Die Textsammlung dokumentiert eine Ringvorlesung an der Universität Wien zur Geschichte der Sexualität in Ostasien und Zentraleuropa. Bei den zwölf Beiträgen zu den Themenkomplexen "Kulturen", "Bilder", "Queer", "Post-Moderne" gilt es, den programmatischen Plural dieser Geschichten nicht aus dem Blick zu verlieren. Gleichwohl präsentieren Anthropologen, Japanologen, Linguisten, Kunsthistoriker u.a. nicht etwa Erzählungen, sondern Forschungsergebnisse zur Sexualität des Menschen der letzten drei Jahrhunderte. Der sowohl interdisziplinäre als auch transkulturelle Ansatz der Fragestellung nimmt sich insofern vielversprechend aus, als das Sexuelle - gelebte Sexualität, deren Normen und Abweichungen - neben der jeweiligen Rechtsprechung und Kunst einer Epoche sehr präzise Rückschlüsse auf deren Politik, Kultur, Religion, Moral zulassen. Die Herausgeber gehen von der Prämisse aus, daß die Wahrheit des Sex produziert wird. Damit berufen sie sich ausdrücklich auf die von Michel Foucault mit seiner Geschichte der Sexualität 1976 eingeleiteten Wende, Sexualität nicht mehr länger - gleich Freud - als Triebgeschichte, sondern als Macht- und Kulturgeschichte zu entziffern..
Entsprechend betitelt Sabine Frühstück ihre Studie über sexuelle Kulturen in Japan und China mit: "Von der Erfindung der ‚fernöstlichen Sexualität'". Waren während der Edo-Zeit (1603-1867) die Kindestötung bzw. die Abtreibung das einzige Mittel der ‚Familienplanung', so erfindet der japanische Frauenarzt Ogino in den 30er Jahren unseres Jahrhunderts die Methode der periodischen Enthaltsamkeit. Gleichzeitig wächst, erfahren wir, der Widerstand der japanischen und chinesischen Regierungen gegenüber jeglicher Form der individuellen Verhütung, und wie in Nazi-Deutschland tritt die Eugenik ihren Siegeszug an. Die als staatsgefährdend erachteten Sexualreformen wurden in beiden Ländern praktisch bis zu den 80er Jahren eingefroren. Vorehelicher Sex sowie Homosexualität sind bis heute tabuisiert, die chemische Kontrazeption, d.h. die ‚Pille', bisher aus moralischen Gründen verboten, ist der Japanerin legal erst seit 1999 (!) zugänglich.
Je repressiver die Sexualpolitik einer Gesellschaft, desto größer der Markt für Pornographisches, könnte man sagen. Sepp Linhart demonstriert dies anhand der erotischen Holzschnitte Japans, den ukiyo-e, die während der Edo-Zeit in Umlauf kamen. Der Autor hebt hervor, daß erst die entsprechende Technik der Vervielfältigung, also der Holzschnitt, ab Mitte des 17. Jahrhunderts erotischer bzw. pornographischer Kunst gesellschaftliche Bedeutung verleihen konnte. Und zwar in einem durchaus subversiven Sinne. Denn Linhart macht deutlich, daß die ukiyo-e wie auch die shun-ga - Frühlingsbilder - genannten Erotika weniger der Sexualerziehung dienten, sondern frühe Pin-ups, veritable Onaniervorlagen waren. 1872 wird der Handel mit erotischen Holzschnitten verboten, parallel dazu wurde Nacktheit in der Öffentlichkeit - so der japanische Brauch des gemeinsamen Nacktbadens von Männern und Frauen - verfolgt. Dagegen kam es aus politischem Kalkül in Kriegszeiten zu einer Lockerung des Verbots erotischer Abbildungen, z.B. während des Chinesisch-Japanischen Kriegs , dann während der Russisch-Japanischen Auseinandersetzungen. Kurz darauf, 1907, werden die Grafiken nebst Druckstöcken in einer großen Säuberungsaktion konfisziert.
