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Kino auf Erden

"Carol" von Todd Haynes gilt als großer Favorit der gerade eröffneten Filmpreissaison in Hollywood. Der Film über eine lesbische Liebe in den 1950ern ist für fünf Golden Globes nominiert und wird auch als Oscar-Anwärter gehandelt. Außerdem starten eine Neuverfilmung des Literaturklassikers "Madame Bovary" von Gustave Flaubert sowie die japanische Familiengeschichte "Unsere kleine Schwester".

Von Jörg Albrecht |
    Der Regisseur Todd Haynes präsentiert seinen Film "Carol" am 8. November 2015 in Hollywood.
    Der Regisseur Todd Haynes präsentiert seinen Film "Carol" am 8. November 2015 in Hollywood (dpa / picture alliance / EPA / Mike Nelson)
    "Carol" von Todd Haynes
    "Was für ein sonderbares Mädchen Sie sind!" - "Wieso?" - "Wie von einem anderen Stern."
    Von einem anderen Stern ist auch dieser Film. Todd Haynes hat ihn gedreht nach einem frühen Werk aus der Feder von Patricia Highsmith. In den 1950er-Jahren, in denen sie den Roman - damals noch unter einem Pseudonym - veröffentlicht hat, hätte er nicht die geringste Chance auf eine Verfilmung gehabt. Geht es doch in "Carol" - so der Titel von Buch und Film - um eine lesbische Liebe. Die beiden Frauen begegnen sich in einem Kaufhaus in Manhattan. Die schüchterne Therese, die dort als Verkäuferin arbeitet, weckt das Interesse der eleganten und noch verheirateten Carol.
    "Was tun Sie sonntags?" - "Nichts Bestimmtes. Und Sie?" "Hätten Sie Lust mich am Sonntag zu besuchen?" - "Ja."
    Wie die von Cate Blanchett gespielte Femme fatale Carol und Rooney Mara in der Rolle der anfangs scheuen Therese zueinander finden, lebt weniger von der - alles in allem überschaubaren - Handlung, als vielmehr von der feinsinnigen Inszenierung mit ihrem präzisen Gespür für Blicke, Gesten und Berührungen. Die künstlerische Umsetzung hat daran entscheidenden Anteil. Ausstattung, Kostüme, Bildkompositionen: Alles scheint hier das Echtheitssiegel der 1950er-Jahre zu tragen.
    Die dramatischen Momente spielt Todd Haynes allerdings weit weniger aus, als er es noch in seinem exzellenten Melodram "Dem Himmel so fern" getan hat. Hervorzuheben sind hier vor allem die Szenen zwischen Carol und ihrem Ehemann, der die gemeinsame Tochter als Druckmittel einsetzt.
    "Hör auf!" - "Solchen Frauen wie dir traue ich alles zu, Carol. ... Wenn du dich nicht sofort in dieses Auto setzt ..." - "Dann was? Dann ist es vorbei?" - "Zur Hölle mit dir! ..."
    "Carol" ist keine neuerliche Douglas-Sirk-Hommage, sondern eine atmosphärisch dichte Charakterstudie zweier Frauen. Eine Art weibliche Version von "Brokeback Mountain". Beide Filme sind in einer Zeit angesiedelt, in der gleichgeschlechtliche Liebe ein gesellschaftliches Tabu gewesen ist. In den großartigen Schauspielerinnen Cate Blanchett und Rooney Mara spiegeln sich Lauren Bacall und Audrey Hepburn. Vor 60 Jahren wären sie die perfekte Besetzung gewesen. Nur eben, dass damals die Verfilmung einer solchen Geschichte völlig undenkbar war.
    "Carol": empfehlenswert
    "Madame Bovary" von Sophie Barthes
    "Lieber Gott, gib, dass er der Richtige ist!"
    Da nützen auch alle Gebete nichts. Der Arzt, den Emma heiratet, ist nicht der, der sie zu einer glücklichen Ehefrau machen wird. Noch langweiliger als der leidenschaftslose Gemahl ist Emmas neues Zuhause. Das befindet sich nicht - wie erhofft - in Paris, sondern mitten auf dem Lande in der Nähe von Rouen.
    "Was ist denn, Madame?" - "Ich dachte, dies würde die glücklichste Zeit meines Lebens sein."
    Um der Langeweile zu entfliehen, wird die Arztgattin den Versuchungen kostbarer Kleider und Möbel sowie den Reizen zweier Verehrer erliegen.
    Wie viele Werke der Weltliteratur ist auch die tragische Geschichte der Madame Bovary schon häufig verfilmt worden. Und misslungen ist auch diese Adaption durch die französische Regisseurin Sophie Barthes nicht. Aber sie ist auch nicht mehr als ein hübsches Sittenbild, das in Äußerlichkeiten verharrt statt das Innenleben seiner Protagonistin und der Männer in ihrem Leben zu erforschen. Schade, denn die Australierin Mia Wasikowska überzeugt nach Jane Eyre auch als Emma Bovary.
    "Madame Bovary": zwiespältig
    "Unsere kleine Schwester" von Hirokazu Koreeda
    "Wie machen wir das mit seiner Beerdigung? ... Ist keine große Sache." - "Du kannst doch da hinfahren. ... Was?!"
    Die Nachricht vom Tod ihres Vaters stimmt Sachi, Yoshino und Chika nicht gerade besonders traurig. 15 Jahre haben ihn die drei Schwestern nicht mehr gesehen. So lange ist es schon her, dass er sie und ihre Mutter für eine andere Frau verlassen hat. Etwas anderes berührt die Schwestern dagegen umso mehr.
    "Tja, und er hat anscheinend eine Tochter." - "Wir haben also eine kleine Schwester? ..."
    Auf der Beerdigung werden die Drei, die immer noch gemeinsam unter einem Dach leben, ihre Halbschwester Suzu kennenlernen und ihr ein Angebot machen.
    "Suzu, möchtest du mitkommen?" - "Was?" - "Wir könnten auch zu viert zusammen wohnen. ... Du kannst ja darüber nachdenken." - "Dann bis bald. Ich komme. ..."
    Es könnte das Happy End dieser Geschichte sein, aber der Familienzusammenschluss steht am Anfang von Hirokazu Koreedas "Unsere kleine Schwester". Nun könnte sich im weiteren Verlauf die 13-jährige noch als Problemkind herausstellen. Aber erneut entspricht der Film nicht den Erwartungen. Suzu gliedert sich völlig problemlos in ihre neue Umgebung ein.
    Wer nach dramatischen Ereignissen sucht, wird sie zwei Stunden lang nicht finden. Denn Hirokazu Koreeda hat etwas ganz anderes im Sinn: In seiner geradezu beiläufigen, aber deshalb nicht langweiligen Beschreibung des Alltags der Schwestern reflektiert der Filmemacher über die Vergänglichkeit. Denn das Leben ist doch nichts anderes als ein langer, ruhiger Fluss. Das macht dieser entspannte Film auf wunderbare Weise deutlich.
    "Unsere kleine Schwester": empfehlenswert