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Neue Bücher zum "Fall" Binjamin Wilkomirski

Die Fakten des "Falls Wilkomirski" sind inzwischen bekannt: unter dem Titel "Bruchstücke aus einer Kindheit" und unter dem Namen "Binjamin Wilkomirski" präsentierte der Jüdische Verlag im Suhrkamp Verlag 1995 die Erinnerungen eines lettischen Holocaust-Überlebenden an seine Kindheit im KZ und seine Verfrachtung in die Schweiz, wo ihm eine neue Identität aufgepfropft wurde. Das Buch gewann rasch die höchste Achtung in Feuilletons und psychologischen Kreisen, wurde in zahlreiche Sprachen übersetzt und mit Preisen überhäuft - ein immenser Erfolg, nicht gerade typisch für die Sparte der Holocaust-Literatur. Dieser Traum für Autor, Verleger und Publikum währte jedoch gerade mal drei Jahre: im August 1998 machte ihm ein Artikel in der "Weltwoche" ein Ende. Unter dem Titel "Die geliehene Holocaust-Biographie" konnte der schweizerisch-jüdische Schriftsteller Daniel Ganzfried zeigen, dass Wilkomirski eigentlich als Bruno Grosjean in Biel als uneheliches Kind geboren und von der wohlhabenden Zürcher Ärztefamilie Doessekker adoptiert wurde. Im Klartext: Der Mann, der hier unter seiner angeblich aufgezwungenen schweizerischen eine jüdische Opfer-Identität erinnern wollte und damit sehr erfolgreich an die Öffentlichkeit getreten war, heisst in Wirklichkeit nicht Wilkomirski sondern Doessekker, ist kein Jude aus Riga sondern in der Schweiz als uneheliches Kind geboren, und ist gewiss nie in einem KZ gewesen sondern bei Adoptiveltern in zumindest äusserlich besten Verhältnissen aufgewachsen.

Andreas Kilcher | 16.05.2002
    Seit Ganzfrieds Recherche von 1998 hat sich an dieser Faktenlage grundsätzlich nichts geändert, sie wurde nur präzisiert und erhärtet. Bei der Aufdeckung weiterer Details mussten letztlich auch diejenigen, denen Ganzfrieds Entmythisierung - aus welchen Motiven auch immer - widerstrebte, nach und nach ein Licht aufgehen. Ein letztes Puzzelstück wurde noch vor wenigen Wochen geliefert, als das Ergebnis des von der Zürcher Bezirksanwaltschaft angeordneten DNA-Vaterschaftstests bekannt gemacht wurde. Dieser Test konnte zweifelsfrei beweisen, dass Doessekkers leiblicher Vater nicht etwa, wie in seiner Autobiographie angegeben, auf grausamste Weise im KZ ermordet wurde, sondern heute 81-jährig in der Zentralschweiz lebt.

    Die Fakten sind also mittlerweile klar. Nur, wie soll man sie interpretieren? Wie den "Fall" deuten, wie mit ihm umgehen? Handelt es sich um einen Fall für die Justiz, wie die Zürcher Bezirksanwaltschaft auf eine Strafanzeige wegen "Betrugs und Verstoß gegen das Bundesgesetz über unlauteren Wettbewerb" noch immer abklärt? Oder handelt es sich um ein psychologisches Phänomen, das nicht als Fälschung im juristischen Sinne, sondern vielmehr als "Syndrom", nämlich als Komplex einer mehr oder weniger pathologischen Identitätskonstruktion qualifiziert werden muss? Oder aber ist der Fall Wilkomirski als ein gesellschaftliches Phänomen anzusehen, als das Produkt eines Kollektivs, zu dem nicht nur ein Schweizer Klarinettenlehrer beigetragen hat, sondern die ganzen Instanzen des Kulturbetriebs um den Holocaust - Literaturagenturen, Verlage, Zeitungen, Kulturämter, Literaturwissenschaftler, Psychologen etc. -, indem sie dieser privaten Mythomanie zur Weltöffentlichkeit verholfen haben? Oder schließlich ist dieser Fall ein literarischer und gehört in die fiktionalen Medien des Romans und des Films? Diese Perspektiven - die juristische, die psychologische, die soziologische und die ästhetische - führen zu sehr unterschiedlichen und teilweise kontroversen Wahrnehmungen und Interpretationen des Falls Wilkomirski, machen aber gerade so auch seine Vielschichtigkeit erkennbar. Ein Blick auf jüngste Publikationen und Projekte zu dem Fall kann dies zeigen.

