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Neudarstellung des Zweiten Weltkrieges

Der US-Autor Nicholson Baker provoziert mit seinem Buch "Human Smoke" die Geschichtswissenschaft. Anhand einer Fülle von Zitaten von Zeitgenossen stellt er die These auf: Winston Churchill, nicht Adolf Hitler, war der Erfinder des massiven Bombenkrieges.

Moderation: Karin Fischer | 16.04.2008
    Karin Fischer: Selten wohl hat ein Buch über den Zweiten Weltkrieg Kritiker so gespalten wie das von Nicholson Baker, "Human Smoke". Ein perverses Traktat sei dieses Buch, ein moralisches Desaster, wichtigtuerisch, schamlos und ungerecht, so lauten die krassesten Verrisse. Vielleicht ist es auch nicht sehr elegant, sich auf Tagebucheintragungen Joseph Goebbels zu berufen, um dadurch Winston Churchill schlecht aussehen zu lassen. Die Geschichtsschreibung jedenfalls hat sich in dieser Hinsicht bekanntermaßen seit Langem festgelegt. Andererseits birgt das Buch auch politischen Zündstoff, nicht nur seine Konstruktion. Denn Baker ist kein Historiker, sondern Schriftsteller. Und er hat in "Human Smoke" ähnlich gearbeitet wie Walter Kempowski für seine "Echolot"-Romane, vieles wird undokumentiert nebeneinander gestellt.

    Frage an Friedrich Mielke, ist dieses Buch eine pazifistische Provokation? Ist es historisch gesehen einfach nur Quatsch? Oder regen sich die Kritiker auch deshalb auf, weil es ein Quäntchen Wahrheit enthält und einige angelsächsische politische Mythen zerstört?

    Friedrich Mielke: Die Kritiker sehen es ja nicht nur negativ, sondern versuchen das ja auch positiv zu werten. Das geschieht auch. Das Spannende ist, dass hier Churchill und auch Roosevelt sozusagen als Kriegstreiber dargestellt werden, besonders als diejenigen, die den Bombenkrieg gegen Zivilisten genährt haben, betrieben haben, angeregt haben. Und da kommen die zwei Hauptthesen dieses Buches: Erstens, Churchill, nicht Hitler, war der Erfinder des massiven Bombenkrieges und zweitens, Hitler habe ständig versucht, Frieden mit England zu erreichen, habe ein positives Englandbild gehabt und hätte erst viel später Coventry und London angegriffen, nachdem die Engländer bereits zigmal Hamburg, Kiel, Pinneberg und andere Städte bombardiert hatten.

    Fischer: Und ist das historisch wahr oder falsch?

    Mielke: Das kann man nur aufgrund der Quellen belegen, die er zitiert. Baker zitiert die unterschiedlichsten Zeitgenossen, unter anderem Neville Chamberlain, natürlich Winston Churchill, Gandhi, Goebbels, Hitler, Victor Klemperer. Da wird Graf Tschanow erwähnt, auch Thomas Mann und Franklin Roosevelt und der deutsche General Ulrich von Hassel und auch noch Charles Lindbergh. Die werden so ständig unsystematisch zitiert, und da kann man wohl nicht widersprechen, wenn also die Royal Air Force im Oktober 1940 eine Pressemitteilung verlautbaren lässt, in der alle deutsche Städte angeführt werden, die im Jahre 1939/1940 von den Engländern angegriffen wurden. Und da muss ich sagen, da war ich auch recht überrascht. Meine Kenntnisse waren wohl die, dass die Deutschen mit dem Angriff auf Coventry sozusagen den Bombenkrieg begonnen hatten. Und hier ist ein Dokument, das genau das Gegenteil belegt.

    Fischer: Beschreiben Sie noch mal die Machart des Buches. Sie haben ja gerade dieses Kompendium von Namen schon erwähnt. Ich habe gelesen, dass Baker 6000 Zeitungsbände aus den 30er und 40er Jahren gekauft hat und alles über die besagten Herren, die Sie schon zitiert haben, gelesen hat.

    Mielke: Ja, das ist schon sehr beeindruckend, zunächst mal sehr viel aus Zeitungen, aus der "New York Times", aber auch viel aus Gesprächsprotokollen und auch aus Briefen und anderen, Tagebücher sind auch ganz wichtig. Es ist kein sozusagen nonfiktionales Sachbuch. Es ist keine Historiografie. Hier werden die Thesen irgendwie nicht aufgestellt und begründet, sondern es ist ein Sammelsurium von Zitaten, eigentlich nur eine Aneinanderreihung von Zitaten. Beeindruckend ist allerdings die Bibliografie, das sind 19 Seiten mit Werken über den Zweiten Weltkrieg, aus denen er dann nicht zitiert. Davon kann man also ausgehen, dass dieser Schriftsteller und Intellektuelle, der ja kein Historiker ist, doch sehr, sehr viel recherchiert hat und diese Zitate, diese Quellen dann auch sehr vernünftig belegt hat. Und da muss man ihm dann wohl glauben.

    Fischer: Der Mythos vom gerechten Krieg ist in Amerika ja ungebrochen. Das sieht man immer wieder auch in den Begründungen etwa für den Einmarsch im Irak. Baker dagegen versucht irgendwie zu zeigen, dass es im Grunde keine gerechten Kriege geben kann, sondern dass Krieg immer zu so was wie einem Zivilisationsbruch führt und letztendlich mehr Opfer generiert, als die Zahlen das je verdeutlichen können?

    Mielke: Ja, das ist richtig. Man darf dieses Buch jetzt nicht so verstehen, dass jemand von rechts versucht hat, den Krieg zu rechtfertigen, im Gegenteil. Baker ist ein Pazifist. Seine These ist, dass im Zweiten Weltkrieg sozusagen das gesamte Abendland einer Menschlichkeit zusammengebrochen ist, zerbrochen ist, dass es ein Krieg gegen die Zivilisten war, und das ist wohl das Entscheidende. Hier wird herausgearbeitet, dass es nicht nur ein Krieg unter Soldaten, sondern eben auch massiv gegen die Zivilbevölkerung war. Die Zivilbevölkerung hat gelitten. Und Baker deutet wohl an, dass das vermeidbar gewesen war.

    Fischer: Vor allem jüdische Kritiker haben sein Buch verrissen. Diese These, die er da aufstellt, ist doch auf Hitlers Vernichtungskrieg hin gesprochen eigentlich sehr zynisch zu nennen.

    Mielke: Na, das würde ich nicht sagen. Sehen Sie, die Frage, ob man diesen Krieg beendet, indem man Hamburg und Dresden und Hannover bombardiert, die Frage steht doch schon im Raum, erstens. Und zweitens, wer ist denn auf diese Art von Kriegführung gekommen? Der Bombenkrieg auf Köln oder Frankfurt und Hamburg hat ja wohl den Juden in den Konzentrationslagern nicht geholfen. Das ist die These dieses Buches. Bakers These ist, das ein Vernichtungskrieg gegen Zivilisten, deren Kampfwille nicht bricht. Solche Kriege sind vermeidbar. Insofern glaube ich sozusagen, dass das nicht zynisch ist, sondern eben nur eine Neubewertung und auch Neudarstellung des Zweiten Weltkrieges spezifisch auf diesen Vernichtungskrieg gegen die Zivilisten.

    Fischer: Friedrich Mielke, vielen Dank, mit einer Bewertung von Nicholson Bakers "Human Smoke".