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Neue ästhetische Schneisen

Es ist eine der großen "Sänger-Opern" und Musiktheater, das auf Shakespeare basiert: Zwei Qualitäten, die in der großen Opéra Bastille besonders genutzt und hervorgekehrt wurden. Andrei Serban, ein aus Rumänien stammende Regisseur, der auch die Theater-Sektion der Columbia-Universität in New York leitet, hat seit 1987 an der Nationaloper von Paris vorzugsweise großformatige Werke - wie "Chowanschtschina" oder "Sizilianische Vesper" - inszeniert. Nun erzählt er Othellos, Jagos und Desdemonas Tragödie ohne frei hinausschweifende Assoziationen. Die altzypriotische Bildwelt wurde also nicht in eine Sparkassen-Filiale der 1960er Jahre verlegt, das hohe 19. Jahrhundert Verdis nicht in einen Weltkrieg-II-Bunker gesperrt; auch wurde nicht dort, wo sich Einwände gegen das frauenfeindliche Verhalten des Titelhelden einhaken könnten, in volkspädagogischer Absicht abgebrochen. Nichts wurde verfremdet, alles von einem dienstbaren Geist genau dem Text entlang gezeigt.

Von Frieder Reininghaus |
    Der Regisseur Serban pflegt mit Gespür für Formate und Tempi auf seine Weise Werktreue. Er sorgt dafür, dass die Musik – in diesem Fall die wieder einmal so enorm präzise und expressive Othello-Musik – als die Hauptsache zum Zuge kommt. Zwei Säulen hat sie im russischen Tenor Vladimir Galouzine, der mit Feldherrenstimme die Titelpartie durchmisst, und in Jean-Philippe Lafont, einem altgedienten französischen Bassbariton, bekannt als Interpret des Baron Scarpia, des Telramund, des Golaud und der vier Bösewichte in "Hoffmanns Erzählungen". Und hier – rau, aber herzlich – natürlich als Jago.

    Die vieraktige Oper über die Degradierung und Selbst-Demontage eines siegreichen Seehelden entwickelt sich aus dem dröhnenden Dunkel. Sturm und Gewitter der äußeren Natur mutieren freilich bald zum Sturm und Dunkel im Innern des Protagonisten. Reinhard Papst bot imposante Herrschaftsarchitektur für die Gewittermusik an Zyperns Gestaden auf – aber sie bleibt schemenhaft, weil der militärische Triumph und die gefährdete Rückkehr Othellos nur den äußerste Rahmen der Handlung andeuten. Zunehmend verengt sich das Drama zum Kammerspiel in einer architektonisch ziemlich modernen mediterranen Festung und ist am Ende auf den intimsten Ort focusiert: auf das Bett der jungen Ehefrau, die – zu Unrecht – der Untreue bezichtigt und umgebracht wird. Andrei Serban zeigt die Tötung als Ritualmord eines kulturell in seinem neuen gesellschaftlichen Umfeld nie Akzeptierten. Barbara Frittoli erhebt die Partie der Desdemona mit warmem und starkem Sopran zum anrührenden Ereignis. Ihre schöner und lockerer Gesang krönt die von James Conlon bestens ausgeleuchtete Landschaft mit ihren beziehungsreichen Übergängen und schroffen Kontrasten.
    Othello vermag den Mittelmeerraum zu beherrschen, nicht aber sich selbst. Shakespeare, Verdi und Andrei Serban zeigen, wie Eifersucht entsteht, weil die Basis einer Liebe zu schmal ist, wie sie provoziert wird und eskaliert. Vielleicht lassen sich dem Stück noch andere Aspekte abgewinnen. Aber das ist der wesentliche. Er muss, wenn nicht (wie im neu-deutschen Regieberserkertheater) alle Liebe von vorneherein als generell "unmöglich" denunziert werden soll, als ernsthafteste Bemühung um die innige Übereinstimmung von Mann und Frau gezeigt wird - und wie die gute Absicht dennoch scheitert.

    Dergleichen das mag den Regie-Designern der Generation Golf zu altmodisch vorkommen, jedenfalls zu anstrengend. Mit dem Psychoanalytisieren à la Neuenfels hat Serban so wenig am Hut wie mit dem "Kaputten" der Stücke, wies es eine zweite und dritte Regisseurs-Garnitur heute pflegen darf. Serban sorgt für großzügig moderat-modernes Sänger-Musiktheater, das in Deutschland derzeit keinen rechten Ort mehr zu haben scheint - an den großen Häusern von Berlin, Hamburg oder Stuttgart ohnedies nicht. Dies Defizit im Opern-Überfluß ist ein besonderes Ärgernis und macht eine Reise nach Paris doppelt lohnend.