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Neue Aufgaben in einer globalisierten Welt

Das Eigene, das Fremde und ihr Verhältnis - klassische Themen der Ethnologie. Aber früher verwiesen sie auf geografisch ferne Kulturen. Im Zeitalter weltweiter Vernetzung und Migration richten sich ganz andere Erwartungen an die Ethnologen.

Von Peter Leusch | 10.10.2013
    "Wir unterhielten uns über den Koran, was der Koran den Frauen an Verhalten aufträgt, und alle waren der Meinung, dass die Frauen sich zu bedecken haben, sittsam zu sein haben usw., Dinge, die man durchaus weiß. Dann ging es darum zu begründen, woher wissen wir das eigentlich? - Die einen schlugen den Koran auf, und die anderen erzählten aus dem Leben des Propheten, und dann passierte etwas Verblüffendes: wir landeten nämlich innerhalb kürzester Zeit bei der Vorstellung, dass der Prophet Mohammed ein vorbildlicher Ehemann gewesen sei, der den Frauen bei der Erledigung haushaltlicher Tätigkeiten geholfen hat. Und im Nu kippte dieser Diskurs in einen ganz modernen Emanzipationsdiskurs, und die Frauen debattierten über die Rolle ihrer Ehemänner im Haushalt und ob sie dem Vorbild des Propheten folgen oder nicht."

    Susanne Schröter, Ethnologin an der Frankfurter Universität, erzählt eine Episode, die sie bei einem Frauenfrühstück in einer konservativen marokkanischen Moschee in Wiesbaden erlebt hat. Die Menschen zeigen sich komplexer als ein Denken wahr haben will, dass sie in Schubladen steckt mit der Aufschrift modern oder traditionell, aufgeklärt oder strenggläubig. Deswegen hat sich Susanne Schröter, die ursprünglich in Südostasien geforscht hat, an eine ethnografische Studie hierzulande gemacht über muslimisches Leben in Wiesbaden.

    "Ich lebe in Wiesbaden, also das ist ein Raum, der mir vertraut ist und gleichzeitig auch seltsam unvertraut ist, weil ich bis dahin mich nicht näher mit Menschen, die sich selbst als sehr fromm bezeichnen und ein Großteil ihrer Freizeit in Moscheegemeinschaften verbringen, auseinandergesetzt habe. Die begegnen einem nicht unbedingt im Alltag, wenn man einkauft, wenn man sich ganz normal als mehr oder weniger säkulare Person in einer deutschen Mittelstadt bewegt, und von daher habe ich etwas erlebt, was klassisch zum Repertoire der Ethnologie gehört, nämlich eine essenzielle Fremdheitserfahrung und die im eigenen Kontext. Ich habe in meiner eigenen Stadt Bereiche entdeckt, von denen ich vorher so gar nicht wusste, dass sie so in dieser Weise existieren."

    Das Eigene und das Fremde und ihr Verhältnis, das sind klassische Themen der Ethnologie. Aber früher verwiesen sie auf geografisch getrennte Bereiche. Die Ethnologen fuhren in die Welt hinaus, um auf fernen Kontinenten andere Kulturen zu studieren. Heute hingegen, im Zeitalter weltweiter Vernetzung und Migration, und eines globalen Transfers von Menschen, Gütern und Informationen verschränken und durchdringen sich die Kulturen immer stärker. Viele Menschen besitzen Wurzeln in mehr als nur einer einzigen Kultur. Die türkischstämmige Politikerin Lale Akgün, die auch Ethnologie studiert hat, sieht das als Leitmotiv ihres Lebens. Lale Akgün:

    "Mein Thema ist ja vor allem: wir und die Anderen. Das ist ein ganz wichtiges Thema der Gesellschaft von morgen: Wer gehört zu den Wir? Wie definieren wir die Anderen? Und das war vor 100 Jahren sehr viel einfacher, zwischen Wir und den Anderen zu unterscheiden. Aber durch die Globalisierung, durch Migration, Remigration, durch die wirtschaftlichen Zusammenhänge hat sich das alles sehr aufgelöst und ich finde, sowohl das Wir als auch die Anderen - das muss immer wieder neu definiert werden, man ist selber als Mensch immer wieder in neuen Zusammenhängen, in denen man einmal Wir ist, und manchmal die Anderen ist - da wünsche ich mir von der Ethnologie Untersuchungen ohne die Schere im Kopf ohne bestimmte Political Correctness."

