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Neue Biografiemuster werden zum lebenslangen Albtraum

Der französische Gesellschaftstheoretiker und Soziologe Robert Castel hat seine Neuorientierung nach dem Wegfall des Real-Existierenden-Sozialismus' niedergelegt. Nun ist ein Buch mit seinen veröffentlichten Artikeln erschienen.

Von Rainer Kühn | 31.10.2011
    Die Gesellschaft verliert ganz allmählich ihr Morgen.

    Das Wort von Paul Valéry bezieht sich auf das Königreich Frankreich vor 1789. Wir befinden uns heute aller Wahrscheinlichkeit nach nicht am Vorabend einer Revolution.

    Wir könnten aber vielleicht auch `unser Morgen verlieren.

    Schreibt Robert Castel im Vorwort seines Buches "Die Krise der Arbeit". Die Umwälzungen in der Welt der Arbeit der vergangenen Zeit haben gewaltige Spuren hinterlassen. Die "goldene Nachkriegszeit" ist vorbei, in der noch ein sozialer Kompromiss vorherrschte. Und der auch denjenigen, die nichts besaßen als ihre Arbeitskraft, eine anerkannte Position im Gemeinwesen garantierte, wie der französische Sozialtheoretiker schreibt. Damals war Arbeit

    …die Grundlage für eine gesicherte Existenz, die den Zugang zu anderen Formen gesellschaftlicher Partizipation wie Bildung, Kultur, Konsum oder Freizeit ermöglichte. Mit anderen Worten, in der Arbeitsgesellschaft ist Arbeit mehr als nur Arbeit.

    Diese schöne alte Welt ist für Robert Castel längst Vergangenheit. Denn heute dominierten der postindustrielle Kapitalismus und der neoliberale Diskurs – mit noch offenem Ausgang. Diese Umbruchphase: Für den Franzosen ist sie gewaltig. Zwar sind - so der Autor - erst wenige Umrisse zu erkennen von dem, woraufhin sich die Gesellschaft zu bewegt. Aber in einigen Aspekten…

    …lassen sich Sinn und Bedeutung der großen Transformation, die das neue Regime des postindustriellen Kapitalismus herbeiführt, exakt bestimmen. Sie wird von einer durchgängigen Entkollektivierungs- oder Reindividualisierungs-Tendenz beherrscht.

    Diese Individualisierung bedeutet, dass der Einzelne auf sich gestellt ist – ohne kollektive Einbindung und Schutz. Diese Gesellschaft der Individuen´ hat Folgen. Robert Castel schreibt:

    Es ist klar, dass manche sich von einengenden Protektionen befreit fühlen und nun auf der Seite der Gewinner stehen. Für Individuen allerdings, denen es an der notwendigen objektiven Voraussetzung fehlt, um wirklich als Individuen leben zu können, droht das neue Biografiemuster zum lebenslangen Albtraum zu werden.

    Castel sieht durch die Individualisierung und die dadurch verursachte Spaltung der Gesellschaft den sozialen Zusammenhalt gefährdet. Das ist der Leitgedanke des Werks. Der Autor reiht sich damit ein in die frankofone Tradition der Soziologie. Schon den Gründervater der Zunft in Gallien, Émile Durkheim, trieb die Sorge um: Vor der Anomie, der Gesetzeslosigkeit oder Unordnung in der Industriegesellschaft. Auch der 1933 geborene Castel sieht die Integration der Gesellschaft in Gefahr. Was aber könnte man dem sozialen Auseinanderdriften politisch entgegensetzen? Der Wissenschaftler bekennt sich dazu, zu Zeiten der 1968er Bewegung auf die alles verändernde Weltrevolution gesetzt zu haben, meint nun aber nicht mehr,

    …dass wir seit jenen Jahren auf diesem Weg weiter gekommen sind. Wenn man eine globale Alternative zum Kapitalismus in absehbarer Zukunft nicht mehr für denkbar hält, ist man Reformist.

    Den zu entwickelnden Reformismus will der Autor aber nicht verstanden wissen als ein kleinmütiges Arrangieren mit den Verhältnissen:

    Reformismus beinhaltet im Gegenteil das erreichbare Höchstmaß an politischem Gestaltungswillen und auch das Körnchen Utopie, das sich heute unter Beachtung des Realitätsprinzips verteidigen lässt.

