Denn das Land Karmiristan gibt es nicht. Und die verzweifelten Menschen, die hier sprechen, sind Schauspieler. "Lasst uns unser Dorf aufbauen" ist der Name einer Seifenoper, die seit neuestem täglich in Radio Kabul und einigen Radiosendern in den Provinzen Afghanistans gespielt wird. Sie soll das NSP-Programm, das Nationale Solidaritätsprogramm, landesweit bekannt machen, das den Wiederaufbau Afghanistans auf eine ganz neue Art, nämlich basisdemokratisch, erreichen will. Das Programm hat einen Umfang von 450 Millionen US-Dollar und ist auf drei Jahre angelegt. Es wird finanziert von der Weltbank sowie beteiligten ausländischen Regierungen. Durchgeführt wird es unter dem Dach des afghanischen Entwicklungsministeriums. Maßgeblich an der Koordination beteiligt ist die deutsche Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit, GTZ, das Ausführungsorgan der Bundesregierung in der Entwicklungszusammenarbeit.
Ob die Radio-Seifenoper auch in Miyanagazar, einem entlegenen Dorf etwa drei Autostunden nördlich von Kabul, gehört wird, ist nicht sicher. Trotzdem kennen die Menschen hier das Nationale Solidaritätsprogramm ganz genau. Denn die rund 1.000 Familien der Gemeinde machen seit kurzem bei NSP mit. Zum ersten Mal in ihrem Leben haben die Erwachsenen in freier und geheimer Abstimmung eine eigene Vertretung gewählt, die so genannte Schura. Früher war die Schura der Ältestenrat, der sich einfach aus den Führern des Dorfes zusammensetzte, aber keine demokratische Legitimation hatte. 6.000 Gemeinden sollen es im Laufe der Zeit dem Dorf Miyanagazar gleichtun. Sie wählen ihren eigenen Entwicklungsrat, der dann bestimmt, welche Projekte in der Gemeinde am dringlichsten sind und internationale Unterstützung verdienen. So soll in diesem Programm die Entwicklungszusammenarbeit mit Demokratie und Selbstverwaltung auf dörflicher Ebene verknüpft werden.
In Miyanagazar hat man sich für ein Trinkwasserprojekt entschieden. Bisher musste das Wasser aus einem schmutzigen Kanal geschöpft werden. Jetzt soll es von einer höhergelegenen Bergquelle mittels Pumpen und Pipelines zum Dorf geführt werden. 60.000 Euro bekommen die Leute aus Miyanagazar für das Vorhaben. Alahoudin, ein Vertreter des neuen Rates, freut sich:
" Vorher mussten wir Regenwasser und Wasser, das wir zur Bewässerung der Felder nutzen, auch als Trinkwasser nehmen. Da wurden vor allem unsere Kinder immer krank. Jetzt werden wir bald besseres, gesünderes Wasser haben. "
Auch der Ertrag des Anbaus von Broccoli, Weizen, Tomaten, Kartoffeln und Zwiebeln, so hoffen die Bauern, lässt sich mit sauberem Wasser verbessern. Außerdem war es ein gutes Gefühl, zur Wahlurne zu gehen und über die eigenen Belange abzustimmen, sagt Mohammed Saber:
" Zum ersten Mal haben wir so gewählt. Es war eine gute Erfahrung. Wir wurden motiviert, unsere Gemeinde zu entwickeln, Ressourcen zu suchen, uns und unseren Leuten zu helfen. Wir arbeiten mit Ingenieuren zusammen, die aus unserem Dorf sind, die jetzt aber in Kabul sind und Erfahrungen oder Kontakte haben. Mein Bruder kommt zum Beispiel immer hierher und hilft uns. Wir suchen immer nach Lösungen. Das Ganze ist eine neue, interessante Erfahrung. "
Im Dorf Aghella Khan, ein Stück weiter nördlich, wird mit NSP-Geldern der Bau eines kleinen Wasserkraftwerks finanziert. Außerdem haben die 320 Familien des Dorfes mehrere soziale Komitees gegründet. Dazu gehört auch ein Anti-Drogen-Komitee, erzählt Abdul Hakim, Sprecher des Entwicklungsrates:
" In der Gemeinde haben alle zusammen entschieden, dass überall dort, wo weiter Mohn angebaut wird, die Pflanzen vernichtet werden. Das Komitee ist von der Gemeinde dazu autorisiert, auf die Felder zu gehen und sie zu zerstören. "
Projekte wie in Miyanagazar und Aghella Khan sind allerdings nur in sicherer Umgebung möglich. In der Provinz Kunduz im Norden Afghanistans soll vor allem die deutsche Bundeswehr für diese Sicherheit sorgen. 435 deutsche Soldaten beteiligen sich dort am Aufbau demokratischer Institutionen und der Sicherstellung der für den 18. September geplanten Parlamentswahlen.
