Gehirns in den letzten drei bis vier Jahren geradezu explodiert. Und selbst die Kritiker nehmen das Thema inzwischen ernst. Das hat verschiedene Ursachen. Zunächst fanden auch andere Forscher Marcus Raichles mysteriöses Netzwerk an der Mittellinie des Gehirns. Und zwar nicht nur mit Hilfe der Positronenemissions-Tomographie, sondern auch mit einem anderen bildgebenden Verfahren, der Magnetresonanztomographie. Unter dem Namen "Default Mode Network of the Brain" ist es bis heute die prominenteste Hirnruhezustandsregion geblieben. Übersetzen kann man das in etwa mit "Leerlauf-Netzwerk des Gehirns". Und man fand weitere Regionen. Kürzlich behauptete ein Forscherteam sogar, es habe 42 solcher Regionen entdeckt. Doch Marcus Raichle warnt vor Übertreibungen:
"Ich wäre überrascht, wenn es zwanzig solcher Ruhesysteme gäbe. Ich glaube eher, dass es ungefähr zehn große Systeme sind. Innerhalb dieser Systeme aber gibt es dann wieder sehr viele Subsysteme. Sie unterscheiden sich voneinander durch einen bestimmten Zeittakt ihrer Aktivitäten. Das Default Mode Network zeichnet sich durch einen engen zeitlichen Zusammenhang aus, in dem seine einzelnen Zellen aktiv werden. Und Sie können durch das Gehirn hindurch gehen und mit Hilfe solcher zeitlichen Korrelationen noch einige andere große Systeme finden und definieren."
Neben dem Default-Netzwerk fand man zum Beispiel auch Ruheareale, die – wenn sie nicht ruhen - Bewegungen steuern. Oder für Wahrnehmung und Aufmerksamkeit zuständig sind. Allein schon die Tatsache, dass man verschiedene solcher Ruhenetzwerke identifizieren konnte, gab diesem Forschungszweig in den letzten Jahren Aufschwung.
Liegen Sie ruhig da, schauen Sie auf den Fixationspunkt vor Ihnen und bleiben Sie wach. Nach einiger Zeit werden Sie auf dem Monitor vor sich eine Wolke winzig kleiner Punkte sehen. Es wird ein bisschen aussehen wie ein in der Luft stehender Bienenschwarm. Beurteilen Sie dann, ob sich diese Punktwolke nach oben bewegt.
Ein Experiment im Neuro-Spin-Labor im Forschungszentrum CEA in Paris. Konzipiert hat es der Experimentalpsychologe Guido Hesselmann, der heute am Weizmann Institute of Science in Tel Aviv arbeitet. Er wollte herausfinden, unter welchen Bedingungen ein so genanntes "globales Perzept" entsteht, also die Wahrnehmung eines zusammenhängenden Ganzen.
"Wenn Sie so eine Punktewolke herstellen mit vielen kleinen Punkten, die sich irgendwie bewegen, und jetzt programmieren Sie das Experiment so, dass einzelne Punkte nach oben sich bewegen, dann gibt es ein Areal, was diese Einzelinformationen integriert zu einem globalen Perzept, dass Sie also sagen können: 'Ja, ich sehe eine Bewegung nach oben.'"
Guido Hesselmann stellte das Hirnareal, das aus Einzelbewegungen ein Ganzes konstruiert, unter Beobachtung, und registrierte, wie aktiv es im Ruhezustand war, also bevor die Versuchspersonen die Punktewolke überhaupt zu Gesicht bekamen.
"Wichtig ist, dass, bevor der Stimulus dargeboten wird oder die Reizverarbeitung stattfindet, dass wir da auch eine höhere Aktivierung in diesem Areal sehen, wenn Sie später berichten, dass Sie wirklich eine Bewegung der Punkte nach oben gesehen haben."
Menschen nehmen eine zusammenhängende Bewegung offenbar umso leichter wahr, je aktiver das zuständige Areal bereits im entspannten Zustand ist - ein Beleg für Marcus Raichles Idee, dass Ruhezustände im Gehirn ein modellhaftes Wissen von der Welt bereitstellen und auf zukünftige Ereignisse vorbereiten. Dazu passt, dass das Gehirn in Ruhe den weitaus größten Teil der Energie verbraucht, die ihm insgesamt zur Verfügung steht. Werden Nervenzellen aktiviert, um Aufgaben zu lösen, steigt der Energieverbrauch im Vergleich dazu nur unmaßgeblich an - oft um weniger als fünf Prozent des Grundverbrauchs. Raichle:
"Ein Neuro-Ökonom würde sagen: das Geld steckt in der internen Hirnaktivität!"
Die größten Ereignisse, das sind nicht unsere lautesten, sondern unsere stillsten Stunden.
[Friedrich Nietzsche]
Inzwischen scheint klar: Das Ruhenetzwerk erfüllt eine enorm wichtige Funktion. Doch erschöpft sie sich tatsächlich schon in Voraussagen und Prognosen?
"A - L-K- M-R. Lernen Sie diese Buchstabenfolge auswendig und sagen Sie sie dann vorwärts oder rückwärts auf." Mit solchen Anweisungen nervte Malia F. Mason vom Dartmouth College in Hanover neunzehn Versuchspersonen. Drei Tage lang mussten sie die gleichen Prozeduren wiederholen, bis Langeweile aufkam. Mason befragte die Versuchspersonen währenddessen, was ihnen dabei sonst noch so durch das Gehirn schoss und scannte ihre Hirnaktivität. Das Resultat: Je besser die Versuchspersonen die Aufgabe beherrschten, desto häufiger verfielen sie parallel dazu ins Tagträumen: Ihr Geist wanderte immer wieder assoziativ hin und her. Gleichzeitig stieg dabei die Aktivität ihres Default Netzwerks an.