    Kurzum: Robert Castel versucht zu entwickeln, für was sich heutzutage Linke noch einsetzen oder gegen was sie kämpfen sollen. Einer der entscheidenden Punkte dabei ist für ihn,

    …dass in vielen Fällen die Arbeit nicht mehr die Grundvoraussetzung für ein anständiges Leben liefert. In den schlimmsten Fällen verfließen dabei die Grenzen zwischen dem Arbeitnehmerstatus und der Tatsache, dass man trotzdem noch auf Sozialleistungen angewiesen ist, weil der Arbeitslohn nicht zum Leben reicht.

    Arbeitnehmer-Status – das ist für den Sozialtheoretiker zentral. Bedeutet er doch für die arbeitende Bevölkerung, wie Castel historisch entwickelt, erst die Teilhabe am öffentlichen Leben. Dieser Arbeitnehmerstatus sollte deshalb solidarisch verteidigt werden. Denn der Arbeiter konnte und kann nur dann Bestandteil der bürgerlichen Gesellschaft, also der Gesellschaft von Eigentümern sein, wenn auch er Eigentümer ist; und zwar: Eigentümer sozialer Rechte.

    Wird dieses Sozialeigentum abgebaut, dann setzt sich in unserer Gesellschaftsform wieder ein Profil von durch Not bedrohten Individuen durch, die der Prekarität und Zukunftsunsicherheit ausgesetzt sind und tagtäglich ums Überleben kämpfen.

    Castels Werk ist hoch-komplex. Und leider auch ziemlich redundant. Zudem verfällt der Wissenschaftler all zu oft in Soziologenjargon, sodass Fachfremde mitunter zum Wörterbuch greifen werden. Trotzdem lohnt die Lektüre. Etwa dann, wenn Robert Castel beispielsweise durch das Herausarbeiten der Entkollektivierungs- oder Reindividualisierungstendenzen zu bedenkenswerten Beobachtungen kommt: Dass sich heutzutage jeder-gegen-jeden aufwiegeln lässt – Arbeithabende gegen Erwerbslose, diese wiederum gegen Ausländer oder Jugendliche. Grund für diese möglich gewordene Aufstachelung gegeneinander ist – so Castel -, dass sich viele

    …im Augenblick der Europäisierung und Globalisierung als die Ausschussware der neuen Weltordnung fühlen. Sie haben das Gefühl, keine Zukunft zu haben, aber auch den Eindruck, dass dies in der politischen Klasse kaum jemanden wirklich kümmert.

    Derart verunsichert sind viele empfänglich für einfache Parolen, wie etwa die, dass die, die eigentlich arbeiten könnten, aber nichts tun, in Wirklichkeit ja auch gar nichts tun wollen. Demgegenüber setzt Robert Castel auf einen neuen sozialen Kompromiss unter staatlich-rechtlicher Rahmengebung, also auf ein reformiertes Arbeitsrecht.

    So schwer sie auch zu verwirklichen ist, diese Aufgabe einer Wiederherstellung staatlicher Regulationen, die gleichzeitig stark und flexibel sind, könnte sich in der jetzigen Situation als der einzige Ausweg erweisen, wenn man nicht Schlimmeres in Kauf nehmen will.

    Deutsche Leser werden einiges wiederentdecken, was hierzulande schon der Arbeitsrechtler und Mitbegründer der Politikwissenschaft Ernst Fraenkel dargelegt hat. Auch für diesen war das Arbeitsrecht Instrument zur Emanzipation der Arbeiterschaft, letztlich aber Bollwerk zur Verteidigung der Arbeitnehmer gegen marktradikale Angriffe. So sieht es Robert Castel auch heute noch – oder leider: schon wieder. In einem schwierigen, aber großen Werk.

    Moderator
    Rainer Kühn über Robert Castel: Die Krise der Arbeit. Neue Unsicherheiten und die Zukunft des Individuums. Aus dem Französischen von Thomas Laugstien. Hamburger Edition, 388 Seiten zum Preis von 32 Euro.

    Robert Castel:
    Die Krise der Arbeit. Neue Unsicherheiten und die Zukunft des Individuums, Hamburger Edition, 388 Seiten, 32,00 Euro
    ISBN: 978-3-868-54228-8