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Neue Filme
Atemlos durch die Nacht

Filme in ihrer gesamten Phantasie- und Ideenspannbreite sind ab morgen im Kino zu sehen. Der Zweistundenfilm "Victoria" ist in einer einzigen Einstellung gedreht, "Made in Ash" zeigt das Schicksal der jungen Roma Dortka und in der Dokumentation "Das dunkle Gen" begeben sich die Autoren auf die Spur der Volkskrankheit Depression.

Von Hartwig Tegeler | 10.06.2015
    Szene aus dem Film "Victoria" von Sebastian Schipper mit Frederick Lau, Franz Rogowski und Laia Costa.
    Szene aus dem Film "Victoria" von Sebastian Schipper mit Frederick Lau, Franz Rogowski und Laia Costa. (Senator Film)
    "Das dunkle Gen"
    Ob er sich schon einmal umbringen wollte, fragt die Ärztin den an einer Depression Erkrankten in "Das dunkle Gen":
    "Ja. - Ich habe aus dem Krankenhaus Medikamente mir verschafft.
    "Wollten Sie sterben wirklich?"
    "Ja!"
    Ja, sagt Frank Schauder, Arzt und Patient in Personalunion. Der Patient erkrankt seit Jahren immer wieder an einer Depression:
    "Wenn eine Depression kommt, dann ist es eigentlich so, als würdest du ertrinken in einer Badewanne, du kommst oben nicht mehr an. Und dann bist du ganz unten."
    Der Arzt Schauder will etwas über die genetischen Ursachen für die Krankheit wissen, an der etwa vier Millionen Deutsche leiden. Miriam Jakobs und Gerhard Schick begleiten ihn in ihrem Dokumentarfilm auf seiner Recherchereise zu Genforschern und Ärzten, immer auf der Suche nach dem "dunklen Gen", das möglicherweise die Depression verursacht.
    Aber wie eindrucksvoll Schauders Erzählungen über seine Krankheitschübe sind, so sperrig steht dagegen die wissenschaftlichen Klärungsversuche, zumal die Humangenetiker, Molekulargenetiker oder Genomforscher, die Schauder interviewt, sagen, dass das "dunkle", das Depression-Gen wegen zu hoher Komplexität nicht oder noch nicht auszumachen ist.
    "Auf der Suche nach DEM Gen nach Depressionen habe ich eigentlich keine klare Antwort bekommen."
    Dass die Wissenschaft forscht und forscht, dies allein ist am Ende eine etwas dünne Erkenntnis.
    "Das dunkle Gen" von Miriam Jakobs und Gerhard Schick - empfehlenswert.
    "Made in Ash"
    Keine Ankunft im Paradies, wenn die junge Roma Dorotka in Ash, der tschechischen Kleinstadt an der deutschen Grenze, strandet. Ihre Mutter hatte sie rausgeschmissen; nun die Nähfabrik, bis sie und ihre Freundin Silvia arbeitslos werden. Wie kann jetzt für die junge Frau eine Zukunft aussehen? Wird es eine sein mit Johann aus Bayern, 50 Jahre alt, der hier eine kompakte Statusmeldung abliefert:
    "Habe ich ein großes Haus. Ein Auto. Und braucht ich ein Mädel. - Das ist interessant! - Wenn du Lust hast, dann könntest mal schauen."
    Aber als Dorotka in Iveta Grófovás Film "Made in Ash" das erste Mal mit Johann schläft, gibt es kein Geld - was ihre Freundin Silvia empört -, sondern nur die Aussicht auf die Reise nach Bayern. Iveta Grófovás Geschichte aus dem deutsch-tschechischen Grenzgebiet bietet keine Klischeebilder über Armutsprostitution, sondern zeichnet in einem semidokumentarischen Stil den tristen Alltag mit den Träumen von einem besseren oder zumindest einem Leben, das die Grundbedürfnisse befriedigt. Wenn Dorotka am Ende pragmatisch den Grenze Richtung bayerischer Westen überschreitet, dann ist das letzte Bild das mit dem neonerleuchteten Schild "Happy End". Und darunter steht noch zu lesen "Night Club. Hundert Meter links". Eine ziemlich böse Pointe in diesem eindrucksvollen Film, der bei uns im tschechischem Original mit deutschen Untertiteln im Kino, na ja, gut, mit Glück in ein paar wenigen Kinos zu sehen sein wird.
    "Made in Ash" von Ivetta Grófová - eindrucksvoll, empfehlenswert.
    "Victoria"
    Sebastian Schipper vor der Weltpremiere seines Film "Victoria", in dem es um einen Banküberfall geht.
    Sebastian Schipper vor der Weltpremiere seines Film "Victoria", in dem es um einen Banküberfall geht. (picture alliance / dpa)
    Fiebrig, voller Spannung, aufgeregt, aufgewühlt, hitzig, hastig, hektisch, rastlos, ungeduldig, unruhig ... und dann fügt das Synonymwörterbuch zum Anfangsbegriff "fiebrig" erstaunlicherweise auch noch das Adjektiv "ununter-brochen" hinzu. Und damit ist eine Menge gesagt über Sebastian Schippers Film "Victoria", dessen 139 Kino-Minuten ununterbrochen sind, soll heißen: aufgenommen in einer einzigen Einstellung. Gedreht also in einem gigantischen Fluss, in einer grandiosen Bewegung.
    Am Anfang trifft Victoria - die Spanierin Laia Costa gibt hier ihr Debüt -, Victoria trifft im Berliner Techno-Club auf Sonne, Boxer, Blinker und Fuß; Berliner Jungs, die schon eine Menge auf dem Kerbholz haben. Es ist eine Stunde vor dem Überfall auf die Bank. Sonne - Frederick Lau - beginnt sich zu vergucken in die kellnernde Spanierin. Aber Sonnes Kumpel Boxer schuldet Andi noch etwas.
    "Alles klar. Das sind Handschuhe, Masken. Zeigt mal, was ihr drauf habt."
    Und so erzählt Sebastian Schipper dann eben noch die dramatische Stunde nach dem Überfall. Die Stunde davor: Zeit der Unschuld. Die Stunde danach: nun ja, nicht nur formal, was die Radikalität der Bilder betrifft, sondern auch vom Verlauf der Geschichte her erinnert der Film "Victoria" an Godards "Außer Atem". 139 Minuten raue, kantige Bilder, Reißschwenks mit der Kamera, kein Schnitt, wie gesagt, mal hektisch, dann, wenn Victoria Sonne etwas vorspielt auf dem Klavier, ruhig. Um wieder vorwärts zu preschen in dieser Nacht.
    Nun kann man denken, dass ein Film, gedreht in einer solchen mehr als zweistündigen Einstellung, sich selber eben deswegen geschickt vermarktet. Aber Sebastian Schipper erzählt in seinem ununterbrochenen Berlin-Film eine fieberhafte, wunderbare, mitreißende Geschichte vom Ende eben der Unschuld. Form und Inhalt, sie haben sich hier vollkommen überzeugend gefunden.

    "Victoria" von Sebastian Schipper - herausragend.