Hajir Orfani, einer der einflussreichen Geldwechsler auf dem Bazar von Kunduz, ist mit der Präsenz ausländischer Soldaten in seiner Heimatstadt zufrieden.
" Ja, ich hoffe, dass sich Afghanistan jetzt weiter entwickelt. Zur Taliban-Zeit gab es keine Sicherheit. Es gab viel Gewalt und Probleme. Jetzt ist das alles viel besser und ruhiger geworden. "
Trotzdem kommt es immer wieder zu Übergriffen. Betroffen sind seit Wochen auch Mitarbeiter von Nichtregierungsorganisationen. Sie werden zunehmend zur Zielscheibe für Attentäter - Morde und Entführungen machen immer wieder Schlagzeilen.
Meldungen über Unruhen, Überfälle und Attacken gibt es seit Mai wieder regelmäßig in Afghanistans Nachrichten. Die Verbrechen werden radikalen Kräften zugeschrieben. So verschlechtert sich derzeit nicht nur bei Fanatikern und Terroristen in Afghanistan die Stimmung gegenüber den Nichtregierungsorganisationen, den sogenannten NGO’s. Schätzungsweise 2.600 sind in Afghanistan präsent - und nicht alle arbeiten effektiv, meint zumindest die afghanische Regierung. Sie erließ ein Gesetz, wonach alle Organisationen überprüft werden sollen. Viele hätten sich in profitable Privatunternehmen verwandelt, lautet der Vorwurf. So trete unter dem Deckmantel der Gemeinnützigkeit auf, was eigentlich eine Baufirma sei. Nichtregierungsorganisationen dürfen deshalb künftig keine Bauvorhaben mehr durchführen. Wirtschaftsminister Amin Farhang, der lange Zeit in Bochum lebte und jetzt in seinem Heimatland den Wiederaufbau vorantreiben will, ist verantwortlich für das NGO-Gesetz:
" Dieses Gesetz ist gut. Das Gesetz ist erörtert worden mit Vertretern der NGO selbst, mit den Geberländern, also ihren Vertretern, und mit den Regierungsstellen, die damit zu tun haben. Und gemeinsam haben wir Lösungen gefunden, die ich ganz vernünftig finde. Viele NGOs, die ernst arbeiten, die sind auch darüber glücklich. "
Tatsächlich haben einige der Helfer Verständnis für das Vorgehen der afghanischen Regierung - wie etwa Gisela Hayfa vom Büro der deutschen Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit in Kabul.
" Man liest ja täglich in der Zeitung wie viel Geld hier reinfließt in das Land. Und wenn dann gar nichts ankommt, oder wenn dann nur die Schule steht und es ist kein Lehrer da. Oder wenn die Schule da ist, und der Lehrer da ist, aber keinen Unterricht gibt, weil er sich noch irgendwie einen zweiten Job machen muss, dann wird die Sache schwierig. Da kommen die enttäuschten Hoffnungen her. Und so etwas ist gefährlich in einem Land, was noch nicht so stabil ist, was politisch ja immer noch auf dem Weg ist, seinen Pfad zu finden. Das kann umschlagen in undemokratische Bewegungen und in eine Gefahr. "
Trotz dieser gegenwärtig schwierigen Situation in Afghanistan sieht Gisela Hayfa der Zukunft des Landes nicht pessimistisch entgegen.
