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Neue Funde und alte Bekannte

Die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg gilt unter Pechstein-Sammlern und Kunstkritikern als künstlerisch uninteressant. Die Kunsthalle zu Kiel will mit diesem Vorurteil aufräumen und würdigt erstmals das nur selten gezeigte Spätwerk Max Pechsteins.

Von Carsten Probst |
    Auf den ersten Blick verbindet sie scheinbar wenig: George Grosz und der zwölf Jahre ältere Max Pechstein waren in ihren Hauptschaffensphasen höchst unterschiedliche Vertreter des Expressionismus. Der dadaistisch inspirierte Moralist Grosz, der mit seinen Kritzelzeichnungen ein sarkastisches Gesellschaftstableau der Weimarer Republik entwarf, hatte künstlerisch offenbar eine völlig andere Richtung eingeschlagen als Pechstein. Der gelernte Dekorationsmaler, der später unter dem Einfluss der Brücke-Künstler die Farbe entdeckte, hat sich nie auf die radikaleren, aggressiveren Experimente eingelassen, sondern stets das Ebenmaß und die Schönheit der Figuren und Farben betont. Dennoch standen sich beide schon zu dieser Zeit in ihren antibürgerlichen, politischen Ansichten nah.

    Doch die große Max Pechstein-Retrospektive in der Kieler Kunsthalle fördert nun noch eine ganze andere Gemeinsamkeit zu Tage, die in der Konsequenz weit über das Verhältnis dieser beiden hinausreicht. Denn erstmals wird in Kiel das während und nach dem Zweiten Weltkrieg entstandene und seitdem nur selten gezeigte Spätwerk Max Pechsteins ausgiebig gewürdigt. Und dieses Spätwerk zeigt einen scheinbar völlig anderen Künstler: Einen Künstler der Strandidyllen, exotischen Landschaften, versonnenen und mitunter fast spätimpressionistisch wirkenden Naturfantasien.

    Dieser Teil des Pechstein-Werkes wurde von den Pechstein-Sammlern der Hauptschaffensphase ungefähr zwischen 1908 und 1918, die bis heute die höchsten Preise erzielt, stets als künstlerischer und qualitativer Einbruch bewertet. Und zweifellos war Max Pechstein auch in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg trotz vielfacher Anerkennung ein gebrochener Mann, der fast alles verloren hatte. Seine geliebten Ostseelandschaften an der Ostpommerschen Küste, wo er lange gelebt und gearbeitet hatte, gehörten seit 1945 zu Polen und waren unerreichbar geworden.

    Das Gleiche galt schon viel früher für den Südsee-Archipel der Palau-Inseln, einer deutschen Kolonie, wo Pechstein um 1914 sein persönliches Paradies gefunden zu haben meinte. Während des Ersten Weltkriegs wurden diese Inseln jedoch von den Japanern besetzt. In den Bombennächten des Zweiten Weltkriegs verlor Pechstein, der von den Nazis als "entartet" eingestuft war, Tausende seiner Zeichnungen, und auch etliche Gemälde gingen verloren. Der Versuch schließlich, nach dem Ende des Krieges wenigstens an der mecklenburgischen Küste, auf der Insel Usedom eine Kompensation für seine alten Sehnsuchtsorte zu finden, scheiterte am beginnenden Kalten Krieg. Zwar wurde der gebürtige Zwickauer früh in seiner Heimatstadt geehrt und dort auch ein Max-Pechstein-Preis ins Leben gerufen. Zugleich aber spürte Pechstein, dass er politisch vereinnahmt werden sollte und als einstiger "Entarteter" nicht unbedingt auf große Wertschätzung in der Bevölkerung hoffen konnte. Als Karl Hofer ihn an die West-Berliner Hochschule für Bildende Künste berief, nahm er an - und besiegelte damit zugleich den Verlust seiner alten Heimat im Erzgebirge. Als 70-Jähriger äußerte er sich 1951 über sein Spätwerk, mit dem er versuchte, die Vergangenheit, die Zeit vor den Kriegen und Verlusten, wiederherzustellen.

    "Ich habe mich vollkommen wieder hineinversehen in dieses Leben, um fern zu sein von allem, was um mich herum ist und heutigentags passiert."

    Pechstein, obwohl er nie wie George Grosz und zahllose andere Künstler im Exil gewesen ist, hatte mit der Welt nach dem Zweiten Weltkrieg abgeschlossen. Auch Grosz' Spätwerk, seine Strandidyllen und bisweilen erotischen Fantasien haben nichts mehr zu tun mit dem Grosz' der 20er-Jahre und dienten dazu, sich aus dem, was an Gegenwart übrig geblieben war, wegzuträumen. An ihren Biografien zeigt sich der ganze Bruch des künstlerischen Selbstverständnisses, das Erbe der Nachkriegsmoderne. Die Kieler Kunsthalle dokumentiert Pechsteins künstlerische Wandlungen mit Empathie und Feingefühl, ohne dabei auf die Verdikte des Kunstmarktes zu schauen. Gerade das macht sie aber so sehenswert.
    Kieler Kunsthalle
    Kieler Kunsthalle (Kunsthalle zu Kiel)