Auch andere Forschergruppen konnten zeigen, das sich die Aktivität des Default-Netzwerks beim Tagträumen erhöht. Zum Default-Netzwerk gehören auch Hirnregionen, die mit dem Selbstbezug, dem autobiografischen Erinnern und dem Ausmalen fiktiver Szenen zu tun haben. Manche Wissenschaftler glauben daher: dieses Netzwerk sorgt im entspannten Zustand automatisch dafür, dass wir unser Ich durchstreifen. Wir wandern in unsere Vergangenheit und unsere Zukunft und spielen dabei zwanglos unser Leben durch. Marcus Raichle:
"Diese Idee ist ein bisschen nebulös und schwer zu beweisen. Aber ich muss zugeben: Je mehr sich die Forschung in diese Richtung bewegt, desto weniger kann man sich vor der Aussage drücken, dass da etwas dran sein könnte."
Wenn Marcus Raichle auf die Idee vom Ichbezug im Ruhezustand angesprochen wird, windet er sich etwas. Vor allem ein Faktum bringt ihn dazu, im ichbezogenen Tagträumen nicht die wesentliche Aufgabe des Ruhenetzwerks zu sehen: Das Default-Netzwerk ist auch in Zuständen stark aktiv, die ohne Bewusstsein ablaufen, etwa während des Schlafs oder einer Anästhesie. Und das nicht nur bei Menschen, sondern auch bei Affen und Ratten, deren Selbstbewusstsein kaum so stark entwickelt ist wie das des Menschen. Es muss nach Marcus Raichle also eine elementare Funktion des Ruhezustands, vor allem des Tagträumens, geben, das ja zumindest halbbewusst abläuft. Eben die Funktion, ein Wissen von der Welt zu organisieren, mit dem sich Vorhersagen treffen lassen.
Nur in einem ruhigen Teich spiegelt sich das Licht der Sterne.
[Chinesisches Sprichwort]
Der Lärm eines Hirnscanners, mit dem das Nervengewebe von Komapatienten durchforstet wird. Mit Hilfe solcher Untersuchungen versucht der Neurowissenschaftler Steven Laureys von der Universität Lüttich die verschiedenen Interpretationen des Default-Networks miteinander zu versöhnen.
"Wir haben über Hirnscans herausgefunden, dass die Tiefe eines Komazustands direkt damit zusammenhängt, wie stark das Default-Netzwerk geschädigt ist. Bei völlig hirntoten Menschen finden wir überhaupt keine Aktivität im Default Netzwerk. Im Komazustand dagegen zeigt sich dort schon eine gewisse Aktivität, die aber noch nicht für einen bewussten Geist steht. Sie weist nur darauf hin, dass das Gehirn noch arbeitet und einige Netzwerkverbindungen in Takt sind. Ich glaube aber, dass dann auf der nächsthöheren Ebene die bewusste geistige Tätigkeit beginnt, die bei Menschen im Koma fehlt."
Die nicht bewussten Ebenen des Default-Netzwerks könnten dafür verantwortlich sein, dass überhaupt ein elementares Modell der Welt konstruiert werden kann. Die höhere Ebene dagegen bringt Steven Laureys mit dem selbstbezogenen Tagträumen in Verbindung.
In Lüttich liegen Versuchspersonen in der Dunkelheit eines Hirnscanners. Sie haben nichts zu tun. Ab und zu sendet Steven Laureys Team blitzschnell schwache Laserblitze in die Dunkelheit. Hinterher werden die Versuchspersonen gefragt: Haben Sie etwas gesehen? Und wie oft? War ihr Default-Netzwerk schwach aktiv, dann registrierten die Probanden nahezu jeden Blitz. War es dagegen hoch aktiviert, dann nahmen sie die Blitze kaum wahr. Könnte es sein, dass die Versuchspersonen in diesem Moment völlig mit sich selbst beschäftigt waren und vor sich hin träumten? Für Laureys spricht vieles dafür.
Strebe nach Ruhe, aber durch das Gleichgewicht, nicht durch den Stillstand deiner Tätigkeit.
[Friedrich von Schiller]
Der Neuropsychiater Kai Vogeley von der Universität Köln geht noch einen Schritt weiter. Seine These lautet: Der Mensch ist ein soziales Wesen, also denkt er im Ruhezustand immer auch über seine Beziehungen zu anderen Menschen nach. Anhand der sogenannten joint attention, der geteilten Aufmerksamkeit, hat ein Team um Kai Vogeley diese These überprüft:
"Mit joint attention ist gemeint die Fähigkeit, die Aufmerksamkeit einer anderen Person auf ein Drittes, ein Objekt zu richten. Wenn ich zum Beispiel eine andere Person anschaue, schaue dann an die Decke des Raums, in dem wir uns gerade befinden, schaue die Person wieder an, schaue an die Decke des Raums, dann wird die Person auch an die Decke des Raums vermutlich schauen. Und so habe ich auf diesem Weg nonverbal, gewissermaßen durch mein Blickverhalten, die Aufmerksamkeit einer anderen Person manipuliert."
Die Fähigkeit, geteilte Aufmerksamkeit herzustellen, entwickeln Kinder schon ab dem neunten Lebensmonat. Sie gehört damit zu den allerersten, fundamentalen Fertigkeiten, mit denen der Mensch sich die soziale Welt erschließt. Mit ihrer Hilfe lassen sich bereits vorsprachlich eigene Absichten und Interessen mit denen anderer Personen verbinden, etwa nach dem Motto: " Schau, da ist etwas, mit dem ich mich mit dir zusammen beschäftigen will". Kai Vogeleys Team setzte Versuchspersonen in einen Magnetresonanztomographen und spielte ihnen auf einem Monitor computergenerierte Szenen vor. Darin tauchten künstliche Figuren auf, die mit Hilfe eines Blickanalysesystems direkt auf die Versuchspersonen reagierten.
"Da waren dann so virtuelle Charaktere abgebildet, die abhängig von dem Blickverhalten der Person im MRT-Scanner auch ihr Blickverhalten nach dem Blickverhalten der Person verändert haben und so tatsächlich dann zu einem sehr hohen Grad das Erleben gemeinsamer Aufmerksamkeit erzeugen konnten."