" Ich denke, das Land hat eine gewaltige Chance. Und das macht auch den Spaß aus, hier zu arbeiten. Ich bin ja unheimlich gerne hier. Man hat Gestaltungsspielräume, man kann Perspektiven entwickeln, wie das in anderen Ländern nicht mehr möglich ist. Aber gleichzeitig ist natürlich die Gefahr, dass es wieder umkippt, besonders groß. "
Im Vorfeld der für September geplanten Wahlen in Afghanistan hat sich die Sicherheitslage in den vergangenen Wochen allerdings weiter verschärft. Davon zeugt unter anderem der Abschuss eines US-Hubschraubers. Umso wichtiger ist es, dass das gemeinsam von militärischen und zivilen Kräften betriebene Programm zum Wiederaufbau und zur Stabilisierung der Situation in den Provinzen greift. Dazu gehört auch eine funktionierende Polizei. Die Aufgabe, das afghanische Polizeiwesen neu aufzubauen und zu reformieren, haben im Rahmen des vor vier Jahren auf dem Bonner Petersberg erarbeiteten Aufbauprogramms die Deutschen übernommen. Zur Zeit sind unter der Leitung eines Beamten von der Landespolizei Mecklenburg-Vorpommern 19 Polizeiberater vor Ort. 34,5 Millionen Euro wurden als Soforthilfe für dieses Projekt bereitgestellt. Bezahlt wird davon ein ganzes Bündel von Maßnahmen: Der Wiederaufbau der Polizeiakademie in Kabul, der Aufbau des Grenzpolizei-Hauptquartiers am Flughafen, Ausbildung und Training für die Polizisten, aber auch die Ausrüstung: Fahrzeuge, Motorräder, Funkgeräte. Genug zu tun bleibt für die deutschen Polizisten allemal. Denn ihre Kollegen am Hindukusch mussten zuvor unter extremsten Bedingungen arbeiten. In den Checkpoints entlang der Highways lebten die Beamten zum Teil in Erdlöchern, zusammen mit Schlangen und Sandvipern. 70 US-Dollar betrug ihr Monatsgehalt - davon konnten die meisten ihre Familien kaum ernähren. Korruption war die Folge, 60 bis 70 Prozent der afghanischen Polizisten waren bisher überdies Analphabeten. Auch jetzt noch sind die Arbeitsbedingungen schlecht, sagt Abdul Razak, Polizeichef von Kunduz:
" Im Polizeidistrikt Kunduz gibt es drei große Probleme. Das erste ist: Die Polizei bekommt nicht das gleiche Gehalt wie die Armeeangehörigen. Sie haben aber die gleiche Verantwortung. Oft machen sie 24-Stunden-Dienste. Zweitens haben die Polizisten keine Transportmittel. Sie haben kein Auto, um nach Hause zu kommen, wenn sie mal frei haben. Das dritte, was für die Polizeibeamten auch wichtig ist, es gibt keine Unterkunft für sie und ihre Familien. Wenn es ein Programm zur Bereitstellung von Häusern gäbe, das wäre sehr gut. "
In Workshops werden die Polizisten nun erst mal fit gemacht für die Kriminalitäts- und Terrorbekämpfung, in Menschenrechtsfragen oder einfach nur im Lesen und Schreiben. Darüber hinaus gibt es Erste-Hilfe-Kurse und Verkehrssicherheitstrainings - denn mit der wachsenden Zahl moderner Autos in Afghanistan steigt auch die Zahl der Unfälle. Polizeichef Razak will aus seiner Truppe richtig professionelle Polizisten machen. Die Beziehung zwischen Polizei und Bürgern muss neben der Sicherheit ebenfalls verbessert werden, meint der Polizeichef.
Darum ist auch Nematullah Nemad bemüht. Der rundliche Mann ist Leiter einer Anti-Drogen-Einheit der Polizei in der nördlichen Provinz Kunduz. Von seiner spärlich eingerichteten Baracke aus soll er zusammen mit einer Handvoll Mitarbeiter den Kampf gegen die Drogen aufnehmen - ein mühsames Geschäft, bei dem er auf Hinweise aus der Bevölkerung angewiesen ist.
" Wir haben Partner, wir bekommen Informationen, dann gehen wir zum Feld und nehmen sie fest. "
14 lokale Produzenten habe er auf diese Weise im vergangenen Jahr verhaftet, sagt Nematullah Nemad stolz. Als das Mikrofon wieder aus ist, erzählt er, dass die Hinweise auf illegalen Drogenanbau aus der Bevölkerung allerdings oft nur gegen Geld zu bekommen sind. Und: Einen lokalen Führer, den er wegen Opiumproduktion festnahm, musste er zwei Tage später wieder frei lassen - auf Druck höherer Stellen. Auch Leo Brandenberg, GTZ-Experte in Jalalabad, weiß, wie schwierig die Drogenbekämpfung in Afghanistan ist. Er setzt auf die langfristige Zusammenarbeit mit den Kleinbauern - denn die sind nach seiner Erfahrung selbst eher Opfer als Täter.
" Ein ganz direktes Interesse eines Bauern besteht darin, dass er selber doch nicht so viel von der Drogenproduktion profitiert, sondern eigentlich, letztlich langfristig in sehr schwierige Abhängigkeitsverhältnisse zu den Händlern und den Warlords kommt. Unglücklicherweise ist es so, dass die, die viel dran verdienen, nämlich die Zwischenhändler und diejenigen, die den Drogenhandel beschützen, gar nicht gewillt sind, viel zu unternehmen. Und die sind oft identisch mit Leuten, die sehr viel Macht in diesem Lande haben. "
Daher reiche es auch nicht aus, die Drogenfelder zu zerstören, wie es etwa die Briten oder US-Amerikaner tun.
" Es geht hier darum, diese ganze Struktur, die auf einer Drogenwirtschaft aufgebaut ist, langfristig zu ändern. Nicht nur müssen wir neue Landnutzungssysteme und Möglichkeiten der Einkommensschaffung berücksichtigen, sondern wir müssen auch die ganzen Sozialsysteme, die sich über die letzte Zeit gebildet haben, die die Bauern von den Warlords, von den Drogenhändlern abhängig machen, ändern. Das heißt, es muss eine gesamte, neue Gesellschaft entstehen. Und da ist der einzelne Bürger, der Bauer - und die meisten Leute in Afghanistan sind Bauern - das zentrale Glied unserer Kette. "
Doch bis zu dieser neuen Gesellschaft ist es in Afghanistan auch vier Jahre nach dem Fall des Taliban-Regimes noch ein weiter Weg.
