Seit Tony Blairs Wahlsieg 1997 haben die "Dritten Wege" der Sozialdemokratie weite Teile Europas erobert. Inzwischen ist aber um die regierenden "Ex-Genossen" Ernüchterung eingekehrt. Zeit für eine Zwischenbilanz: Was ist der Dritte Weg? Wo liegen seine Ursachen, Chancen und Grenzen? Welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede gibt es in verschiedenen Ländern? Und: Wie geht es weiter? Oder: Ist der dritte Weg schon zu Ende? Zur Beantwortung dieser Fragen ist das von Wolfgang Schroeder herausgegebene Buch "Neue Balance zwischen Markt und Staat?" gerade erschienen. Hier die Rezension von Stefan Grönebaum:
Vorweg gesagt: Das "Schroeder-Buch" ist analytisch stark, liefert Fakten und Kriterien zur Beurteilung des "Umbauprojekts", und es entwirft ein tiefenscharfes Bild dreier großer europäischer Sozialdemokratien mit ihren Ambivalenzen, Gemeinsamkeiten und Unterschieden.
Den Band durchziehen einige Konstanten: Dritte Wege sind, so definieren Thomas Koch und Wolfgang Schroeder, Versuche der Neujustierung sozialdemokratischer Politik unter Bedingungen von Globalisierung, Europäisierung und Mediendemokratie. Der Staat müsse die Balance zwischen Markt und Staat neu definieren, um Markt und Bürgern mehr Raum zu geben. Bernd Wessels schreibt, dass es um eine "nachholende Programmierung" aus strategischem Kalkül des Parteienwettbewerbs" geht. Die Begründung liefert Birgit Priddat: Weil es "unter Bedingungen von EU-/globaler Geldpolitik zur linken Angebotspolitik keine Alternative gibt". Was fehlt, ist der Blick nach vorn und damit "klare Prinzipien des Reformprojekts", wie Klaus West bei der Arbeitsmarktpolitik zeigt.
Wolfgang Schroeders Vergleich der Politiken in Frankreich, Deutschland und Großbritannien bestätigt die gemeinsame Tendenz zu mehr Markt und weniger Staat. Eben so geht der Weg der Parteien von der Mitglieder- und Funktionärs- zur Wähler- und Staatspartei: Überall hat sich die Führung verselbstständigt: Blair als autoritärer "Medien-Führer", Jospin als Moderator zwischen Linkstraditionalismus und "diskreter" Modernisierung, Schröder in Deutschland eher schlagartig als letzter Mohikaner der Enkel-Riege.
Wolfgang Schroeder sieht alle drei Parteien auf dem Weg zu sozialliberalen Parteien. Doch seien sie weit entfernt von einer Kohärenz von Programm, Organisation und Politik: Labour ist Blair-fixiert und unterschätzt die Rolle des Staates für Infrastruktur und Ökonomie. In Frankreich ist die linke Koalition so brüchig wie das gesellschaftliche Reformbündnis. In Deutschland umwirbt die Regierung die neuen Mittelschichten und agiert - von Außen- über Gesundheits- bis zur Rentenpolitik - gegen die sie tragenden Traditionsmilieus bei SPD und Grünen.
Offen bleibt die Frage, gelingt, neue Mittelschichten und Modernisierungsverlierer zu binden, ohne den rechten Sicherheitsdiskurs à la Koch zu kopieren. Dazu wäre laut Schroeder ein Gerechtigkeitsdiskurs nötig. Man vergleiche das mit der Taktik Gerhard Schröders, mit Schily "Rechts nichts anbrennen zu lassen". Schließlich, so mahnen Schroeder wie Kowalsky, muss sich im einigenden Europa eine Reformpolitik übernational entwickeln.
Hier liegt die Achillesverse von Rot-Grün. Die Berliner Koalition lässt Europa "links" liegen, hat Versuche in der Arbeits- und Sozialpolitik behindert und agiert außenpolitisch eher traditionell. Dabei wird Joschka Fischer nie die special relationship der Briten zu den USA kopieren und Gerhard Schröder nie nationale Interessen so unbefangen wie die Franzosen formulieren können.