    Über solche Erwartungen an die Ethnologie, wie sie Lale Akgün formuliert, überhaupt die Herausforderungen einer veränderten Welt an ihre Disziplin - darüber diskutierte die deutsche Gesellschaft für Völkerkunde auf ihrer Jahrestagung. Die Ethnologen versuchten eine Standortbestimmung, erklärte die Vorsitzende Carola Lentz von der Universität Mainz. Vor allem reflektierten die Ethnologen, worin die besonderen theoretischen und methodischen Stärken ihrer Wissenschaft im Vergleich mit Nachbardisziplinen liegen, - und auf diese Frage gab es überraschende Antworten. Carola Lentz:

    Selbstverständlichkeiten hinterfragen
    "In unserem Eröffnungsvortrag hat unser Redner Thomas Hylland Eriksen aus Norwegen die schöne Figur des Tricksters eingeführt, die Ethnologen sollten sich doch wie Trickster positionieren, die überraschen mit Infragestellungen des Selbstverständlichen im Alltag. Also Gewissheiten, die wir haben, dass die Familien so und nicht anders funktionieren könnten, werden ja praktisch zunehmend infrage gestellt. Ethnologen haben längst in anderen Teilen der Welt sehr unterschiedliche Formen von Familien und Verwandtschaftsverhältnissen untersucht und können ihre Erkenntnisse darüber, dass die Dinge auch anders organisiert werden können, eigentlich hier spiegeln, einbringen und damit die Selbstverständlichkeit, dass es überall so sein müsste, wie es bei uns gemacht wird, hinterfragen. Das gilt für andere Themen auch wie die Rolle von Staat oder von Religion."

    Im Deutschen kennen wir nur die negativ gefärbte Gestalt des Tricksers, jemand, der mit unseriösen Mitteln, mit Tricks eben, Probleme löst oder auch andere Leute hereinlegt. Im außereuropäischen Kulturraum gibt jedoch die mythologische Gestalt des Tricksters, eine Art göttlicher Schelm in vielerlei Gestalten, mit positiven wie negativen Aspekten, der zwar Tabus bricht, aber auch Neues in die Welt bringen kann, vor allem - und deshalb erhebt ihn der norwegische Wissenschaftler zu einem Vorbild für Ethnologen: Der Trickster könne sich verwandeln, in verschiedene Rollen schlüpfen, andere Perspektiven auf die Welt einnehmen und daraus Erkenntnisgewinn schöpfen. Die Ethnologin Cassis Kilian von der Universität Mainz findet unter Künstlern zeitgenössische Versionen des Trickster.

    "Ganz viele Künstler arbeiten heute als Ethnografen. Ethnologische Methoden wie die teilnehmende Beobachtung können äußerst öffentlichkeitswirksam eingesetzt werden, wir müssen nur an Günter Wallraff denken, was macht er? Er macht teilnehmende Beobachtung, auf einmal hören die Leute hin, ja es gibt ein Bedürfnis nach Perspektivwechsel, eigentlich haben viele Leute diese Lust am Trickster-Spiel, die Perspektive zu wechseln. Und ich denke Ethnologen haben großes Potenzial, haben immer wieder darüber nachgedacht, wie man Leute dazu verführen kann, die Perspektive zu wechseln. "

    Solch ein Perspektivenwechsel, also einmal mit den Augen der andern zu schauen, das sei auch aus politischer Sicht begrüßenswert, so Lale Akgün, weil es mithelfen könnte Vorurteile abzubauen.

    "Wenn man die Leute dazu bringt, Perspektivenwechsel wahrzunehmen, dann könnte man sicherlich auch den sozialen Frieden stärken. Ich gebe ein Beispiel: Fatih Cevikkollu, ein Kölner Kabarettist, kommt auf die Bühne und sagt: 'Ich bin Moslem.' - Natürlich gibt es keine Reaktion auf diese Aussage. 'Seht ihr, jetzt seid ihr alle ganz still vor lauter Angst.' Dieser Perspektivwechsel von ihm bringt dann die Leute zum Lachen und darüber nachzudenken, was löst eigentlich der Satz ‚Ich bin Muslim‘ in meinem Kopf aus. Ich finde, das ist grandios, er ist also praktizierender Ethnologe."

    Schriftsteller, Journalisten und Kabarettisten nutzen Perspektivwechsel und teilnehmende Beobachtung, es sind Mittel, die die Ethnologie auf ihrem ersten Arbeitsfeld bei der Erforschung außereuropäischer Kulturen entwickelt und verfeinert hat. Und dort spielt die Ethnologie weiterhin eine wichtige und wie Carola Lentz betont, unverzichtbare Rolle.

    "Die Rolle besteht darin, das zu tun, was Soziologen, Politikwissenschaftler und Historiker nicht ausreichend tun, nämlich über die deutsche und europäische Gesellschaft hinauszuschauen und zu schauen, was in anderen Weltgegenden passiert. Und ein spannendes Beispiel, wie wir das tun, ohne die anderen Gesellschaften zu exotisieren, ist zum Beispiel die Polizeiforschung bei uns in Mainz. Die Polizei in Westafrika wird betrachtet, nicht unter der Voraussetzung, dass das etwas völlig anderes ist als Polizei bei uns."