Henry Liesche steht mit seiner Ray-Ban-Brille und im dunklen Anzug in der Mittagshitze vor einem Mikrofon auf einem großen Areal im Gewerbegebiet von Kabul, schwitzt - und macht einen zufriedenen Eindruck. Er hat gerade den Grundstein für den ersten Baumarkt in Afghanistan gelegt.
" Also wir wollen ein Fachmarkt sei und schießen in erster Linie auf Unternehmen und auf Firmen. Aber sind eigentlich offen für jeden Afghanen, sag ich mal, der eine Tür braucht oder eine Schraube braucht oder eine Bohrmaschine kaufen will. "
Baumarkt-Mann Liesche braucht Nachkriegsländer wie Afghanistan, weil die Konjunkturlage in Deutschland mau geworden ist. Und Afghanistan braucht Männer wie Liesche, meint jedenfalls Suleman Fatimie, Vizedirektor der neu gegründeten afghanischen Wirtschaftsförderungsagentur AISA.
" Wir brauchen ausländische Investoren, weil Afghanistan 30 Jahre Krieg und Zerstörung hinter sich hat. Wir haben den Großteil unserer Industrie und Fertigkeiten an andere Länder verloren. Also hoffen wir, dass ausländische Investoren kommen und die Technologie und das Wissen und die Kapazitäten mitbringen. Und hoffentlich werden unsere Leute, indem sie mit diesen Firmen arbeiten oder joint ventures machen auch Kapazität für den eigenen Markt erlangen, was wir im Moment so dringend brauchen. Und es wird Jobs geben durch ausländisches Investment, es wird zu einer Kettenreaktion kommen, die qualifizierte Arbeit kreiert, die wir in Afghanistan brauchen. "
Bei all dem will die Agentur AISA den Unternehmern aus dem Ausland helfen - auf modernste Weise. Eine Firmenlizenz, für die man früher mehrere Monate brauchte, sei jetzt innerhalb weniger Tage zu bekommen.
" Wir stehen zu unserem Wort, dass wir ein One-Stop-Shop sind. Wenn Sie ein Investor sind und nach Afghanistan kommen, ist die afghanische Wirtschaftsförderungsagentur das einzige Büro, das sie aufsuchen müssen. Um alles andere kümmert sich unser Management Team. Und wir denken, Sie werden gute Erfahrungen machen, wenn Sie mit AISA arbeiten. Wir wollen die Beziehungen zwischen Investor und Regierung erleichtern und sicherstellen, dass der Investor sich nicht in Bürokratie und Amtsschimmel verfängt. "
Seit Oktober 2003 gab es nach Angaben Fatimies bereits 2200 neue Investitionen im Umfang von insgesamt 998 Millionen Dollar. Das schaffte zugleich 100.000 neue Jobs. Noch mehr deutsches Investment wünscht sich allerdings Wirtschaftsminister Amin Farhang.
" Der Grund ist, glaube ich, die mangelnde Information bei den Privatinvestoren im Ausland, nicht nur in Deutschland. Die Sicherheitslage ist vielleicht für viele nicht so günstig, dass sie das wagen. Aber wenn die einmal kommen und die Möglichkeiten hier näher betrachten, dann werden die vielleicht anders denken. "
Nötig hat Afghanistan Investment allemal - in allen Branchen. Minister Farhang will mit Sonderregelungen die Ausländer anlocken - zum Beispiel mit einem Konzept für zollfreie Zonen. Ein Investitions- und ein Bankengesetz gibt es schon. Und wie will er den Unternehmern Sicherheit garantieren?
" Also ich glaube nicht, dass die Sicherheitslage in Afghanistan so schlecht ist, dass nirgends in Afghanistan die privaten Investoren investieren können. Wenn man Afghanistan mit dem Irak vergleicht, dann gibt es einen großen Unterschied. In Afghanistan passiert ab und zu mal was. Es werden einige NGOs oder andere Helfer überfallen, ansonsten ist die Lage nicht so schlecht, dass man sich ganz zurückzieht. Deshalb habe ich auch gesagt, dass Afghanistan für die privaten Investoren eine Reise wert ist. "
An schnelle Lösungen für den schwierigen Neuanfang in seinem Land glaubt aber auch Minister Farhang nicht.