Die Zensur pornographischer Holzschnitte und generell der Darstellung von Schamhaaren und Genitalien wurde in Japan erst 1986 aufgehoben. Bis zu diesem Zeitpunkt wurden westliche Pornoimporte vorher an den anstößigen Stellen retouchiert, für den japanischen Betrachter ‚bereinigt'. In Europa galten bis in die 60er Jahre hinein vergleichbare Restriktionen. In Frankreich verfolgte man die Verleger de Sades, und noch Jacques Lacan, einer der Besitzer von Gustave Courbets Gemälde ‚Der Ursprung der Welt', scheute sich, diesen hyperrealistisch dargestellten weiblichen Schoß den Blicken beliebiger Besucher zuzumuten: er beauftragte den Künstler André Masson, für das obszöne Werk Courbets eine Art Maske - cache-sexe - zu malen, die vor das Original montiert wurde und die man bei Bedarf aufklappen konnte. Auf diese Weise stellte der Psychoanalytiker sicher, daß nur Berufene in den Genuß kamen, sich an diesem Kleinod seiner Kunstsammlung zu erfreuen. Der Courbet ist inzwischen im Musée d'Orsay von jedermann zu besichtigen - unverhüllt, versteht sich.
Dem Befund der Herausgeber: "Übereinstimmend zeigt sich, daß das Sexuelle radikal dem Sozialen und Kulturellen untergeordnet ist", kann man nur beipflichten. Angesichts von Aids, der größten Zäsur seit der Verfügbarkeit der ‚Pille' für Westler, überwiegt allerdings der ökonomische Aspekt, wie ich meine, insbesondere in den ärmsten Ländern der Welt. Wenn in Kenia ein katholischer Priester demonstrativ Kondome dem Scheiterhaufen übergibt zu einer Zeit, da man ein Viertel der Afrikaner als mit Aids infiziert einschätzt, während in der Folge davon in der ganzen sogenannten dritten Welt zunehmend Vollwaisen von ihren Großeltern erzogen werden müssen und die Kinderprostitution prosperiert, glaubt man sich ins Mittelalter zurückversetzt.
In der westlichen Welt minimiert sich denn auch die Konjunktion von Sex und Todesgefahr zu einem Risikofaktor, dem vernünftig vorzubeugen wäre. Wie es Wolfgang Dürs Geschlechter mit ‚Safer Sex' halten, geht aus seinem Referat - der einzigen empirischen Studie der Sammlung - freilich nicht hervor. Dürs Untersuchung galt der "Liebe ohne Zeit", den "zufälligen Intimsystemen", vulgo: dem One-Night-Stand in Österreich. Sein Resümee dürfte für unsere Breitengrade, für gegenwärtige Kommunikationsformen eben, exemplarisch sein: "Die große ‚Befreiung der Sexualität' hat zur vollkommenen Desorientierung der Geschlechter geführt, aber auch dazu, daß sie völlig aufeinander angewiesen sind."
Entsprechend betitelt Sabine Frühstück ihre Studie über sexuelle Kulturen in Japan und China mit: "Von der Erfindung der ‚fernöstlichen Sexualität'". Waren während der Edo-Zeit (1603-1867) die Kindestötung bzw. die Abtreibung das einzige Mittel der ‚Familienplanung', so erfindet der japanische Frauenarzt Ogino in den 30er Jahren unseres Jahrhunderts die Methode der periodischen Enthaltsamkeit. Gleichzeitig wächst, erfahren wir, der Widerstand der japanischen und chinesischen Regierungen gegenüber jeglicher Form der individuellen Verhütung, und wie in Nazi-Deutschland tritt die Eugenik ihren Siegeszug an. Die als staatsgefährdend erachteten Sexualreformen wurden in beiden Ländern praktisch bis zu den 80er Jahren eingefroren. Vorehelicher Sex sowie Homosexualität sind bis heute tabuisiert, die chemische Kontrazeption, d.h. die ‚Pille', bisher aus moralischen Gründen verboten, ist der Japanerin legal erst seit 1999 (!) zugänglich.