Sobald die Versuchspersonen und die virtuellen Figuren auf den gleichen Gegenstand schauten, wurden im Gehirn der Probanden bestimmte Regionen aktiv: zum Beispiel in der Mitte des Stirnhirns oder in der etwas weiter hinten gelegenen "Inselrinde". Vogeley:
"Und dabei handelt es sich tatsächlich um Regionen, die eine starke Überlappung mit dem sogenannten Default Mode auch aufweisen. Daraus lässt sich dann – noch spekulativ natürlich, aber empirisch nicht unberechtigt – schließen, dass in diesem Hirnruhezustand eine Disposition zu sozialer Kognition abgebildet ist."
Ruhe ist die Bedingung der Kultur.
[Friedrich von Schiller]
Vogeley:
"Also, man könnte so etwas wie eine intuitive Stufe der sozialen Kognition unterscheiden von einer eher reflexiven Stufe. Also mit intuitiv ist dann gemeint: nonverbale Kommunikation, andere Personen anschauen, andere Personen anlächeln, der klassische Augengruß, also das bloße Hochziehen der Augenbraue gegenüber anderen Personen bedeutet dieser Person schon ein Interesse."
Es spricht vieles dafür, dass Ruhenetzwerke im Gehirn unterschiedliche Funktionen erfüllen. Es könnte – wie Marcus Raichle meint - um modellhaftes Wissen darüber gehen, wie die Welt aufgebaut und was in ihr zu erwarten ist. Oder darum, Erfahrungen des eigenen Selbst oder der Beziehungen zu anderen Personen durchzuspielen und neue Perspektiven auszuprobieren. In den Ruhezuständen des Gehirns offenbaren sich möglicherweise verschiedene Grundbefindlichkeiten des Geistes. Das bringt immer mehr Forschergruppen dazu, nach praktischen Anwendungen zu suchen.
"Es bringt einen ganz neuen Aspekt in die Beurteilung des Gehirns eines solchen Patienten mit ein: man würde eben einen Netzwerkaspekt mitberücksichtigen können, nicht nur einen regionalen Aspekt, sondern eben die Interaktion zwischen auseinander liegenden Regionen, was mit Sicherheit der Essenz dieses Organs sehr viel näher kommt, als wenn ich ein Scheibchen mir nur anschaue."
Christian Sorg ist Psychiater am Klinikum rechts der Isar der Technischen Universität München. Bisher untersuchen Ärzte Hirnerkrankungen im Scanner meist, indem sie auf bestimmte, eng begrenzte Regionen schauen. Sie stellen dann fest , ob dort Nervenzellen abgestorben sind oder die Durchblutung unterbrochen ist. Eine Ruhezustandsdiagnose könnte das Blickfeld erweitern.
Die Ruhesysteme im Gehirn sind durch die synchrone Aktivität ihrer Nervenzellen definiert. Diese senden normalerweise in einem langsamen, geordneten Takt ihre Signale aus, manchmal über mehrere Zentimeter hinweg. Mediziner können daher prüfen, inwieweit diese Ruhesysteme gestört sind: Sind die Systeme im wahrsten Sinne des Wortes noch "intakt"? Ist ihr Signalaustausch zerrissen? Oder überlagern sich vielleicht sogar verschiedene Systeme und vernetzen sich anomal - zum Beispiel bei chronischen Schmerzen?
"Leute werden über einen Viertelstunde mit verschieden starken Reizen behandelt, entweder leicht warm oder schmerzhaft. Und das ging über 15 Minuten und danach mussten die Patienten berichten, wie stark war jetzt dieses Gesamterlebnis."
Valentin Riedl, ein Kollege Christian Sorgs, verabreichte in München Versuchspersonen elf Tage lang regelmäßig leicht schmerzende Hitzereize. Ihn interessierte, ob sich das zuständige sensorische Areal dabei veränderte hatte. Tatsächlich synchronisierte es auf Grund der wiederholten Schmerzreize seine Tätigkeit im Ruhezustand. Und war damit stärker für die Wahrnehmung von Schmerzen disponiert. Valentin Riedl entdeckte aber noch mehr:
"Wir finden eine zusätzliche Region, die neu in dieses Netzwerk integriert wurde und das ist eine Region des präfrontalen Cortex. Diese Region findet sich in der Mittellinie direkt hinter der Stirn. Und diese Region ist bekannt für die Modulation von Wahrnehmungen. Und was wir gefunden haben, ist, dass der Schmerzreiz, den der Proband am letzten Tag berichten wird nach der Schmerzreizung, sich in dieser präfrontalen Region schon darstellt vor dem Schmerzreiz und erst nach dem Schmerz in dem sensorischen Areal."
Für Valentin Riedl hieß das: Stetiger Schmerz führt zu einer immer enger werdenden Ruhe-Vernetzung zweier Hirnsysteme. Das eine beeinflusst die Art und Weise, wie Schmerzen wahrgenommen werden, und sagt sie gewohnheitsmäßig voraus. Das andere registriert den Schmerz tatsächlich. Die Integration der beiden Systeme könnte verständlich machen, warum chronische Schmerzpatienten gerade auch in Ruhesituationen leiden. Ihr Gehirn erwartet sozusagen innerlich immer schon einen Schmerzreiz, auch wenn dafür aktuell gar kein Anlass besteht.
Menschen mit posttraumatischer Belastungsstörung werden immer wieder von so genannten flashbacks heimgesucht, von plötzlich hereinbrechenden Erinnerungen an die Situation, die ihr Trauma verursachte: einen Unfall, einen Überfall, eine Vergewaltigung. Auch hier vermutete die Psychiaterin Ruth Lanius von der University of Western Ontario in Kanada einen Zusammenhang mit den Ruhenetzwerken des Gehirns.
"Patienten, die schon in früher Kindheit traumatisiert wurden, berichten häufig, dass sie sich auch unter Entspannung als ein zerbrochenes Selbst erleben. Viele sind zudem ständig übererregt und gereizt."