" Der Wiederaufbau Afghanistans wird lange Zeit in Anspruch nehmen. Diese Strategie wollen wir für zehn bis fünfzehn Jahre entwickeln. Bis dahin werden wir die Richtung bestimmen, wie wir weitergehen. Länger kann man das nicht, weil die Welt immer sich ändert. Aber wir wollen dieses große Ziel erreichen, dass wir innerhalb von fünf bis zehn Jahren das Pro-Kopf-Einkommen der Afghanen von 220 Dollar auf 6-700 Dollar anheben. Und wenn wir das erreichen, dann haben wir einen großen Schritt gegen die Armut in Afghanistan gemacht. "
Ob die Radio-Seifenoper auch in Miyanagazar, einem entlegenen Dorf etwa drei Autostunden nördlich von Kabul, gehört wird, ist nicht sicher. Trotzdem kennen die Menschen hier das Nationale Solidaritätsprogramm ganz genau. Denn die rund 1.000 Familien der Gemeinde machen seit kurzem bei NSP mit. Zum ersten Mal in ihrem Leben haben die Erwachsenen in freier und geheimer Abstimmung eine eigene Vertretung gewählt, die so genannte Schura. Früher war die Schura der Ältestenrat, der sich einfach aus den Führern des Dorfes zusammensetzte, aber keine demokratische Legitimation hatte. 6.000 Gemeinden sollen es im Laufe der Zeit dem Dorf Miyanagazar gleichtun. Sie wählen ihren eigenen Entwicklungsrat, der dann bestimmt, welche Projekte in der Gemeinde am dringlichsten sind und internationale Unterstützung verdienen. So soll in diesem Programm die Entwicklungszusammenarbeit mit Demokratie und Selbstverwaltung auf dörflicher Ebene verknüpft werden.
In Miyanagazar hat man sich für ein Trinkwasserprojekt entschieden. Bisher musste das Wasser aus einem schmutzigen Kanal geschöpft werden. Jetzt soll es von einer höhergelegenen Bergquelle mittels Pumpen und Pipelines zum Dorf geführt werden. 60.000 Euro bekommen die Leute aus Miyanagazar für das Vorhaben. Alahoudin, ein Vertreter des neuen Rates, freut sich:
" Vorher mussten wir Regenwasser und Wasser, das wir zur Bewässerung der Felder nutzen, auch als Trinkwasser nehmen. Da wurden vor allem unsere Kinder immer krank. Jetzt werden wir bald besseres, gesünderes Wasser haben. "
Auch der Ertrag des Anbaus von Broccoli, Weizen, Tomaten, Kartoffeln und Zwiebeln, so hoffen die Bauern, lässt sich mit sauberem Wasser verbessern. Außerdem war es ein gutes Gefühl, zur Wahlurne zu gehen und über die eigenen Belange abzustimmen, sagt Mohammed Saber:
" Zum ersten Mal haben wir so gewählt. Es war eine gute Erfahrung. Wir wurden motiviert, unsere Gemeinde zu entwickeln, Ressourcen zu suchen, uns und unseren Leuten zu helfen. Wir arbeiten mit Ingenieuren zusammen, die aus unserem Dorf sind, die jetzt aber in Kabul sind und Erfahrungen oder Kontakte haben. Mein Bruder kommt zum Beispiel immer hierher und hilft uns. Wir suchen immer nach Lösungen. Das Ganze ist eine neue, interessante Erfahrung. "
Im Dorf Aghella Khan, ein Stück weiter nördlich, wird mit NSP-Geldern der Bau eines kleinen Wasserkraftwerks finanziert. Außerdem haben die 320 Familien des Dorfes mehrere soziale Komitees gegründet. Dazu gehört auch ein Anti-Drogen-Komitee, erzählt Abdul Hakim, Sprecher des Entwicklungsrates:
" In der Gemeinde haben alle zusammen entschieden, dass überall dort, wo weiter Mohn angebaut wird, die Pflanzen vernichtet werden. Das Komitee ist von der Gemeinde dazu autorisiert, auf die Felder zu gehen und sie zu zerstören. "
Projekte wie in Miyanagazar und Aghella Khan sind allerdings nur in sicherer Umgebung möglich. In der Provinz Kunduz im Norden Afghanistans soll vor allem die deutsche Bundeswehr für diese Sicherheit sorgen. 435 deutsche Soldaten beteiligen sich dort am Aufbau demokratischer Institutionen und der Sicherstellung der für den 18. September geplanten Parlamentswahlen.
Hajir Orfani, einer der einflussreichen Geldwechsler auf dem Bazar von Kunduz, ist mit der Präsenz ausländischer Soldaten in seiner Heimatstadt zufrieden.
