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Nick Cave in Bestform und Mittelmaß bei Fatih Akin

Ab dieser Woche neu im Kino sind unter anderem das Nick-Cave-Porträt "20.000 Days on Earth", die Dokumentation "Das große Museum" und das Drama "The Cut" von Fatih Akin. Unser Kritiker hat sie sich schon mal angesehen.

Von Jörg Albrecht | 15.10.2014
    "20.000 Days on Earth": Der Musiker Nick Cave steht bei der Berlinale zwischen Produzent Iain Forsyth und Regisseurin Jane Pollard.
    "20.000 Days on Earth": Der Musiker Nick Cave steht bei der Berlinale zwischen Produzent Iain Forsyth und Regisseurin Jane Pollard. (AFP PHOTO / PATRIK STOLLARZ)
    "I wake, I write, I eat, I write, I watch TV. This is my twenty thousandth day on earth."
    Er wacht auf, er schreibt, er isst, er schreibt erneut, er sieht fern. Es ist sein 20.000. Tag auf der Erde. Wer ist Nick Cave? Um darauf eine Antwort zu finden, haben sich die Filmemacher Iain Forsyth und Jane Pollard gegen die typische Künstlerdokumentation entschieden. "20.000 Days on Earth" ist kein bebilderter und vertonter Wikipedia-Eintrag, der die einzelnen Stationen eines Lebens nur abklappert. Forsyth und Pollard suchen nach der Antwort auf einem anderen Weg. Sie inszenieren Nick Cave in fiktiven Szenen, in denen der Musiker, Schriftsteller und Schauspieler seine Seele öffnet und aus der realen Welt und der des Künstlers berichtet.
    "This is a world I am creating. ... versions of myself."
    Er erschaffe eine Welt voller Monster, Helden, Guter und Böser, berichtet Nick Cave. Sämtliche Figuren, die in dieser Welt leben, sterben oder zerrinnen, seien lediglich verbogene Versionen seiner eigenen Person. Die Selbstanalyse wird unterbrochen von Treffen Caves mit Weggefährten wie Warren Ellis und Blixa Bargeld, aber auch ein Besuch beim Psychotherapeuten gehört dazu. Der fragt ihn: "Was ist Ihre früheste Erinnerung an einen weiblichen Körper, was die erste an Ihren Vater?" Und: "Wovor haben Sie am meisten Angst?"
    Nick Caves Ansichten gewähren tiefe Einblicke in die Gedankenwelt eines Mannes, der seine Lieder und Texte braucht wie die Luft zum Atmen. Nur wenn man in das Herz eines Songs eindringt und alles anderes um sich herum vergisst, könne man für einen Moment gottgleich sein.
    "If you gonna enter into a song ... godlike for a moment."
    Dieses ungewöhnliche und ungemein unterhaltsame Konstrukt von "20.000 Days on Earth" schafft eine Nähe zu seinem Protagonisten, wie es nur wenigen Dokumentationen über Künstler gelingt. Da ist es sogar verzeihlich, wenn von der Musik Nick Caves nur wenig zu hören ist.
    "20.000 Days on Earth": herausragend.
    "Wir müssen uns mit beiden Projekten ... an einen gewissen Budgetrahmen halten. Im Budget festgelegt sind die 180.000 Euro." - "Jedes Mal, wenn ich mit Ihnen spreche, Herr Dr. Frey, werden es weniger. Es waren 190."
    Der Geschäftsführer des Kunsthistorischen Museums Wien über die Gelder, die ihm für die nächsten Ausstellungen zur Verfügung stehen. Auch Johannes Holzhausens Film "Das große Museum" über die viertgrößte Gemäldegalerie der Welt ist eine außergewöhnliche Dokumentation. Sie beschreibt die vielfältigen Arbeitsabläufe in einem der bedeutendsten Museen, das über 1,6 Millionen Sammlungsobjekte beherbergt. Dieser rein beobachtende Streifzug in der Tradition des Direct Cinema kommt ohne Kommentierung aus und ohne auch nur ein einziges Interview. Das Resultat ist ein lebendiger, aufschlussreicher, hin und wieder sogar amüsanter Blick auf den Alltag von Kuratoren und Restauratoren, Haustechnikern und Kammerjägern.
    "Falle 9 - Nord: Sechs kleine Motten."
    "Das große Museum": empfehlenswert.
    Bis zu 1,5 Millionen Armenier sind in den Jahren 1915 und 1916 getötet worden. Der nackten Zahl eines systematischen Völkermordes, der von der Türkei bis heute geleugnet wird, gibt der deutsch-türkische Regisseur Fatih Akin jetzt in seinem Spielfilm "The Cut" ein Gesicht. Es ist das Gesicht des armenischen Schmieds Nazaret, der 1915 von seiner Familie getrennt wird und schwer verletzt ein Massaker überlebt. Nach einem Schnitt in den Hals stumm geworden, macht sich Nazaret auf die Suche nach seiner Frau und den Zwillingstöchtern.
    "Ich war zusammen mit deiner Familie auf dem Todesmarsch. Bevor Rakel starb, hat sie die Zwillinge zu einer Beduinenfamilie gegeben, um sie zu retten. ... Sie müssen irgendwo da draußen sein."
    Es ist der Beginn einer Odyssee für Nazaret, die ihn bis in die Vereinigten Staaten führen soll. Das exemplarische Einzelschicksal ist allerdings etwas zu schlicht konzipiert. Auch lässt es "The Cut" an der Intensität vergleichbarer Filme wie Roman Polanskis "Der Pianist" vermissen. Zu stark orientiert sich Fatih Akin an der Dramaturgie von epischen Abenteuerstreifen. Er hat - ohne Frage - einen wichtigen Film gedreht. Aber auch einen, der nicht wirklich überzeugt.
    "The Cut": zwiespältig.