Wolfgang Merkel nennt in dem Buch eine Prioritätenliste der Gerechtigkeit. Sie lautet: 1. Armut bekämpfen, 2. Bildung, 3. Arbeit, 4. Soziale Sicherheit und 5. Umverteilung angehen.
Diese Liste ist nicht der Logik geschuldet, sondern der Kapitulation vor der neoliberalen (Geld-)Politik. Dabei fehlt es an Phantasie, wie man durch Arbeitsoffensiven (wie in Frankreich oder Niederlanden) oder mehr Beteiligung der Arbeitnehmer am Produktivvermögen (wie in USA) das "Unabänderliche" ändern könnte. So kommt bei Merkel raus, was Schröder und Co tun: Sozialstaat muss billig sein, steuerfinanziert, mittelschichtfreundlich und populär.
Im Strategieteil zeigen die Göttinger Politologen Tobias Dürr und Franz Walter, wie Modernisierer in der SPD von Traditionen gezehrt haben. Nach der Selbstenthauptung des "linken Flügels" und dem Schröder-/Blair-"Putsch" 1999 fragen sie, ob die SPD noch genug Traditionswähler mobilisiert.
Franz Müntefering hat die NRW-SPD reformiert, aber nicht sachte wie Ollenhauer, sondern mit der Brechstange. Der NRW-Parteitag folgte dem einstimmig. Was diese Einmütigkeit wert ist, werden die Wahlkämpfe zeigen. Immerhin hat Schröder Einigkeit hergestellt, wie aktuelle Rehabilitierungsversuche des Schröder/Blair-Papiers belegen. Die neue Mitte hat gesiegt, die SPD wird "Nacharbeitnehmerpartei".
Schmid/Schroeder dröseln die britische Entwicklung auf, spannend ist auch Henrik Uterweddes Report über die "diskrete Modernisierung" à la francaise, die sich hinter traditioneller Rhetorik verbirgt. Grundlage dafür ist der Vormarsch der Modernisierer in Gewerkschaften und Linksparteien, sowie die Zersplitterung der Linken in Modernisierer und Traditionelle, die ein Bündnis erzwingt und beide Flügel diszipliniert.
Sollbruchstelle des Modells ist - nicht nur in Frankreich - die Schwächung der Linken, z.B. der Linksgewerkschaften von 2,5 auf 1 Million Mitglieder 1983-1997, wie der nützliche statistische Anhang des Buches zeigt. So wirkt der Dritte Weg seltsam wackelig. Die neuen "Führer" erschließen keine neuen Potentiale. Ihre Legitimität ist flüchtiger Erfolg, meinen zum Beispiel Holzmann und Ammendorf und dessen mediale Verstärkung. Ob so dauerhafte Reformbündnisse gedeihen, ist offen. Wesentliche Reformen – in England der Infrastruktur, in Frankreich des Staates, in Deutschland des Arbeitsmarktes – wurden nicht angegangen oder scheiterten.
Möglich, dass bald Neoliberale wie Westerwelle als lachende Erben mit "linken Traditionsresten" auch viel Modernes abräumen. Aktuelle Phänomene stimmen nachdenklich: Angesichts des Chaos im privatisierten britischen Bahnverkehr hat Labour offiziell die "Wegs-Grundthese" revidiert, wonach Privatfirmen besser funktionieren als öffentliche. In Deutschland leidet der "Genosse der Bosse" seit Stoibers Kandidatur nicht nur unter dem erwarteten Liebesentzug der Chefetagen. Seine Wirtschaftskompetenz schmilzt mit den Nürnberger Hiobsbotschaften wie Schnee an der Sonne. Es könnte sein, dass die "Sozis" beim besten Willen nie die besseren Liberalen werden. Vielleicht müssen sie – anstatt nur den Markt zu predigen und zu sparen – doch durch soziale Innovationen und internationale Kooperation glänzen.
Stefan Grönebaum über das von Wolfgang Schroeder editierte Buch: Neue Balancen zwischen Markt und Staat? Sozialdemokratische Reformstrategien in Deutschland, Frankreich und Großbritannien. Wochenschau-Verlag. Schwalbach. 288 Seiten. 14 Euro 80.