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Der Reiz des Anderen

Die Installation „Floating Piers“ steht im Mittelpunkt der Doku „Christo – Walking on Water“. Die Vision eines Elfjährigen, Astronaut und Erfinder zu werden, ist Thema in „Alfons Zitterbacke“. Und „Border“ erzählt von einer Frau, die ganz anders ist als andere. Vielleicht nicht einmal ein Mensch.

Von Hartwig Tegeler | 10.04.2019
Menschen laufen bei Sonnenschein auf der Installation "Floating Piers" des bulgarischen Künstlers Christo im Sommer 2016 auf dem Iseo-See - im Hintergrund sind Berge zu sehen.
Die Installation "Floating Piers" des bulgarischen Künstlers Christo im Sommer 2016 auf dem Iseo-See (imago/Insidefoto)
"Border" ist ein Film über das Andere, das Andersartige. Tina in Ali Abbasis Film ist eine Erscheinung, die in uns Abwehr auslöst: die merkwürdig vorgewölbte Stirn, die an einen Neandertaler erinnert, der gedrungene Körper, der sich behäbig, fast animalisch bewegt. Aber Tina, die Zollbeamtin, ist eine Expertin, denn wie ein Tier kann sie wittern:
"Ich habe gerochen, das was nicht stimmt. Ich kann so was spüren. Scham, Schuld, Wut. Und dann denke ich mir den Rest."
Mysthisches Wesen mit übernatürlichen Fähigkeiten
Tina lebt ein einsames Leben. Stoisch verrichtet sie ihren Dienst; aber als sie einen Reisenden mit kinderpornographischem Material entlarvt, spüren wir ihre Verletzlichkeit. Und wenn sie im Wald mit den Tieren kommuniziert, wirkt sie wie ein mythisches Wesen. Als sie Vore kennenlernt, der eine ähnliche Physiognomie hat wie sie, entdeckt sie jemanden, der so zu sein scheint wie sie:
"Seit ich erwachsen bin, ist mir klar, dass ich nur ein hässlicher mit einem Chromosomenfehler bin."
"Chromosomenfehler? An dir ist nichts falsch, glaube mir."
"Border" ist ein Film, in dem sich die nordische Mythologie um die Trolle mit einem Genrefilm vermischt, denn Tina wird in die Ermittlungen um einen Pädophilen-Ring hineingezogen und kann dabei das Geheimnis ihrer Vergangenheit aufdecken. Der Genrefilm bietet ihm die Möglichkeit, sagt der schwedisch-iranische Regisseur Ali Abbasi, "die Gesellschaft durch die Linse eines Paralleluniversums" zu sehen. So entwickelt Abbasis Film "Border" einen eindrucksvollen Diskurs über Rassismus und Ausgrenzung. Am Ende erweist sich Tina, dieses mythische Anders-Wesen, als jemand, der voller Mitgefühl ist. Trotz aller Diskriminierung durch die Menschen.
"Border" von Ali Abbasi – herausragend
Zunächst das Wesentliche:
"Eltern sind doof."
Meint Alfons. Und Freundin Emilia stimmt natürlich zu:
"Ja, manchmal schon."
"Alfons Zitterbacke" ist ein Film über das Andere, das Andersartige und darüber, wie einer gegen alle Widerstände seiner Vision folgt - auch wenn der elfjährige Alfons zwar ein ziemlicher Pechvogel ist. Denn die meisten Ideen, die er hat, gehen mächtig in die Hose. In dem Traum, den der Junge am Anfang träumt, bringt er denn auch die ganze ISS-Weltraumstation ins Schliddern. Alfons will Erfinder und Astronaut werden. Und noch etwas zeichnet ihn aus: Der chaotische Anti-Held von Gerhard Holtz-Baumert war in der DDR ein Kinderbuch-Klassiker inklusive Defa-Film und Fernsehserie.
Durchhalten trotz Identitätskrisen
Jetzt, in der modernisierten Version von Mark Schlichter, setzt Alfons alles daran, den Fluggeräte-Wettbewerb der Schule zu gewinnen - was insofern ein Problem ist, als der Pechvogel gerade vom Unterricht suspendiert ist, weil er das Chemie-Labor in die Luft gejagt hat. Trotzdem - und das ist die Philosophie des Alfons-Zitterbacken-Universums und nun auch die des Films - durchhalten, aushalten und weitermachen; egal, was die Leute von einem halten. Zumal Emilia, die Freundin, Alfons aus tiefsten Identitätskrisen heraushilft.
"Zitterbacke hat 'ne Macke, oih, oih, oih! Das meine ich."
"Ich dachte, alle großen Erfinder werden am Anfang ausgelacht. Gehört das nicht dazu?"
"Na klar hast du eine Macke. Das ist doch nicht gemein. Jeder hat eine Macke, eine Macke ist was völlig Normales."
Eine Erkenntnis, die beste Voraussetzung ist für die Akzeptanz des Anderen.
"Alfons Zitterbacke" von Mark Schlichter – empfehlenswert
"Christo – Walking on Water" ist ein Film über ein Begehren, das sich verwirklicht hat. Natürlich kann man das daran ablesen, dass Christos Installation "The Floating Piers" 2016 Realität geworden ist. Aber vor allem kann man es am Gesicht des Künstlers erkennen, seinem zufriedenen bis glücklichen Lächeln, wenn der heute 84-Jährige auf künstliche Piers in wunderbarem Orange schaut, die auf dem Wasser des Iseo-Sees zum abstrakten, begehbaren Kunstwerk werden.
Die Kunstwerke, die er und seine 2009 verstorbene Frau Jean-Claude geschaffen haben: "völlig nutzlos", sagt Christo; existierten nur, weil sie beide sie sehen wollten. Der bulgarische Regisseur Andrey Paounov erzählt nun die Entstehung von Christos Installation "Floating Piers" in seinem Film "Christo – Walking on Water" als eine Dramödie. Hauptfiguren: der Künstler Christo und Vladimir Yavachev, Christos Neffe und Projektleiter. Der eine, mal hysterisch-aufbrausend …
"This is horror, this is horror, this is horror-story!"
... dann wieder fast unbeholfen dastehend. Valdimir Yavachev dagegen, dieser Bär von einem Mann, aggressiv, dynamisch, brüllend ...
"Listen! Listen! That is I wanted to tell you a hour ago."
"They're idiots, they're totally idiots."
Reine Schönheit im vermeintlichen Chaos
Und mit dieser Energie leitet Vladimir Yavachey Christo durch den Wahnsinn des modernen Kunstbetriebs, im Kampf gegen Behörden, Kunstkäufer, die Preise drücken wollen und eine unberechenbare Natur, die sich anmaßt, der künstlerischen Vision etwas entgegen zu setzen und die Stoffbahnen in Orange hoch-, weg- oder zur Seite zu wehen. Die wunderbare Kunstdoku "Christo – Walking on Water" ist nie voyeuristisch, sondern eher in der Haltung reinster Verblüfftheit, dass solch' Schönheit aus solch' vermeintlichem Chaos entstehen kann.
"Christo – Walking on Water" von Andrey Paounov – herausragend