Ruth Lanius untersuchte 18 Frauen. Im Scanner entdeckte sie, dass bei ihnen die Kommunikation zwischen bestimmten Hirnarealen im Ruhezustand stark eingeschränkt war.
"Bei den früh traumatisierten Patientinnen war das Default-Netzwerk massiv gestört. Es kommunizierte sozusagen nur noch mit sich selbst, aber nicht mehr mit anderen wichtigen Hirnarealen. Unsere Hypothese ist, dass diese Störung mit dem zerbrochenen Selbst der Patienten zu tun hat."
In einer weiteren Studie belegte Ruth Lanius auch einen prognostischen Wert solcher Studien über den Ruhezustand. Sie konnte aus dem Grad der Koppelung mehrerer Areale bis zu sechs Wochen vorhersagen, wie stark sich bei den Betroffenen die Symptome entwickeln würden.
Über den Wassern deiner Seele schwebt unaufhörlich ein dunkler Vogel: Unruhe.
[Christian Morgenstern]
Depression, Schizophrenie, Demenz oder Alzheimer – mittlerweile gibt es eine Fülle von Studien, die einen Zusammenhang zwischen körperlichen und psychischen Leiden und Ruhenetzwerken nahelegen. Auch sie tragen dazu bei, dass sich die Erforschung des Ruhezustands innerhalb der Neurowissenschaften immer mehr etabliert. Allerdings gibt es immer noch Vorbehalte, die sich an Ungereimtheiten entzünden. So verhalten sich nicht alle Ruhenetzwerke genau so wie das Default-Netzwerk. Viele vermindern ihre Aktivität zum Beispiel nicht , wenn jemand sich einer bestimmten Aufgabe zuwendet. Einige Studien legen inzwischen sogar nahe, dass auch manche Bestandteile des Default-Netzwerks selbst ihre Aktivität bei bestimmten Aufgaben erhöhen. Es könnte also sein, dass die Hirnruhezustände noch viel differenzierter betrachtet werden müssen, als das bisher geschah.
Marcus Raichle sieht darin aber kein ernsthaftes Problem, sondern eine Aufgabe für die Zukunft. Und diese solle man sich keineswegs so vorstellen, dass das ruhende Gehirn in der Forschung das aktive Gehirn irgendwann einmal ersetzt.
"Nein, absolut nicht! Beide Perspektiven gehören zusammen. Nur wir müssen das endlich auch angemessen berücksichtigen. Wir haben die innere Ruheaktivität viel zu lange vernachlässigt, aber heute wissen wir, wie unendlich wichtig sie ist. Das ist der entscheidende Punkt!"
"Weiterführende Links:"
Kartographen der Seele, Wissenschaft im Brennpunkt, 02.08.09
Erinnerungen an die Zukunft, Wissenschaft im Brennpunkt, 25.01.09
Neuronen und Nirwana. Teil 1: Wie das Gehirn die Welt bewältigt, Wissenschaft im Brennpunkt 26.12.08
Neuronen und Nirwana. Teil 2: Wie das Gehirn die Welt überwindet, Wissenschaft im Brennpunkt, 28.12.08
In der Ruhe liegt die Kraft.
"To me the brain is on."
Was bedeutet es, dass sich in entspannten Situationen im Gehirn Aktivität messen lässt? Diese Frage bewegt die Neurowissenschaftler in den letzten Jahren immer heftiger, bisweilen sorgt sie sogar für Streit. Nicht wenige Forscher bezweifeln, dass diesem Befund größere Bedeutung zukommt. Andere hingegen sind sich sicher, dass er der Hirnforschung eine neue Richtung gibt und ihren bisherigen Blickwinkel maßgeblich erweitert.
Ein Mensch geht die Straße entlang: Schallwellen und Lichtimpulse erreichen ihn, treffen auf seine Sinnesorgane, auf Augen, Ohren, Nase, wandern tiefer, erregen Nervenzellen. Nervennetze werden aktiv. Der Mensch riecht, hört Stimmen, Geräusche, sieht Farben, Bewegungen.
"Das Gehirn empfängt Reize oder muss eine Aufgabe lösen und antwortet mit einem bestimmten Verhalten. Wenn man das Gehirn dabei beobachtet, wirkt es wie ein reflexives Organ. Hauptsächlich nach diesem Muster werden die Funktionen des Gehirns erforscht."
Bisher jedenfalls, meint Marcus Raichle von der Washington University School of Medicine in St Louis.
"Es hat sich auch die Auffassung gehalten, dass es noch etwas anderes gibt. Dass das Gehirn nämlich innerlich auch vorwegnimmt, was es tun wird. Es häuft Wissen an und organisiert dieses Wissen, um zukünftige Handlungen und Ereignisse vorzubereiten. Ich bin davon überzeugt, dass diese innere Tätigkeit des Gehirns ein Modell der Welt beinhaltet."
Wenn aber alle unsere Erkenntnis mit der Erfahrung anhebt, so entspringt sie darum doch nicht eben alle aus der Erfahrung. Denn es könnte wohl sein, dass selbst unsere Erfahrungserkenntnis ein Zusammengesetztes aus dem sei, was wir durch die Eindrücke empfangen, und dem, was unser eigenes Erkenntnisvermögen aus sich selbst hergibt.
[Immanuel Kant]
Ruhe wirkt Ordnung
[Laotse]
Ist im ruhenden Gehirn eine ganze Welt verborgen? Früher hat Marcus Raichle wichtige Pionierarbeiten zu den bildgebende Techniken der Hirnforschung veröffentlicht. Jetzt, zum Ende seiner Karriere hin, ist er zum Pionier der Erforschung des ruhenden Gehirns geworden. Zwar gab es schon einige Vordenker, aber erst mit ihm begann das Thema wirklich brisant zu werden.
"Es begann mit ganz gewöhnlichen Studien, bei denen wir mit Hilfe der so genannten Positronenemissionstomographie das Gehirn scannten. Wir präsentierten den Versuchspersonen eine Aufgabe, das Gehirn erhöhte seine Aktivität und wir versuchten herauszubekommen, welche Hirnregionen an der Aufgabe beteiligt waren."