" Ja, ich hoffe, dass sich Afghanistan jetzt weiter entwickelt. Zur Taliban-Zeit gab es keine Sicherheit. Es gab viel Gewalt und Probleme. Jetzt ist das alles viel besser und ruhiger geworden. "
Trotzdem kommt es immer wieder zu Übergriffen. Betroffen sind seit Wochen auch Mitarbeiter von Nichtregierungsorganisationen. Sie werden zunehmend zur Zielscheibe für Attentäter - Morde und Entführungen machen immer wieder Schlagzeilen.
Meldungen über Unruhen, Überfälle und Attacken gibt es seit Mai wieder regelmäßig in Afghanistans Nachrichten. Die Verbrechen werden radikalen Kräften zugeschrieben. So verschlechtert sich derzeit nicht nur bei Fanatikern und Terroristen in Afghanistan die Stimmung gegenüber den Nichtregierungsorganisationen, den sogenannten NGO’s. Schätzungsweise 2.600 sind in Afghanistan präsent - und nicht alle arbeiten effektiv, meint zumindest die afghanische Regierung. Sie erließ ein Gesetz, wonach alle Organisationen überprüft werden sollen. Viele hätten sich in profitable Privatunternehmen verwandelt, lautet der Vorwurf. So trete unter dem Deckmantel der Gemeinnützigkeit auf, was eigentlich eine Baufirma sei. Nichtregierungsorganisationen dürfen deshalb künftig keine Bauvorhaben mehr durchführen. Wirtschaftsminister Amin Farhang, der lange Zeit in Bochum lebte und jetzt in seinem Heimatland den Wiederaufbau vorantreiben will, ist verantwortlich für das NGO-Gesetz:
" Dieses Gesetz ist gut. Das Gesetz ist erörtert worden mit Vertretern der NGO selbst, mit den Geberländern, also ihren Vertretern, und mit den Regierungsstellen, die damit zu tun haben. Und gemeinsam haben wir Lösungen gefunden, die ich ganz vernünftig finde. Viele NGOs, die ernst arbeiten, die sind auch darüber glücklich. "
Tatsächlich haben einige der Helfer Verständnis für das Vorgehen der afghanischen Regierung - wie etwa Gisela Hayfa vom Büro der deutschen Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit in Kabul.
" Man liest ja täglich in der Zeitung wie viel Geld hier reinfließt in das Land. Und wenn dann gar nichts ankommt, oder wenn dann nur die Schule steht und es ist kein Lehrer da. Oder wenn die Schule da ist, und der Lehrer da ist, aber keinen Unterricht gibt, weil er sich noch irgendwie einen zweiten Job machen muss, dann wird die Sache schwierig. Da kommen die enttäuschten Hoffnungen her. Und so etwas ist gefährlich in einem Land, was noch nicht so stabil ist, was politisch ja immer noch auf dem Weg ist, seinen Pfad zu finden. Das kann umschlagen in undemokratische Bewegungen und in eine Gefahr. "
Trotz dieser gegenwärtig schwierigen Situation in Afghanistan sieht Gisela Hayfa der Zukunft des Landes nicht pessimistisch entgegen.
" Ich denke, das Land hat eine gewaltige Chance. Und das macht auch den Spaß aus, hier zu arbeiten. Ich bin ja unheimlich gerne hier. Man hat Gestaltungsspielräume, man kann Perspektiven entwickeln, wie das in anderen Ländern nicht mehr möglich ist. Aber gleichzeitig ist natürlich die Gefahr, dass es wieder umkippt, besonders groß. "
Im Vorfeld der für September geplanten Wahlen in Afghanistan hat sich die Sicherheitslage in den vergangenen Wochen allerdings weiter verschärft. Davon zeugt unter anderem der Abschuss eines US-Hubschraubers. Umso wichtiger ist es, dass das gemeinsam von militärischen und zivilen Kräften betriebene Programm zum Wiederaufbau und zur Stabilisierung der Situation in den Provinzen greift. Dazu gehört auch eine funktionierende Polizei. Die Aufgabe, das afghanische Polizeiwesen neu aufzubauen und zu reformieren, haben im Rahmen des vor vier Jahren auf dem Bonner Petersberg erarbeiteten Aufbauprogramms die Deutschen übernommen. Zur Zeit sind unter der Leitung eines Beamten von der Landespolizei Mecklenburg-Vorpommern 19 Polizeiberater vor Ort. 34,5 Millionen Euro wurden als Soforthilfe für dieses Projekt bereitgestellt. Bezahlt wird davon ein ganzes Bündel von Maßnahmen: Der Wiederaufbau der Polizeiakademie in Kabul, der Aufbau des Grenzpolizei-Hauptquartiers am Flughafen, Ausbildung und Training für die Polizisten, aber auch die Ausrüstung: Fahrzeuge, Motorräder, Funkgeräte. Genug zu tun bleibt für die deutschen Polizisten allemal. Denn ihre Kollegen am Hindukusch mussten zuvor unter extremsten Bedingungen arbeiten. In den Checkpoints entlang der Highways lebten die Beamten zum Teil in Erdlöchern, zusammen mit Schlangen und Sandvipern. 70 US-Dollar betrug ihr Monatsgehalt - davon konnten die meisten ihre Familien kaum ernähren. Korruption war die Folge, 60 bis 70 Prozent der afghanischen Polizisten waren bisher überdies Analphabeten. Auch jetzt noch sind die Arbeitsbedingungen schlecht, sagt Abdul Razak, Polizeichef von Kunduz:
