Samstag, 27. April 2024

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Neue CD vom Heath Quartet
Britische Sicht auf Bartók

Die Streichquartette von Béla Bartók gehören zu den kammermusikalischen Meilensteinen des 20. Jahrhunderts. Viele Aufnahmen rücken die urwüchsige Kraft der Musik mit knirschenden Klängen ins Zentrum. Das Heath Quartet zeichnet in seiner Neu-Einspielung ein anderes Bild.

Am Mikrofon: Marcus Stäbler | 20.08.2017
    Der ungarische Komponist und Pianist Bela Bartok
    Der ungarische Komponist Béla Bartók (picture alliance / dpa / Foto: MTI)
    Musik: Béla Bartók, Streichquartett Nr. 1, 1. Satz
    Béla Bartók beginnt sein erstes Streichquartett aus dem Jahr 1909 mit einer langsamen Fuge – und knüpft damit beim späten Beethoven und dessen cis-Moll-Quartett an. Inspiriert vom Erbe seiner Vorgänger, sucht und findet Bartók einen ganz eigenen Weg und führt die Quartetttradition ins 20. Jahrhundert. Der ungarische Komponist widmet sich der Gattung in verschiedenen Phasen seines Schaffens und bereichert sie mit insgesamt sechs Meisterwerken. Sie gehören heute zum Standardrepertoire der professionellen Quartettformationen und sind dementsprechend oft auf Tonträgern eingespielt, von Spitzenensembles wie etwa dem Hagen-Quartett, dem Takács- oder dem Belcea Quartet.
    Das britische Heath Quartet stellt sich dieser starken Konkurrenz mit einer neuen Aufnahme aller sechs Bartók-Quartette; sie ist beim Label Harmonia Mundi erschienen.
    Musik: Béla Bartók, Streichquartett Nr. 5, 3. Satz
    Das Trio aus dem fünften Streichquartetts von Béla Bartók, farbenreich und lebendig interpretiert vom britischen Heath Quartet. Das Heath Quartet, 2002 am Royal Northern College of Music in Manchester gegründet, gehört zu einer ganzen Reihe von Ensembles der jüngeren Generation, die frischen Wind in die Kammermusik bringen. Auf seinem Debütalbum vom vergangenen Jahr präsentierte das Heath Quartet nicht etwa Werke des klassischen Kanons, sondern die fünf Quartette des britischen Komponisten Michael Tippett.
    Freude am Risiko – Konzertmittschnitt statt Studioproduktion
    Diese Repertoireauswahl zeugt von einem Selbstbewusstsein und einem Mut, der sich auch auf der neuen Doppel-CD manifestiert: Die Aufnahme der Bartók-Quartette – sechs nicht nur spieltechnisch extrem anspruchsvolle Werke – ist als Konzertmitschnitt in der Londoner Wigmore Hall entstanden, also ohne Netz und doppelten Boden. Bei einer Studioproduktion sei die Versuchung groß, alles richtig machen zu wollen, sagte der erste Geiger und Namensgeber des Ensembles, Oliver Heath, kürzlich in einem Interview – und dieses "alles richtig machen" habe keinen großen künstlerischen Wert. Darum sind er und seine Kollegen ganz bewusst das Risiko einer Konzertaufnahme eingegangen. Sie vereint eine beeindruckende technische Sicherheit und Sorgfalt mit der atmosphärischen Dichte der Live-Situation – zu erleben etwa im Finale des ersten Bartók-Quartetts, mit seiner markanten Rhythmik, seiner Energie und einer bisweilen fast orchestralen Klangfülle.
    Musik: Béla Bartók, Streichquartett Nr. 1, 3. Satz
    Die expressive Kraft der Musik kulminiert in einem Motiv der ersten Geige, das sich wie ein Ausruf der Klage ins Ohr brennt. Dieses Motiv tritt im Finale aus Bartóks Quartett gleich mehrfach in Erscheinung und offenbart den emotionalen Gehalt des Stücks besonders deutlich: In der melancholischen Grundstimmung seines ersten Quartetts hat Bartóks Schmerz über die gescheiterte Liebesbeziehung zur Geigerin Stefi Geyer ihre Spuren hinterlassen. Diese besondere Intensität, die der Komponist seiner Partitur eingeschrieben hat, ist in der Aufnahme des Heath Quartet zu spüren: Die britischen Streicher spielen das Schmerzensmotiv mit einem glühenden Ton, der sich vom ansonsten eher schlanken Klang abhebt.
    Bartóks Streichquartette: Für Kopf und Herz
    In seinen Streichquartetten verbindet Béla Bartók emotionale Dringlichkeit mit einer kunstvollen Architektur; er füllt die genau austarierten Formen seiner Werke mit lebendigen Melodien, Harmonien und Rhythmen, oft angeregt von Einflüssen aus der Volksmusik. So wie im Mittelsatz aus dem zweiten Quartett, mit seinen prägnanten Tanzrhythmen. Das Heath Quartet spielt dieses Allegro molto capriccioso etwas weniger erdig als etwa das ungarische Takács Quartet – hier ein kurzer Ausschnitt aus der Aufnahme von 1984.
    Musik: Béla Bartók, Streichquartett Nr. 2, 2. Satz, Takács Quartet
    Die britischen Streicher vom Heath Quartet nehmen den Satz etwas schneller, färben den Klang aber in ihrer neuen Aufnahme weniger folkloristisch als die Kollegen vom Takács Quartet, sowohl bei den perkussiven Begleitfiguren und Pizzicati als auch im markanten Thema der ersten Geige.
    Musik: Béla Bartók, Streichquartett Nr. 2, 2. Satz, Heath Quartet