Man darf nicht glauben, dass das Gemüt sofort ruhig sei, wenn der Körper liegt. Bisweilen ist die Ruhe unruhig.
[Seneca]
Eher per Zufall machte Raichle eine seltsame Entdeckung. Wenn die Versuchspersonen bei seinen Experimenten einfach nur ruhig mit offenen oder geschlossenen Augen im Scanner lagen, leuchtete eine Hirnregion auf, die bisher kaum aufgefallen war. Sie zog sich an der Mittellinie des Gehirns entlang. In dem Augenblick, als die Versuchspersonen begannen, eine Aufgabe zu lösen, erhöhte diese Region nicht ihre Aktivität, sondern verminderte sie. Raichle:
"Es gab aber überhaupt keine Erklärung für dieses ungewöhnliche Phänomen, also begann ich es genauer zu studieren. Wir gaben dieser Mittellinien-Region damals zunächst einen Scherznamen: Wir nannten sie die 'Mysteriöse Region im mittleren Scheitellappen'. Denn sie verminderte über verschiedenste Aufgaben hinweg immer wieder ihre Aktivität."
1997 präsentierte Raichles Labor der Fachwelt neun Studien mit 137 Versuchspersonen, die alle die ersten Ergebnisse bestätigten.
"Die Reaktion der wissenschaftlichen Gemeinschaft aber klang so: 'Na ja, das passiert nur deshalb, weil Du die Leute nur einfach so in den Scanner gelegt und nicht kontrolliert hast, was sie wirklich tun. Es hat damit überhaupt nichts Besonderes auf sich. Es ist einfach nur zwanglose Kognition, sonst nichts.' Diese Reaktionen haben mich wirklich geärgert, vor allem als das Ganze auf die Spitze getrieben wurde und ein zentrales Papier von uns mit dieser Begründung nicht veröffentlicht wurde."
Ende der 90er-Jahre interessierten sich nur wenige Forscher für den Ruhezustand. Ihnen wurde damals schon das gleiche Argument entgegengehalten, das ihnen auch heute noch zu schaffen macht: "Ihr wisst ja überhaupt nicht, was die Menschen im Ruhezustand wirklich tun! Denn wenn ihr sie fragt, was sie tun, stört Ihr ja gerade ihre Ruhe. Also solltet ihr lieber die Finger davon lassen."
Der wahre, tiefe Friede des Herzens und die vollkommene Gemütsruhe sind allein in der Einsamkeit zu finden.
[Arthur Schopenhauer]
Entzieht sich die Ruhe nicht letztlich aller wissenschaftlichen Forschung, weil diese immer in sie eingreifen muss? Tatsächlich ein schwerwiegender Einwand. Trotzdem ist die Zahl der Forschungsarbeiten über den Ruhezustand des Gehirns in den letzten drei bis vier Jahren geradezu explodiert. Und selbst die Kritiker nehmen das Thema inzwischen ernst. Das hat verschiedene Ursachen. Zunächst fanden auch andere Forscher Marcus Raichles mysteriöses Netzwerk an der Mittellinie des Gehirns. Und zwar nicht nur mit Hilfe der Positronenemissions-Tomographie, sondern auch mit einem anderen bildgebenden Verfahren, der Magnetresonanztomographie. Unter dem Namen "Default Mode Network of the Brain" ist es bis heute die prominenteste Hirnruhezustandsregion geblieben. Übersetzen kann man das in etwa mit "Leerlauf-Netzwerk des Gehirns". Und man fand weitere Regionen. Kürzlich behauptete ein Forscherteam sogar, es habe 42 solcher Regionen entdeckt. Doch Marcus Raichle warnt vor Übertreibungen:
"Ich wäre überrascht, wenn es zwanzig solcher Ruhesysteme gäbe. Ich glaube eher, dass es ungefähr zehn große Systeme sind. Innerhalb dieser Systeme aber gibt es dann wieder sehr viele Subsysteme. Sie unterscheiden sich voneinander durch einen bestimmten Zeittakt ihrer Aktivitäten. Das Default Mode Network zeichnet sich durch einen engen zeitlichen Zusammenhang aus, in dem seine einzelnen Zellen aktiv werden. Und Sie können durch das Gehirn hindurch gehen und mit Hilfe solcher zeitlichen Korrelationen noch einige andere große Systeme finden und definieren."
Neben dem Default-Netzwerk fand man zum Beispiel auch Ruheareale, die – wenn sie nicht ruhen - Bewegungen steuern. Oder für Wahrnehmung und Aufmerksamkeit zuständig sind. Allein schon die Tatsache, dass man verschiedene solcher Ruhenetzwerke identifizieren konnte, gab diesem Forschungszweig in den letzten Jahren Aufschwung.
Liegen Sie ruhig da, schauen Sie auf den Fixationspunkt vor Ihnen und bleiben Sie wach. Nach einiger Zeit werden Sie auf dem Monitor vor sich eine Wolke winzig kleiner Punkte sehen. Es wird ein bisschen aussehen wie ein in der Luft stehender Bienenschwarm. Beurteilen Sie dann, ob sich diese Punktwolke nach oben bewegt.
Ein Experiment im Neuro-Spin-Labor im Forschungszentrum CEA in Paris. Konzipiert hat es der Experimentalpsychologe Guido Hesselmann, der heute am Weizmann Institute of Science in Tel Aviv arbeitet. Er wollte herausfinden, unter welchen Bedingungen ein so genanntes "globales Perzept" entsteht, also die Wahrnehmung eines zusammenhängenden Ganzen.
"Wenn Sie so eine Punktewolke herstellen mit vielen kleinen Punkten, die sich irgendwie bewegen, und jetzt programmieren Sie das Experiment so, dass einzelne Punkte nach oben sich bewegen, dann gibt es ein Areal, was diese Einzelinformationen integriert zu einem globalen Perzept, dass Sie also sagen können: 'Ja, ich sehe eine Bewegung nach oben.'"