    So hat der junge Mainzer Ethnologe Mirco Göpfert fast zwei Jahre in Niger bei unterschiedlichen Polizei- und Gendarmerie-Einheiten verbracht und den Beamten dort, wie er sagt beim Arbeiten auf die Finger geschaut, wie es im konkreten Fall zugeht, wenn das Gesetz angewendet werden soll. Mirco Göpfert:

    Stereotype widerlegen
    "Das Problem das Gesetz durchzusetzen ist das Gleiche, was auch die deutsche Polizei erfährt. Es gibt einen enormen Widerstand in der Bevölkerung. Wenn Sie angezeigt werden, sind sie alles andere als erfreut darüber, dass sie eine Vorladung von der Polizei oder von der Staatsanwaltschaft bekommen. Nicht anders verhält es sich in Westafrika und in Niger. Die Art der Durchführung ist dann vielleicht ein bisschen anders, die Art und Weise, wie die Vorladung ausgehändigt wird, die kommt dann vielleicht nicht mit der Post, sondern der Anzeigensteller muss die persönlich überbringen,"

    Die Stereotypen über afrikanische Polizei – sie seien korrupt, handelten gesetzlos und gewalttätig - kann Göpfert jedoch nicht bestätigen. Die Unterschiede zur Polizei in Deutschland oder in westlichen Ländern liegen nicht auf der moralischen Ebene.

    "Das Besondere ist der unglaubliche Druck, der auf den Polizisten und Gendarmen dort lastet, ein unglaublicher Erwartungsdruck von der Zivilbevölkerung, denn sie wollen, dass für Frieden gesorgt wird, dass der Nachbar, der mir die Ziege geklaut hat, bestraft wird oder zumindest dass er das Geld für die Ziege zurückbezahlt. Gleichzeitig, und das wird häufig vergessen, dass gerade in der Sahelzone ein unglaublicher politischer Druck auf den einfachen Polizisten und Gendarmen lastet, konfrontiert mit enormen Sicherheitsrisiken, islamistische Terrororganisationen aus Nigeria, die in Niger eindringen, aus Libyen ehemalige Kämpfer für Gaddafi, die jetzt arbeitslos sind und sich dort in der Gegend tummeln - und so weiter: Rechts, links, oben unten prasselt es auf dieses kleine Ländchen ein, und jetzt stehen Sie da als kleiner Gendarm mitten im Nichts, und wie gehen Sie damit um?"

    Ethnologen treffen auf neue Probleme und Konstellationen im Kontakt unterschiedlicher Kulturen. Darüber hat sich das Forschungs- und Arbeitsfeld der Ethnologie verändert. Im Ausland sind es nicht mehr die unentdeckten Stammeskulturen tief im Regenwald des Amazonas, die es zu entdecken und zu studieren gilt. Jetzt geht es um die Schnittstellen multinationaler Unternehmen und der verschiedenen Kulturräume, in denen sie produzieren und Handel treiben. Im Fokus sind auch Projekte der Entwicklungszusammenarbeit bis hin zu so heiklen Angelegenheiten wie einem Militäreinsatz in Afghanistan – allenthalben wird interkulturelle Kompetenz wichtig, freilich wird sie nicht überall abgerufen.

    Im Inland sind es vor allem die Probleme einer mehrkulturellen Gesellschaft, in der das Thema Integration nicht bewältigt ist. Auch hier wird ethnologisches Fachwissen gebraucht, nach Sicht der Ethnologen aber immer noch viel zu wenig in Anspruch genommen. Gleichwohl hat sich inzwischen das berufliche Tätigkeitsfeld für Ethnologen außerhalb von Universität und Museum enorm erweitert. Susanne Schröter:

    "Die Frage ist natürlich, wo sind unsere ethischen Prinzipien, mit wem wollen wir eigentlich zusammenarbeiten und mit wem nicht, das ist eine große Debatte, die angestoßen wird dadurch, dass Ethnologie gesellschaftlich sehr stark nachgefragt wird, dass man ethnologische Expertise brauchen kann."

    Im Grunde ist diese ethische Frage ein altes Problem in neuer Gestalt. Denn die Ethnologie war entstanden im Zuge des Kolonialismus, den sie begleitete. War sie sein Komplize, der Zeugnisse anderer Kulturen wie Trophäen einsammelte und in den Museen ausstellte? Oder war und ist sie sein Widersacher, der mit wissenschaftlicher Zuwendung die fremde Kultur vor der Auslöschung und vor dem Vergessen bewahren will.