" Im Polizeidistrikt Kunduz gibt es drei große Probleme. Das erste ist: Die Polizei bekommt nicht das gleiche Gehalt wie die Armeeangehörigen. Sie haben aber die gleiche Verantwortung. Oft machen sie 24-Stunden-Dienste. Zweitens haben die Polizisten keine Transportmittel. Sie haben kein Auto, um nach Hause zu kommen, wenn sie mal frei haben. Das dritte, was für die Polizeibeamten auch wichtig ist, es gibt keine Unterkunft für sie und ihre Familien. Wenn es ein Programm zur Bereitstellung von Häusern gäbe, das wäre sehr gut. "
In Workshops werden die Polizisten nun erst mal fit gemacht für die Kriminalitäts- und Terrorbekämpfung, in Menschenrechtsfragen oder einfach nur im Lesen und Schreiben. Darüber hinaus gibt es Erste-Hilfe-Kurse und Verkehrssicherheitstrainings - denn mit der wachsenden Zahl moderner Autos in Afghanistan steigt auch die Zahl der Unfälle. Polizeichef Razak will aus seiner Truppe richtig professionelle Polizisten machen. Die Beziehung zwischen Polizei und Bürgern muss neben der Sicherheit ebenfalls verbessert werden, meint der Polizeichef.
Darum ist auch Nematullah Nemad bemüht. Der rundliche Mann ist Leiter einer Anti-Drogen-Einheit der Polizei in der nördlichen Provinz Kunduz. Von seiner spärlich eingerichteten Baracke aus soll er zusammen mit einer Handvoll Mitarbeiter den Kampf gegen die Drogen aufnehmen - ein mühsames Geschäft, bei dem er auf Hinweise aus der Bevölkerung angewiesen ist.
" Wir haben Partner, wir bekommen Informationen, dann gehen wir zum Feld und nehmen sie fest. "
14 lokale Produzenten habe er auf diese Weise im vergangenen Jahr verhaftet, sagt Nematullah Nemad stolz. Als das Mikrofon wieder aus ist, erzählt er, dass die Hinweise auf illegalen Drogenanbau aus der Bevölkerung allerdings oft nur gegen Geld zu bekommen sind. Und: Einen lokalen Führer, den er wegen Opiumproduktion festnahm, musste er zwei Tage später wieder frei lassen - auf Druck höherer Stellen. Auch Leo Brandenberg, GTZ-Experte in Jalalabad, weiß, wie schwierig die Drogenbekämpfung in Afghanistan ist. Er setzt auf die langfristige Zusammenarbeit mit den Kleinbauern - denn die sind nach seiner Erfahrung selbst eher Opfer als Täter.
" Ein ganz direktes Interesse eines Bauern besteht darin, dass er selber doch nicht so viel von der Drogenproduktion profitiert, sondern eigentlich, letztlich langfristig in sehr schwierige Abhängigkeitsverhältnisse zu den Händlern und den Warlords kommt. Unglücklicherweise ist es so, dass die, die viel dran verdienen, nämlich die Zwischenhändler und diejenigen, die den Drogenhandel beschützen, gar nicht gewillt sind, viel zu unternehmen. Und die sind oft identisch mit Leuten, die sehr viel Macht in diesem Lande haben. "
Daher reiche es auch nicht aus, die Drogenfelder zu zerstören, wie es etwa die Briten oder US-Amerikaner tun.
" Es geht hier darum, diese ganze Struktur, die auf einer Drogenwirtschaft aufgebaut ist, langfristig zu ändern. Nicht nur müssen wir neue Landnutzungssysteme und Möglichkeiten der Einkommensschaffung berücksichtigen, sondern wir müssen auch die ganzen Sozialsysteme, die sich über die letzte Zeit gebildet haben, die die Bauern von den Warlords, von den Drogenhändlern abhängig machen, ändern. Das heißt, es muss eine gesamte, neue Gesellschaft entstehen. Und da ist der einzelne Bürger, der Bauer - und die meisten Leute in Afghanistan sind Bauern - das zentrale Glied unserer Kette. "
Doch bis zu dieser neuen Gesellschaft ist es in Afghanistan auch vier Jahre nach dem Fall des Taliban-Regimes noch ein weiter Weg.