Guido Hesselmann stellte das Hirnareal, das aus Einzelbewegungen ein Ganzes konstruiert, unter Beobachtung, und registrierte, wie aktiv es im Ruhezustand war, also bevor die Versuchspersonen die Punktewolke überhaupt zu Gesicht bekamen.
"Wichtig ist, dass, bevor der Stimulus dargeboten wird oder die Reizverarbeitung stattfindet, dass wir da auch eine höhere Aktivierung in diesem Areal sehen, wenn Sie später berichten, dass Sie wirklich eine Bewegung der Punkte nach oben gesehen haben."
Menschen nehmen eine zusammenhängende Bewegung offenbar umso leichter wahr, je aktiver das zuständige Areal bereits im entspannten Zustand ist - ein Beleg für Marcus Raichles Idee, dass Ruhezustände im Gehirn ein modellhaftes Wissen von der Welt bereitstellen und auf zukünftige Ereignisse vorbereiten. Dazu passt, dass das Gehirn in Ruhe den weitaus größten Teil der Energie verbraucht, die ihm insgesamt zur Verfügung steht. Werden Nervenzellen aktiviert, um Aufgaben zu lösen, steigt der Energieverbrauch im Vergleich dazu nur unmaßgeblich an - oft um weniger als fünf Prozent des Grundverbrauchs. Raichle:
"Ein Neuro-Ökonom würde sagen: das Geld steckt in der internen Hirnaktivität!"
Die größten Ereignisse, das sind nicht unsere lautesten, sondern unsere stillsten Stunden.
[Friedrich Nietzsche]
Inzwischen scheint klar: Das Ruhenetzwerk erfüllt eine enorm wichtige Funktion. Doch erschöpft sie sich tatsächlich schon in Voraussagen und Prognosen?
"A - L-K- M-R. Lernen Sie diese Buchstabenfolge auswendig und sagen Sie sie dann vorwärts oder rückwärts auf." Mit solchen Anweisungen nervte Malia F. Mason vom Dartmouth College in Hanover neunzehn Versuchspersonen. Drei Tage lang mussten sie die gleichen Prozeduren wiederholen, bis Langeweile aufkam. Mason befragte die Versuchspersonen währenddessen, was ihnen dabei sonst noch so durch das Gehirn schoss und scannte ihre Hirnaktivität. Das Resultat: Je besser die Versuchspersonen die Aufgabe beherrschten, desto häufiger verfielen sie parallel dazu ins Tagträumen: Ihr Geist wanderte immer wieder assoziativ hin und her. Gleichzeitig stieg dabei die Aktivität ihres Default Netzwerks an.
Auch andere Forschergruppen konnten zeigen, das sich die Aktivität des Default-Netzwerks beim Tagträumen erhöht. Zum Default-Netzwerk gehören auch Hirnregionen, die mit dem Selbstbezug, dem autobiografischen Erinnern und dem Ausmalen fiktiver Szenen zu tun haben. Manche Wissenschaftler glauben daher: dieses Netzwerk sorgt im entspannten Zustand automatisch dafür, dass wir unser Ich durchstreifen. Wir wandern in unsere Vergangenheit und unsere Zukunft und spielen dabei zwanglos unser Leben durch. Marcus Raichle:
"Diese Idee ist ein bisschen nebulös und schwer zu beweisen. Aber ich muss zugeben: Je mehr sich die Forschung in diese Richtung bewegt, desto weniger kann man sich vor der Aussage drücken, dass da etwas dran sein könnte."
Wenn Marcus Raichle auf die Idee vom Ichbezug im Ruhezustand angesprochen wird, windet er sich etwas. Vor allem ein Faktum bringt ihn dazu, im ichbezogenen Tagträumen nicht die wesentliche Aufgabe des Ruhenetzwerks zu sehen: Das Default-Netzwerk ist auch in Zuständen stark aktiv, die ohne Bewusstsein ablaufen, etwa während des Schlafs oder einer Anästhesie. Und das nicht nur bei Menschen, sondern auch bei Affen und Ratten, deren Selbstbewusstsein kaum so stark entwickelt ist wie das des Menschen. Es muss nach Marcus Raichle also eine elementare Funktion des Ruhezustands, vor allem des Tagträumens, geben, das ja zumindest halbbewusst abläuft. Eben die Funktion, ein Wissen von der Welt zu organisieren, mit dem sich Vorhersagen treffen lassen.
Nur in einem ruhigen Teich spiegelt sich das Licht der Sterne.
[Chinesisches Sprichwort]
Der Lärm eines Hirnscanners, mit dem das Nervengewebe von Komapatienten durchforstet wird. Mit Hilfe solcher Untersuchungen versucht der Neurowissenschaftler Steven Laureys von der Universität Lüttich die verschiedenen Interpretationen des Default-Networks miteinander zu versöhnen.
"Wir haben über Hirnscans herausgefunden, dass die Tiefe eines Komazustands direkt damit zusammenhängt, wie stark das Default-Netzwerk geschädigt ist. Bei völlig hirntoten Menschen finden wir überhaupt keine Aktivität im Default Netzwerk. Im Komazustand dagegen zeigt sich dort schon eine gewisse Aktivität, die aber noch nicht für einen bewussten Geist steht. Sie weist nur darauf hin, dass das Gehirn noch arbeitet und einige Netzwerkverbindungen in Takt sind. Ich glaube aber, dass dann auf der nächsthöheren Ebene die bewusste geistige Tätigkeit beginnt, die bei Menschen im Koma fehlt."
Die nicht bewussten Ebenen des Default-Netzwerks könnten dafür verantwortlich sein, dass überhaupt ein elementares Modell der Welt konstruiert werden kann. Die höhere Ebene dagegen bringt Steven Laureys mit dem selbstbezogenen Tagträumen in Verbindung.