    Die strengste Gangart ist zweifellos die Erklärung des Falls Wilkomirski zum juristischen Kasus. Dies hat bisher immerhin das Puzzelstück des Vaterschaftstests geliefert. Ob aber tatsächlich vom Strafbestand des "Betrugs" und des "unlauteren Wettbewerbs" gesprochen werden kann, ist zweifelhaft. Zumindest müsste er nicht nur für Doessekker, sondern auch für die involvierten Instanzen gelten, der Fall also kollektiviert und die juristische "Schuld" auf viele Schultern verteilt werden. Denn immerhin steht fest, dass die meisten der Involvierten das Buch aus freien Stücken und bei klarem Verstand, und was noch schwerer wiegt, teilweise auch wider besseres Wissen, vermarktet haben. Eines der revoltierenden Elemente in dem Geschehen ist ja, dass der Suhrkamp Verlag vor der Publikation der "Bruchstücke" gewarnt war und auch andere Beteiligte vorab über die wahre Identität von Wilkomirski mehr oder weniger genau Bescheid wussten. Gegenwärtig steht immer noch nicht fest, ob das hängige Strafverfahren eingestellt wird oder ob es zur Anklage kommt.

    Der juristischen steht die psychologische Interpretation des Falls Wilkomirski gegenüber. Sie setzt an der Person Wilkomirski alias Doessekker an und richtet den Blick auf die seelischen Motive, die ihn dazu getrieben haben mögen, jene jüdische Opfer-Identität anzunehmen. Diese Perspektive hat Stefan Mächler in seiner biographischen Recherche entwickelt ("Der Fall Wilkomirski. Über die Wahrheit einer Biographie", 2000); ihr folgte im Mai 2001 eine Konferenz von Literaturwissenschaftlern und Psychologen, deren Beiträge jetzt unter dem Titel "Das Wilkomirski-Syndrom. Eingebildete Erinnerung, oder von der Sehnsucht, Opfer zu sein" im Zürcher Pendo-Verlag erschienen sind. Wilkomirski wird hier zum "Syndrom" erklärt und zur psychologischen Kasuistik "eingebildeter Erinnerung" gerechnet. Aus dieser Perspektive aber gilt der Fall nicht mehr als problematisch, sondern im Gegenteil, wie Sander Gilman einleitend schreibt, als "einer der interessantesten". Die Betrugsfrage wird zur Identitätsfrage, und der Fall Wilkomirski erscheint als ein hervorregendes Fallbeispiel imaginärer Identitätskonstruktion. Dies verdeutlicht z.B. der Beitrag des Psychologen Hans Stoffel: Er stellt den Fall vor den Hintergrund der "Psychopathologie von Pseudoerinnerung und Pseudoidentität" und zeigt, wie sich Identitäten in eingebildeten Erinnerungen (auto)suggestiv bilden und regelrecht erfinden lassen. Das Trauma-Opfer aber ist ein dominanter Typus solcher Pseudo-Identität. Es folgt dem Wunsch nach "Wiedergutmachung", "Trost", "Zuwendung". Spätestens seit Sigmund Freuds Hysterie-Studien war das Phänomen bekannt; seine ersten Befunde revidierend erkannte er, dass der sexuelle Missbrauch auch das Produkt einer imaginären Erinnerung und damit ein Phantasiegebilde sein kann. Damit ist die geliehene jüdische Holocaust-Biographie strukturell vergleichbar. Auch diese Identität verspricht - zumal in einem Umfeld, in dem der Holocaust zu einem profitablen Gut werden konnte - einen großen "sekundären Krankheitsgewinn" (Freud). Diese psychologische Perspektive hat besonders für diejenigen Plausibilität, die Doessekker noch und gerade als Erfinder einer Holocaust-Identität als Opfer sehen und ihn auf diese Weise exkulpieren. Doessekker mache nichts anderes, als die kleinere Opferrolle (als uneheliches und adoptiertes Kind) gegen die dramatischere (als Holocaust-Opfer) einzutauschen. Es verschieben sich bloß die Kulissen. Verständlich, dass Doessekker diese Sicht seines Falls sehr entgegenkommt, mehr noch: sie hilft ihm aus seiner Begründungsnotlage heraus, wie er gegenüber der "Thurgauer Zeitung" in einer Reaktion auf den Vaterschaftstest deutlich machte: "Es ist medizinisch erweisen, dass ich von Kindheit misshandelt worden bin. Meine Erinnerungen kann ich nicht löschen, aber ich kann die Kulissen verändern. Ob das nämlich in einem Lager oder in einer Scheune passiert ist, spielt für mich keine Rolle." Deutlicher kann man es nicht sagen: Geschichte wird hier zur einem beliebigen Setting metaphorisiert, sie ist bloß eine Bühne, auf der sich eigene Leiden mit geliehenen Requisiten und erfundenen Erinnerungen inszenieren lassen.