Henry Liesche steht mit seiner Ray-Ban-Brille und im dunklen Anzug in der Mittagshitze vor einem Mikrofon auf einem großen Areal im Gewerbegebiet von Kabul, schwitzt - und macht einen zufriedenen Eindruck. Er hat gerade den Grundstein für den ersten Baumarkt in Afghanistan gelegt.
" Also wir wollen ein Fachmarkt sei und schießen in erster Linie auf Unternehmen und auf Firmen. Aber sind eigentlich offen für jeden Afghanen, sag ich mal, der eine Tür braucht oder eine Schraube braucht oder eine Bohrmaschine kaufen will. "
Baumarkt-Mann Liesche braucht Nachkriegsländer wie Afghanistan, weil die Konjunkturlage in Deutschland mau geworden ist. Und Afghanistan braucht Männer wie Liesche, meint jedenfalls Suleman Fatimie, Vizedirektor der neu gegründeten afghanischen Wirtschaftsförderungsagentur AISA.
" Wir brauchen ausländische Investoren, weil Afghanistan 30 Jahre Krieg und Zerstörung hinter sich hat. Wir haben den Großteil unserer Industrie und Fertigkeiten an andere Länder verloren. Also hoffen wir, dass ausländische Investoren kommen und die Technologie und das Wissen und die Kapazitäten mitbringen. Und hoffentlich werden unsere Leute, indem sie mit diesen Firmen arbeiten oder joint ventures machen auch Kapazität für den eigenen Markt erlangen, was wir im Moment so dringend brauchen. Und es wird Jobs geben durch ausländisches Investment, es wird zu einer Kettenreaktion kommen, die qualifizierte Arbeit kreiert, die wir in Afghanistan brauchen. "
Bei all dem will die Agentur AISA den Unternehmern aus dem Ausland helfen - auf modernste Weise. Eine Firmenlizenz, für die man früher mehrere Monate brauchte, sei jetzt innerhalb weniger Tage zu bekommen.
" Wir stehen zu unserem Wort, dass wir ein One-Stop-Shop sind. Wenn Sie ein Investor sind und nach Afghanistan kommen, ist die afghanische Wirtschaftsförderungsagentur das einzige Büro, das sie aufsuchen müssen. Um alles andere kümmert sich unser Management Team. Und wir denken, Sie werden gute Erfahrungen machen, wenn Sie mit AISA arbeiten. Wir wollen die Beziehungen zwischen Investor und Regierung erleichtern und sicherstellen, dass der Investor sich nicht in Bürokratie und Amtsschimmel verfängt. "
Seit Oktober 2003 gab es nach Angaben Fatimies bereits 2200 neue Investitionen im Umfang von insgesamt 998 Millionen Dollar. Das schaffte zugleich 100.000 neue Jobs. Noch mehr deutsches Investment wünscht sich allerdings Wirtschaftsminister Amin Farhang.
" Der Grund ist, glaube ich, die mangelnde Information bei den Privatinvestoren im Ausland, nicht nur in Deutschland. Die Sicherheitslage ist vielleicht für viele nicht so günstig, dass sie das wagen. Aber wenn die einmal kommen und die Möglichkeiten hier näher betrachten, dann werden die vielleicht anders denken. "
Nötig hat Afghanistan Investment allemal - in allen Branchen. Minister Farhang will mit Sonderregelungen die Ausländer anlocken - zum Beispiel mit einem Konzept für zollfreie Zonen. Ein Investitions- und ein Bankengesetz gibt es schon. Und wie will er den Unternehmern Sicherheit garantieren?
" Also ich glaube nicht, dass die Sicherheitslage in Afghanistan so schlecht ist, dass nirgends in Afghanistan die privaten Investoren investieren können. Wenn man Afghanistan mit dem Irak vergleicht, dann gibt es einen großen Unterschied. In Afghanistan passiert ab und zu mal was. Es werden einige NGOs oder andere Helfer überfallen, ansonsten ist die Lage nicht so schlecht, dass man sich ganz zurückzieht. Deshalb habe ich auch gesagt, dass Afghanistan für die privaten Investoren eine Reise wert ist. "
An schnelle Lösungen für den schwierigen Neuanfang in seinem Land glaubt aber auch Minister Farhang nicht.
" Der Wiederaufbau Afghanistans wird lange Zeit in Anspruch nehmen. Diese Strategie wollen wir für zehn bis fünfzehn Jahre entwickeln. Bis dahin werden wir die Richtung bestimmen, wie wir weitergehen. Länger kann man das nicht, weil die Welt immer sich ändert. Aber wir wollen dieses große Ziel erreichen, dass wir innerhalb von fünf bis zehn Jahren das Pro-Kopf-Einkommen der Afghanen von 220 Dollar auf 6-700 Dollar anheben. Und wenn wir das erreichen, dann haben wir einen großen Schritt gegen die Armut in Afghanistan gemacht. "