In Lüttich liegen Versuchspersonen in der Dunkelheit eines Hirnscanners. Sie haben nichts zu tun. Ab und zu sendet Steven Laureys Team blitzschnell schwache Laserblitze in die Dunkelheit. Hinterher werden die Versuchspersonen gefragt: Haben Sie etwas gesehen? Und wie oft? War ihr Default-Netzwerk schwach aktiv, dann registrierten die Probanden nahezu jeden Blitz. War es dagegen hoch aktiviert, dann nahmen sie die Blitze kaum wahr. Könnte es sein, dass die Versuchspersonen in diesem Moment völlig mit sich selbst beschäftigt waren und vor sich hin träumten? Für Laureys spricht vieles dafür.
Strebe nach Ruhe, aber durch das Gleichgewicht, nicht durch den Stillstand deiner Tätigkeit.
[Friedrich von Schiller]
Der Neuropsychiater Kai Vogeley von der Universität Köln geht noch einen Schritt weiter. Seine These lautet: Der Mensch ist ein soziales Wesen, also denkt er im Ruhezustand immer auch über seine Beziehungen zu anderen Menschen nach. Anhand der sogenannten joint attention, der geteilten Aufmerksamkeit, hat ein Team um Kai Vogeley diese These überprüft:
"Mit joint attention ist gemeint die Fähigkeit, die Aufmerksamkeit einer anderen Person auf ein Drittes, ein Objekt zu richten. Wenn ich zum Beispiel eine andere Person anschaue, schaue dann an die Decke des Raums, in dem wir uns gerade befinden, schaue die Person wieder an, schaue an die Decke des Raums, dann wird die Person auch an die Decke des Raums vermutlich schauen. Und so habe ich auf diesem Weg nonverbal, gewissermaßen durch mein Blickverhalten, die Aufmerksamkeit einer anderen Person manipuliert."
Die Fähigkeit, geteilte Aufmerksamkeit herzustellen, entwickeln Kinder schon ab dem neunten Lebensmonat. Sie gehört damit zu den allerersten, fundamentalen Fertigkeiten, mit denen der Mensch sich die soziale Welt erschließt. Mit ihrer Hilfe lassen sich bereits vorsprachlich eigene Absichten und Interessen mit denen anderer Personen verbinden, etwa nach dem Motto: " Schau, da ist etwas, mit dem ich mich mit dir zusammen beschäftigen will". Kai Vogeleys Team setzte Versuchspersonen in einen Magnetresonanztomographen und spielte ihnen auf einem Monitor computergenerierte Szenen vor. Darin tauchten künstliche Figuren auf, die mit Hilfe eines Blickanalysesystems direkt auf die Versuchspersonen reagierten.
"Da waren dann so virtuelle Charaktere abgebildet, die abhängig von dem Blickverhalten der Person im MRT-Scanner auch ihr Blickverhalten nach dem Blickverhalten der Person verändert haben und so tatsächlich dann zu einem sehr hohen Grad das Erleben gemeinsamer Aufmerksamkeit erzeugen konnten."
Sobald die Versuchspersonen und die virtuellen Figuren auf den gleichen Gegenstand schauten, wurden im Gehirn der Probanden bestimmte Regionen aktiv: zum Beispiel in der Mitte des Stirnhirns oder in der etwas weiter hinten gelegenen "Inselrinde". Vogeley:
"Und dabei handelt es sich tatsächlich um Regionen, die eine starke Überlappung mit dem sogenannten Default Mode auch aufweisen. Daraus lässt sich dann – noch spekulativ natürlich, aber empirisch nicht unberechtigt – schließen, dass in diesem Hirnruhezustand eine Disposition zu sozialer Kognition abgebildet ist."
Ruhe ist die Bedingung der Kultur.
[Friedrich von Schiller]
Vogeley:
"Also, man könnte so etwas wie eine intuitive Stufe der sozialen Kognition unterscheiden von einer eher reflexiven Stufe. Also mit intuitiv ist dann gemeint: nonverbale Kommunikation, andere Personen anschauen, andere Personen anlächeln, der klassische Augengruß, also das bloße Hochziehen der Augenbraue gegenüber anderen Personen bedeutet dieser Person schon ein Interesse."
Es spricht vieles dafür, dass Ruhenetzwerke im Gehirn unterschiedliche Funktionen erfüllen. Es könnte – wie Marcus Raichle meint - um modellhaftes Wissen darüber gehen, wie die Welt aufgebaut und was in ihr zu erwarten ist. Oder darum, Erfahrungen des eigenen Selbst oder der Beziehungen zu anderen Personen durchzuspielen und neue Perspektiven auszuprobieren. In den Ruhezuständen des Gehirns offenbaren sich möglicherweise verschiedene Grundbefindlichkeiten des Geistes. Das bringt immer mehr Forschergruppen dazu, nach praktischen Anwendungen zu suchen.
"Es bringt einen ganz neuen Aspekt in die Beurteilung des Gehirns eines solchen Patienten mit ein: man würde eben einen Netzwerkaspekt mitberücksichtigen können, nicht nur einen regionalen Aspekt, sondern eben die Interaktion zwischen auseinander liegenden Regionen, was mit Sicherheit der Essenz dieses Organs sehr viel näher kommt, als wenn ich ein Scheibchen mir nur anschaue."
Christian Sorg ist Psychiater am Klinikum rechts der Isar der Technischen Universität München. Bisher untersuchen Ärzte Hirnerkrankungen im Scanner meist, indem sie auf bestimmte, eng begrenzte Regionen schauen. Sie stellen dann fest , ob dort Nervenzellen abgestorben sind oder die Durchblutung unterbrochen ist. Eine Ruhezustandsdiagnose könnte das Blickfeld erweitern.
Die Ruhesysteme im Gehirn sind durch die synchrone Aktivität ihrer Nervenzellen definiert. Diese senden normalerweise in einem langsamen, geordneten Takt ihre Signale aus, manchmal über mehrere Zentimeter hinweg. Mediziner können daher prüfen, inwieweit diese Ruhesysteme gestört sind: Sind die Systeme im wahrsten Sinne des Wortes noch "intakt"? Ist ihr Signalaustausch zerrissen? Oder überlagern sich vielleicht sogar verschiedene Systeme und vernetzen sich anomal - zum Beispiel bei chronischen Schmerzen?
