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Neue Argumente für die Kernkraft

Trotz aller gegenteiligen Beteuerungen: Die Debatte über eine Revision des deutschen Ausstiegsbeschlusses zur Atomkraft ist entbrannt. Auch in Großbritannien gibt es einen Ausstiegsbeschluss – doch auch dort sind Preise für Öl und Gas derart gestiegen, dass sogar über neue Atomkraftwerke diskutiert wird. Martin Zagatta bericht aus London.

    Die schlechte Nachricht schon am frühen Morgen – Powergen, so meldet die BBC, erhöht die Gaspreise um rund 20 Prozent. Die Mehrkosten für einen durchschnittlichen Hauspalt werden auf 107 Pfund im Jahr beziffert, auf etwa 150 Euro.

    Wie Powergen, eine E.ON-Tochtergesellschaft, haben alle großen Energieversorger auf der Insel die Gaspreise so drastisch angehoben wie noch nie zuvor, begleitet von Warnungen sogar, dass Rationierungen drohen könnten. Die Briten zahlen jetzt den Preis dafür, dass ihr Land wegen der schwindenden Vorkommen in der Nordsee vom Netto-Exporteur zum Nettoimporteur geworden ist. Eine schmerzhafte Erfahrung – schließlich haben die Konsumenten lange Jahre mit relativ niedrigen Energiekosten davon profitiert, dass London die Versorgung konsequent privatisiert hat.

    Die Briten hätten die Vorteile der Wettbewerbsreformen in den letzten zehn Jahren fast wieder eingebüßt. Die Zahl der Energieanbieter schrumpfe, und die hätten viel zu viel Macht, die Preise zu diktieren, klagt Alan Asher von Energywatch. Verbraucherschützer wie er lasten den Unternehmen wie der britischen Regierung an, mit ungenügender Vorsorge zu dem Engpass beigetragen zu haben. Die Preisexplosion hat aber auch dazu geführt, dass in Großbritannien seit Wochen schon heftig über Konsequenzen für die Energiepolitik debattiert wird. Gestritten wird vor allem darüber, ob man doch schnellstmöglich wieder neue Atomkraftwerke bauen sollte.

    Der Premierminister habe wohl eingesehen, dass es ohne neue Nuklearenergie schwierig werde, Großbritanniens Energiebedarf zu decken und Versorgungssicherheit zu gewährleisten, meint Professor Robin Grimes vom Imperial College in London. Und auch aus dem Umfeld von Tony Blair verlautet, der Regierungschef habe vor, noch in diesem Jahr abzurücken von dem von ihm selbst eingeleiteten Ausstieg aus der Atomkraft.

    Die ältesten Anlagen wurden bereits stillgelegt. Bis 2014 sollte auch noch die Hälfte der jetzt noch existierenden Nuklearkraftwerke außer Betrieb gehen. Der Anteil der Atomkraft an der Energieerzeugung in Großbritannien würde damit von derzeit 22 Prozent auf unter 10 Prozent sinken – ein Vorhaben, das mit der Versorgungskrise dieses Winters nun allerdings wieder auf dem Prüfstand steht. Vor zwei Jahren war die Regierung in ihrem Energiebericht noch davon ausgegangen, dass das Land langfristig auf Kernkraft verzichten könne. Schwenkt Tony Blair nun doch wieder auf Atomkurs ein, droht ihm aber Ungemach mit seiner Labour-Partei.

    Großbritannien verfüge über 40 Prozent der Windmenge in ganz Europa. Die Kosten für erneuerbare Energien würden sinken. Das sei allemal günstiger als Atomkraft. So plädiert der frühere Energieminister Michael Meacher dafür, den Ausstieg aus der Kernkraft auf keinen Fall rückgängig zu machen. Die Regierung, so argumentiert er, habe den richtigen Weg eingeschlagen, in dem sie die Stromerzeuger gesetzlich zu jährlich steigenden Anteilen von erneuerbaren Energien verpflichtet hat. Bis 2020 soll diese Quote auf 20 Prozent steigen von heute 4 Prozent. Die britische Windkraftvereinigung hat sich in einer Jahresbilanz gerade zuversichtlich gegeben, ihre Vorgaben einhalten zu können.

    Kernkraftgegner weisen darauf hin, dass auf dem Gelände der Wiederaufbereitungsanlage von Sellafield mehr als 3000 Kubikmeter atomaren Mülls lagern und auch Großbritannien über kein Endlager verfügt. Die mit der Abwicklung betraute Agentur hat die Kosten der Beseitigung allein der Altlasten der britischen Atomindustrie jetzt auf mindestens 100 Milliarden Euro geschätzt, weit mehr als bisher angenommen. Eine Absage an die Kernenergie will die Regierung daraus allerdings nicht ableiten. London würde eine abgestimmte Energiepolitik in der EU begrüßen, hat Tony Blair verlauten lassen – und es sei doch interessant – so der britische Premierminister – dass in einigen Ländern Atomkraft wieder auf der Tagesordnung stehe.