    Auch bei solchen dissonanten Akkordballungen und kraftvollen Rhythmen, wie hier im zweiten Quartett von Béla Bartók, wahrt das Heath Quartet immer die Kontrolle und mischt nur sparsam geräuschhafte Anteile in den Streicherklang. Einer von vielen Momenten, in denen das britische Ensemble ein weicheres Bild des Komponisten zeichnet als manche Konkurrenzformation. Das Heath Quartet spielt Bartók grundsätzlich eher transparent als ruppig und rückt die lyrischen Seiten der Musik stärker in den Fokus.
    Britische Zurückhaltung
    Mit ihrer fein differenzierten und schlanken Tongebung schaffen die britischen Streicher viele anrührende Momente. Auch in einer Passage des zweiten Quartetts, in der aus den Nebelfarben der Unterstimmen eine einsame Melodie der ersten Geige auftaucht und einen wehmütigen Gesang anstimmt.
    Musik: Béla Bartók, Streichquartett Nr. 2, 3. Satz
    In seiner Konzertaufnahme der sechs Bartók-Quartette setzt das Heath Quartet auf einen nuancenreichen und kultivierten Klang, der viele Zwischentöne der Musik abbildet, den man sich aber manchmal noch etwas prägnanter artikuliert vorstellen könnte. Dazu ein kurzer Vergleich mit der rund zwanzig Jahre älteren Einspielung des Hagen Quartetts. Der Cellist Clemens Hagen spielt das Cello-Solo im Mittelsatz aus Bartóks viertem Quartett sehr griffig und explosiv.
    Musik: Béla Bartók, Streichquartett Nr. 4, 3. Satz
    Dagegen wirkt das Solo in der neuen Aufnahme bei Christopher Murray und dem Heath Quartet weniger plastisch und etwas flach konturiert – womöglich auch, weil die Mikrofonierung in der Konzertaufnahme nicht so nahe an den Instrumenten dran war wie bei der Studioaufnahme der Hagens.
    Musik: Béla Bartók, Streichquartett Nr. 4, 3. Satz
    Ein Beispiel für den etwas paradoxen Gesamteindruck der neuen Bartók-Einspielung: Obwohl sie im Konzert entstanden ist, wirkt die Aufnahme des Heath Quartet an manchen Stellen eine Spur vorsichtiger und deshalb auch braver als die Studioproduktionen etwa vom Hagen Quartett, dem Takács oder dem Belcea Quartet. An deren Biss, Kontrastreichtum und Charakterschärfe reichen die Interpretationen des Heath Quartet nicht ganz heran, da scheint das Ensemble zumindest streckenweise immer noch einen Rest britischer Zurückhaltung zu wahren.
    Beinahe zu vorsichtig
    Vielleicht lässt sich aber auch der Gedanke an die Mikrofone auf der Bühne doch nicht so ganz abstellen, und der Wunsch danach, keine Fehler zu machen, mindert die Risikofreude in der Aufführung unbewusst. Es ist jedenfalls schon erstaunlich, welchen Grad an Perfektion und Präzision das Heath Quartet mit seiner Konzertaufnahme erreicht.
    Deutlich hörbare Ausrutscher sind die absolute Ausnahme, wie zu Beginn des Finales aus dem vierten Quartett von Bartók. Trotzdem gehört der Satz zu den Höhepunkten der Aufnahme, weil das Ensemble hier seine zeitweise Zurückhaltung abstreift und eine mitreißende Energie entfacht.
    Musik: Béla Bartók, Streichquartett Nr. 4, 5. Satz
    Kaum ein anderer Komponist verschmilzt die urwüchsiger Kraft der Volksmusik und die komplexen Strukturen der westeuropäischen Kunstmusik so organisch zu einer Einheit wie Béla Bartók. Für dieses Zusammenspiel von Intellekt und Sinnlichkeit, von Kopf, Herz und Bauch, findet das Heath Quartet im Finale des vierten Quartetts eine nahezu ideale Balance.
    Das sechste Quartett als ergreifendes Spiegelbild
    Nach der überschäumenden Vitalität seines vierten und dem nicht minder lebensprallen Reichtum des fünften Streichquartetts, schlägt Béla Bartók in seinem sechsten und letzten Quartett einen ganz anderen Ton an. Es entsteht zwischen August und November 1939 in einer politisch und für den Komponisten persönlich gleichermaßen dramatischen Zeit, als Bartók den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs miterlebt und seine Mutter im Sterben liegt. Nach ihrem Tod wird Béla Bartók, ein bekennender Antifaschist, im Jahr 1940 in die USA emigrieren; sein sechstes Quartett ist das letzte größere Werk, das er vorher noch in Europa vollendet.
    Sensibler Umgang mit Bartóks Emotionalität
    Der Gestus des Abschieds und der Trauer ist dem Stück unüberhörbar eingeprägt. Die ersten drei Sätze beginnen alle mit einer langsamen Einleitung, einem Klagegesang, dessen Material der vierte Satz aufgreift und als Musik der Resignation fortspinnt. Das Ende wirkt wie das auskomponierte Verstummen eines gebrochenen Menschen – vom Heath Quartet einfühlsam nachempfunden und in Klänge gekleidet.
    Musik: Béla Bartók, Streichquartett Nr. 6, 4. Satz
    Das war das Ende des sechsten Quartetts von Béla Bartók, gespielt vom britischen Heath Quartet. Die Konzertaufnahme der sechs Bartók-Quartette ist auf zwei CDs beim Label Harmonia Mundi erschienen; Marcus Stäbler hat sie Ihnen vorgestellt.
    Béla Bartók: Sämtliche Streichquartette
    The Heath Quartet
    Harmonia Mundi HMM 907661.62 (2 CDs)