    Solcher psychologischen Metaphorisierung der Geschichte steht krass die Interpretation des Falls Wilkomirski als ein soziokulturelles Phänomen entgegen, als ein Fall eben auch, der eine äußerst problematische Umgangsweise mit Geschichte, insbesondere mit dem Holocaust, aufweist. Es ist dies die entschiedene Perspektive von Daniel Ganzfried. Sie leitete schon seine Recherche von 1998, und sie leitet auch sein jüngstes Buch "...alias Wilkomirski. Die Holocaust-Travestie". Es ist dies eine zugleich kritische und witzige Retrospektive des Falls Wilkomirski als eines öffentlichen Kulturereignisses. Wilkomirski alias Doessekker ist hier nur noch eine Figur innerhalb eines großen Szenarios, das Ganzfried polemisch, aber treffend als "Auschwitz-Kostümierungsshow" oder eben als "Holocaust-Travestie" bezeichnet. Die Protagonisten dieser Travestie sind Psychiater, Literaturagenten, Verlage, Feuilletons, Literaturwissenschaftler, Preisjurys - und ein internationales Publikum, das diesem Spiel applaudiert. Was aber war es, auf das Wilkomirski offensichtlich die so plausible Antwort war? Ganzfried nennt es das "Holocaustige" der aktuellen Kulturindustrie: "Ihr Glaube lechzte mit dem Zeitgeist nach Holocaustigem". Ein zur Metapher generalisierter und zur Ware instrumentalisierter Holocaust ist es, in dem sich Doessekker und seine Psychologen, die Agenten, Verlage, Feuilletons etc. getroffen haben, oder in Daniel Ganzfrieds Worten:

    Heute ist, könnte man sagen, das Wort Holocaust fast ein Werbebegriff. Mit dem werden Kampagnen gemacht, mit dem werden Produkte verkauft. Das Wort ist eine Formel, man sollte es eigentlich verbannen. Ich würde meinen, hinter dem Wort verschwindet langsam das Ereignis. Und in dem Fall des Wilkomirski spielt eben dieses Wort auch die Rolle eines Kampagnen-Wortes.

    Solche Metaphorisierung des Holocaust aber ist ein Hohn auf seine tatsächlichen Opfer, der Ausverkauf der Geschichte. Wilkomirski ist das verkitschte Zerrbild des weinerlichen und leidenden jüdischen Opfers schlechthin, und damit ein Klischee mit durchaus antisemitischen Zügen.

    Da wird ja ein Bild des Opfers der Konzentrationslager gezeichnet […], das schon einer Erwiderung bedarf. So verkrüppelt, so karrikiert, so eindimensional und so monokausal sind die Leute nicht, die den Holocaust überlebt haben. Es ist nämlich das Wunder des Überlebens, das man nachher wieder Mensch ist. In der Erzählung von Doessekker alias Wilkomirski ist aber der Mensch, der Auschwitz überlebt, ein für immer verkrüppelter Mensch, eigentlich das Opfer schlechthin ist er, und da meine ich, das hat schon fast antisemitische Züge: quasi, nachdem er also Christus ermordet hat und jetzt für immer und ewig bestraft ist, haben wir endlich den Juden soweit, dass er nichts mehr anderes verdient als unser immerwährendes Mitleid. Und da muss ich schon sagen, die überlebenden Opfer der Konzentrationslager haben Besseres verdient, als solche klischierten, mit antisemitischen Ingredienzien versehenen Figuren, wie sie dann zum Klassiker erhoben werden.

