Samstag, 04. Mai 2024

Archiv

Neue Filme
Zwei Epen und eine Dokumentation

Ein großer Favorit beim Europäischen Filmpreis ist der türkische Film "Winterschlaf" von Nuri Bilge Ceylan. Er hat Chancen auf gleich drei Auszeichnungen: Bester Film, Regie und Drehbuch. Mit 196 Minuten Laufdauer schlägt er außerdem den letzten Teil von Peter Jacksons "Hobbit"-Trilogie, der wie die italienische Dokumentation "(K)ein besonderes Bedürfnis" diese Woche in Deutschland anläuft.

Von Jörg Albrecht | 10.12.2014
    "Winterschlaf" von Nure Bilge Ceylan
    "Du bist ein Theatermensch. Schreib über Dinge, von denen du was verstehst! ..."
    Das war deutlich. Necla nimmt, was Aydin angeht, kein Blatt vor den Mund. Seit der Trennung von ihrem Ehemann lebt sie wieder unter einem Dach mit ihrem Bruder, der früher mal Schauspieler war und jetzt in den Bergen Kappadokiens in Anatolien ein Hotel betreibt. Der Winter steht vor der Tür, nur noch wenige Gäste sind im Haus. Aydin, der wohlhabend ist, verbringt die meiste Zeit damit, Kolumnen über alle möglichen gesellschaftlich relevanten Themen für die regionale Tageszeitung zu schreiben.
    "Ich glaube, ich wäre höchstwahrscheinlich nicht mutig genug. - Wenn es worum geht? - Über Dinge, von denen ich eigentlich nichts verstehe, das Maul aufzureißen. ... Dann fandst du die Artikel wohl ziemlich schlecht. - Nein, ich sage nicht, dass die Artikel schlecht sind. Sie sind eher etwas anderes. - Etwas anderes. Was denn? Blutleer? - Ich habe jetzt nicht das passende Adjektiv. - Harmlos? - Meinst du vielleicht so etwas? - Vielleicht."
    Die kritischen Worte, die Necla findet, spiegeln eine subtile Kritik an der türkischen Gesellschaft. Aydin steht für den Intellektuellen, der keinen Mut hat und dessen Ansichten von geistigem Stillstand geprägt sind.
    "Wie gern hätte ich es erlebt, dass du ein einziges Mal die Stimme erhoben und Partei ergriffen hättest für ein Ideal, das womöglich Gefahr in sich birgt. Dass du mal Gefühle entwickelst, die dir keinen Nutzen bringen."
    Nihal, Aydins wesentlich jüngere Ehefrau, macht ihrem Mann ebenfalls schwere Vorwürfe. Seit Jahren haben sich Beiden voneinander entfernt, und so wird die Studie eines Patriarchen, die Nure Bilge Ceylan in "Winterschlaf" entwirft, zum Sittenbild eines Staates, der vom Schweigen, Heucheln und Versagen der intellektuellen Eliten gekennzeichnet ist. Durch den Film weht ein Hauch von Tschechow, den Ceylan sein großes Vorbild nennt.
    "Der Elefant gebar eine Maus. Es tut mir leid, dass ich eure Erwartungen nicht erfüllen konnte."
    Die in ruhigen Bildern inszenierte, über dreistündige Charakterstudie, unter deren Oberfläche ein komplexes Gesellschaftsporträt zutage tritt, ist durchaus anstrengend und verlangt dem Zuschauer einiges an Geduld ab. Aber wer sich darauf einlässt, wird mit einem klugen Filmessay belohnt, das allerdings einen Sinnspruch von Tschechow ignoriert: "Die Kürze ist die Schwester des Talents."
    "Winterschlaf": empfehlenswert.
    "(K)ein besonderes Bedürfnis" von Carlo Zoratti
    "Warum möchtest du so gerne eine Frau? Warum magst Du Frauen so sehr? - Weil ich gerne eine zum Küssen, Sex haben, Liebe machen hätte."
    Enea versucht schon lange eine Freundin zu finden. Immerhin ist er bereits Ende 20 und wartet immer noch auf sein "erstes Mal". Dass es mit der großen Liebe bei ihm bislang noch nichts geworden ist, könnte an einer Entwicklungsstörung liegen, unter der Enea leidet: Er ist Autist. Allerdings einer, der sich - anders als die meisten Autisten - nach Berührungen sehnt. Seine beiden besten Freunde Carlo und Alex wollen Enea dabei unterstützen, erste Erfahrungen mit dem anderen Geschlecht zu sammeln. Dazu wird das Trio auf eine Reise gehen. Vom Straßenstrich irgendwo in Norditalien geht es über ein österreichisches Bordell bis nach Norddeutschland zu einer Einrichtung mit dem Namen "Institut zur Selbst-Bestimmung Behinderter".
    "Hier kannst du herausfinden, wie es sich anfühlt eine Frau zu berühren. - Ja. - Damit du mehr Erfahrung hast. - Hier kannst du üben. - Ja, das möchte ich."
    Die Dokumentation "(K)ein besonderes Bedürfnis" ist das Debüt des Italieners Carlo Zoratti. Er ist aber nicht nur Regisseur, sondern auch einer der beiden Freunde von Enea. In jeder Szene ist die Unverkrampftheit zu spüren, aber auch das Einfühlungsvermögen, mit dem Zoratti sein Projekt angegangen ist. Ein Wermutstropfen ist allenfalls die Entscheidung, über die italienischen Passagen deutsche Stimmen zu legen.
    "(K)ein besonderes Bedürfnis": akzeptabel.
    "Der Hobbit: Die Schlacht der fünf Heere" von Peter Jackson
    "Werdet ihr mir folgen? Ein letztes Mal."
    Eigentlich müsste die Antwort ein klares "Nein!" sein. Denn die Begeisterung, die vor über zehn Jahren noch "Die Herr der Ringe"-Trilogie ausgelöst hat, ist der Ernüchterung über einen auf ebenfalls drei Filme ausgewalzten "Hobbit" gewichen. Regisseur Peter Jackson hat nicht nur alles, wirklich alles aus den gut 300 Buchseiten herausgeholt. Für das nun insgesamt achtstündige Epos musste er sogar noch einiges dazu erfinden.
    In "Die Schlacht der fünf Heere" werde der Fokus - so Jackson - auf die Hauptfiguren gelegt. Das sei der Film von Bilbo, Thorin, Bard, Tauriel und Legolas.
    Klingt nach einer Reise in das Innerste der wichtigsten Charaktere im "Hobbit", ist aber beinhart gelogen. Selbst die titelgebende Figur des Hobbits geht im Schlusskapitel unter. Eine minimale Handlung steht einem maximalen Schlachtengetümmel gegenüber.
    So wird der Entscheidungskampf in einem nicht enden wollenden Showdown präsentiert. Die "Ringe"- und "Hobbit"-Fans wird das begeistern, alle anderen einfach nur anöden. Die letzte Reise nach Mittelerde ist vollbracht. Gut so.
    "Der Hobbit: Die Schlacht der fünf Heere": zwiespältig