Je repressiver die Sexualpolitik einer Gesellschaft, desto größer der Markt für Pornographisches, könnte man sagen. Sepp Linhart demonstriert dies anhand der erotischen Holzschnitte Japans, den ukiyo-e, die während der Edo-Zeit in Umlauf kamen. Der Autor hebt hervor, daß erst die entsprechende Technik der Vervielfältigung, also der Holzschnitt, ab Mitte des 17. Jahrhunderts erotischer bzw. pornographischer Kunst gesellschaftliche Bedeutung verleihen konnte. Und zwar in einem durchaus subversiven Sinne. Denn Linhart macht deutlich, daß die ukiyo-e wie auch die shun-ga - Frühlingsbilder - genannten Erotika weniger der Sexualerziehung dienten, sondern frühe Pin-ups, veritable Onaniervorlagen waren. 1872 wird der Handel mit erotischen Holzschnitten verboten, parallel dazu wurde Nacktheit in der Öffentlichkeit - so der japanische Brauch des gemeinsamen Nacktbadens von Männern und Frauen - verfolgt. Dagegen kam es aus politischem Kalkül in Kriegszeiten zu einer Lockerung des Verbots erotischer Abbildungen, z.B. während des Chinesisch-Japanischen Kriegs , dann während der Russisch-Japanischen Auseinandersetzungen. Kurz darauf, 1907, werden die Grafiken nebst Druckstöcken in einer großen Säuberungsaktion konfisziert.
Die Zensur pornographischer Holzschnitte und generell der Darstellung von Schamhaaren und Genitalien wurde in Japan erst 1986 aufgehoben. Bis zu diesem Zeitpunkt wurden westliche Pornoimporte vorher an den anstößigen Stellen retouchiert, für den japanischen Betrachter ‚bereinigt'. In Europa galten bis in die 60er Jahre hinein vergleichbare Restriktionen. In Frankreich verfolgte man die Verleger de Sades, und noch Jacques Lacan, einer der Besitzer von Gustave Courbets Gemälde ‚Der Ursprung der Welt', scheute sich, diesen hyperrealistisch dargestellten weiblichen Schoß den Blicken beliebiger Besucher zuzumuten: er beauftragte den Künstler André Masson, für das obszöne Werk Courbets eine Art Maske - cache-sexe - zu malen, die vor das Original montiert wurde und die man bei Bedarf aufklappen konnte. Auf diese Weise stellte der Psychoanalytiker sicher, daß nur Berufene in den Genuß kamen, sich an diesem Kleinod seiner Kunstsammlung zu erfreuen. Der Courbet ist inzwischen im Musée d'Orsay von jedermann zu besichtigen - unverhüllt, versteht sich.
Dem Befund der Herausgeber: "Übereinstimmend zeigt sich, daß das Sexuelle radikal dem Sozialen und Kulturellen untergeordnet ist", kann man nur beipflichten. Angesichts von Aids, der größten Zäsur seit der Verfügbarkeit der ‚Pille' für Westler, überwiegt allerdings der ökonomische Aspekt, wie ich meine, insbesondere in den ärmsten Ländern der Welt. Wenn in Kenia ein katholischer Priester demonstrativ Kondome dem Scheiterhaufen übergibt zu einer Zeit, da man ein Viertel der Afrikaner als mit Aids infiziert einschätzt, während in der Folge davon in der ganzen sogenannten dritten Welt zunehmend Vollwaisen von ihren Großeltern erzogen werden müssen und die Kinderprostitution prosperiert, glaubt man sich ins Mittelalter zurückversetzt.
In der westlichen Welt minimiert sich denn auch die Konjunktion von Sex und Todesgefahr zu einem Risikofaktor, dem vernünftig vorzubeugen wäre. Wie es Wolfgang Dürs Geschlechter mit ‚Safer Sex' halten, geht aus seinem Referat - der einzigen empirischen Studie der Sammlung - freilich nicht hervor. Dürs Untersuchung galt der "Liebe ohne Zeit", den "zufälligen Intimsystemen", vulgo: dem One-Night-Stand in Österreich. Sein Resümee dürfte für unsere Breitengrade, für gegenwärtige Kommunikationsformen eben, exemplarisch sein: "Die große ‚Befreiung der Sexualität' hat zur vollkommenen Desorientierung der Geschlechter geführt, aber auch dazu, daß sie völlig aufeinander angewiesen sind."