"Leute werden über einen Viertelstunde mit verschieden starken Reizen behandelt, entweder leicht warm oder schmerzhaft. Und das ging über 15 Minuten und danach mussten die Patienten berichten, wie stark war jetzt dieses Gesamterlebnis."
Valentin Riedl, ein Kollege Christian Sorgs, verabreichte in München Versuchspersonen elf Tage lang regelmäßig leicht schmerzende Hitzereize. Ihn interessierte, ob sich das zuständige sensorische Areal dabei veränderte hatte. Tatsächlich synchronisierte es auf Grund der wiederholten Schmerzreize seine Tätigkeit im Ruhezustand. Und war damit stärker für die Wahrnehmung von Schmerzen disponiert. Valentin Riedl entdeckte aber noch mehr:
"Wir finden eine zusätzliche Region, die neu in dieses Netzwerk integriert wurde und das ist eine Region des präfrontalen Cortex. Diese Region findet sich in der Mittellinie direkt hinter der Stirn. Und diese Region ist bekannt für die Modulation von Wahrnehmungen. Und was wir gefunden haben, ist, dass der Schmerzreiz, den der Proband am letzten Tag berichten wird nach der Schmerzreizung, sich in dieser präfrontalen Region schon darstellt vor dem Schmerzreiz und erst nach dem Schmerz in dem sensorischen Areal."
Für Valentin Riedl hieß das: Stetiger Schmerz führt zu einer immer enger werdenden Ruhe-Vernetzung zweier Hirnsysteme. Das eine beeinflusst die Art und Weise, wie Schmerzen wahrgenommen werden, und sagt sie gewohnheitsmäßig voraus. Das andere registriert den Schmerz tatsächlich. Die Integration der beiden Systeme könnte verständlich machen, warum chronische Schmerzpatienten gerade auch in Ruhesituationen leiden. Ihr Gehirn erwartet sozusagen innerlich immer schon einen Schmerzreiz, auch wenn dafür aktuell gar kein Anlass besteht.
Menschen mit posttraumatischer Belastungsstörung werden immer wieder von so genannten flashbacks heimgesucht, von plötzlich hereinbrechenden Erinnerungen an die Situation, die ihr Trauma verursachte: einen Unfall, einen Überfall, eine Vergewaltigung. Auch hier vermutete die Psychiaterin Ruth Lanius von der University of Western Ontario in Kanada einen Zusammenhang mit den Ruhenetzwerken des Gehirns.
"Patienten, die schon in früher Kindheit traumatisiert wurden, berichten häufig, dass sie sich auch unter Entspannung als ein zerbrochenes Selbst erleben. Viele sind zudem ständig übererregt und gereizt."
Ruth Lanius untersuchte 18 Frauen. Im Scanner entdeckte sie, dass bei ihnen die Kommunikation zwischen bestimmten Hirnarealen im Ruhezustand stark eingeschränkt war.
"Bei den früh traumatisierten Patientinnen war das Default-Netzwerk massiv gestört. Es kommunizierte sozusagen nur noch mit sich selbst, aber nicht mehr mit anderen wichtigen Hirnarealen. Unsere Hypothese ist, dass diese Störung mit dem zerbrochenen Selbst der Patienten zu tun hat."
In einer weiteren Studie belegte Ruth Lanius auch einen prognostischen Wert solcher Studien über den Ruhezustand. Sie konnte aus dem Grad der Koppelung mehrerer Areale bis zu sechs Wochen vorhersagen, wie stark sich bei den Betroffenen die Symptome entwickeln würden.
Über den Wassern deiner Seele schwebt unaufhörlich ein dunkler Vogel: Unruhe.
[Christian Morgenstern]
Depression, Schizophrenie, Demenz oder Alzheimer – mittlerweile gibt es eine Fülle von Studien, die einen Zusammenhang zwischen körperlichen und psychischen Leiden und Ruhenetzwerken nahelegen. Auch sie tragen dazu bei, dass sich die Erforschung des Ruhezustands innerhalb der Neurowissenschaften immer mehr etabliert. Allerdings gibt es immer noch Vorbehalte, die sich an Ungereimtheiten entzünden. So verhalten sich nicht alle Ruhenetzwerke genau so wie das Default-Netzwerk. Viele vermindern ihre Aktivität zum Beispiel nicht , wenn jemand sich einer bestimmten Aufgabe zuwendet. Einige Studien legen inzwischen sogar nahe, dass auch manche Bestandteile des Default-Netzwerks selbst ihre Aktivität bei bestimmten Aufgaben erhöhen. Es könnte also sein, dass die Hirnruhezustände noch viel differenzierter betrachtet werden müssen, als das bisher geschah.
Marcus Raichle sieht darin aber kein ernsthaftes Problem, sondern eine Aufgabe für die Zukunft. Und diese solle man sich keineswegs so vorstellen, dass das ruhende Gehirn in der Forschung das aktive Gehirn irgendwann einmal ersetzt.
"Nein, absolut nicht! Beide Perspektiven gehören zusammen. Nur wir müssen das endlich auch angemessen berücksichtigen. Wir haben die innere Ruheaktivität viel zu lange vernachlässigt, aber heute wissen wir, wie unendlich wichtig sie ist. Das ist der entscheidende Punkt!"
"Weiterführende Links:"
Kartographen der Seele, Wissenschaft im Brennpunkt, 02.08.09
Erinnerungen an die Zukunft, Wissenschaft im Brennpunkt, 25.01.09
Neuronen und Nirwana. Teil 1: Wie das Gehirn die Welt bewältigt, Wissenschaft im Brennpunkt 26.12.08
Neuronen und Nirwana. Teil 2: Wie das Gehirn die Welt überwindet, Wissenschaft im Brennpunkt, 28.12.08