    Dieser kulturkritischen Perspektive auf die Holocaust-Industrie folgen in Ganzfrieds Band unter anderem Elsbeth Pulver, die an dem Fall ebenfalls die "Trivialisierung und Instrumentalisierung" des Holocaust zum "Alleskleber" diagnostizierte, oder Lorenz Jäger, der darin letztlich die "postmoderne Korrosion des Wahrheitsbegriffs" befürchtet. Mit aufgenommen sind auch Gespräche mit Claude Lanzmann und Imre Kertész sowie bereits gedruckte Texte unter anderem von Ruth Klüger und Philip Gourevitch. Ihnen allen ist der kritische Anspruch der Aufklärung gemeinsam, der gegen die psychologischen Erklärungsversuche das Revoltierende, aber auch Lächerliche an diesem Holocaust-Varieté vor Augen führt.

    Es mag überraschen, hat aber System, wenn Ganzfried für seine kritisch-witzige Retrospektive auf den Fall Wilkomirski den Status eines journalistischen Textes zurückweist. Er hat den Text mit "Erzählung" überschrieben, und das bedeutet wohl: er soll den Fall Wilkomirski - mit all seinen historischen Fakten - an den Ort zurückholen, wo er eigentlich hingehört: in das Reich der Literatur. Einem literarischen Ereignis wie der kollektiven Erfindung einer jüdischen Opfer-Figur mit dem Namen Wilkomirski kann folglich am adäquatesten im Medium der Literatur beigekommen werden. Was Ganzfried in seinem neuen Buch also tut, ist folgendes: er porträtiert die "Figuren" auf der Bühne dieser Holocaust-Travestie, und er "erzählt" die Geschichte ihres Zusammenspielens:

    Wie das Wort Travestie selber schon andeutet, handelt es sich hier um eine Erzählung über eine Gruppe von Leuten. Es ist die Rede von einer ganzen Truppe, die uns eine Aufführung darbietet, nämlich das Stück Wilkomirski. Ich rede also nicht mehr von einem Einzelfall, sondern von einem Verlag, das ist der Suhrkamp-Verlag, ich stelle die Leute dar in ihren Handlungen, auf der Bühne, wo die Travestie stattfindet, nämlich im Zirkus, den ich den Holocaust-Zirkus nenne. Und wir sehen das ganze Panorama der Leute, die an diesem Fall ursächlich beteiligt sind, soweit wie der Fall eben ein öffentlicher Fall ist, d.h. ein Buch, ein Autor, ein Lektor, ein Verlag, Promotionsinstanzen, die literarische Agentur. All das ist keine Verschwörung, sondern in meiner Erzählung eine schauspielernde Truppe, die als Tross durch die Lande zieht und dem Publikum die Nummer ‚Wilkomirski' im Holocaust-Zirkus aufführt.

    Das Ergebnis ist ein spannender und witziger Text, dem Fall durchaus angemessen. Denn einerseits verlangt die zu erzählende Story, nämlich das Konstruieren, Verbergen und schließlich das Entlarven einer Pseudoidentität, einen geradezu kriminologischen Plot. Andererseits provozieren die grotesken Verdrehungen und Verzerrungen von eher harmlosen Identitäten in monströsen Phantasien eine satirische Überzeichnung. Nach der ersten Aufklärung in historischen Recherchen ist deshalb die angemessenste Antwort auf Kitsch und Travestie, ihnen in gut satirischer Manier den hyperbolischen Spiegel vorzuhalten, mag dabei auch jene Holocaust-Figur ein wenig überzeichnet werden.

    Es gibt im übrigen weitere Anzeichen dafür, dass der Fall Wilkomirski auch in Zukunft nicht nur Literaturwissenschaftler, Psychologen, Soziologen und Historiker, sondern insbesondere auch Kunstschaffende beschäftigt. Kürzlich konnte man in der Schweizerischen Wochenzeitschrift "Facts" erfahren, dass der amerikanische Dramatiker und Pulitzer-Preisträger Donald Margulies an einem Drehbuch zum Fall Wilkomirski arbeitet - im Zentrum die beiden Figuren Wilkomirski und Ganzfried - und dies für keine geringere Firma als die Paramount Pictures.