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Neue Horizonte - Gedächtnis und Erinnerung

"Fugit irreparabile tempus" - dieser im Zeitalter der Wegwerfgesellschaft seltsam unpoetisch klingende Vers aus Vergils Georgica wird für gewöhnlich damit übersetzt, die Zeit fliehe unwiederbringlich dahin. Heute, zweitausend Jahre später, scheint die Erfahrung der Zeit eine grundlegend andere zu sein: Sie fließt nicht mehr als großer Strom am Menschen vorüber, sondern ist zu einem scharfkantigen Mosaik aus subjektiven Wahrnehmungselementen geworden.

Ulrich Woelk |
    Jeder hat seine eigene Zeit, die im Takt gehirnphysiologischer Prozesse schwingt: Psychologie und Neurologie haben die Zeit - mehr noch als die Physik - an ein materielles Substrat gebunden: das Individuum.

    Bereits Friedrich Nietzsche hat im zweiten Teil seiner "Unzeitgemäßen Betrachtungen" diesen Umbruch deutlich erkannt: "Fortwährend", so heißt es dort, "löst sich ein Blatt aus der Rolle der Zeit, fällt heraus, flattert fort - und flattert plötzlich wieder zurück, dem Menschen in den Schoß." Die Zeit entflieht nicht, sondern zirkuliert als immer wiederkehrende im Subjekt. Der Mensch kann das "Vergessen nicht lernen". Nietzsche bedauert das unverhohlen. In einer Sammlung wissenschaftlicher Essays unter dem Titel "Neue Horizonte - Gedächtnis und Erinnerung" verweist die Literaturwissenschaftlerin Aleida Assman auf das Mißtrauen des Philosophen allem Erinnern gegenüber. Statt dessen, so schreibt sie, " ... entwickelt er die These von der positiven Kraft des Vergessens, die er am Ende des 19. Jahrhunderts einem überfrachteten und überfeierten historischen Bewußtsein entgegenhält."

    Der in Zusammenarbeit mit dem Pharmakonzern Boehringer entstandene Band bemüht sich um Interdisziplinarität. Der Herausgeber der Essays, der Wissenschaftshistoriker und Publizist Ernst Peter Fischer, stellt gleich zu Beginn fest: "Gedächtnis und Erinnerung lassen sich durch keine Einzelwissenschaft erfassen." Drei der vier Fachaufsätze entstammen dennoch der Domäne der klassischen Neurowissenschaften. Aleida Assman ist die einzige, die sich dem Rätsel des Gehirns aus einer anderen Richtung nähert. Es ist die Selbstwahrnehmung der geistigen Tätigkeit, für die sie sich interessiert.

    Kunst im allgemeinen und Philosophie und Literatur im besonderen sind nicht nur Elemente einer geistig-kulturellen Tradition, sondern mitunter präzise beobachtete Aktivitätsprotokolle mentaler Vorgänge. Die Frage, die sich Aleida Assmann vorlegt, ist: Welche Aussage macht die Literatur über ihre eigene Grundlage, das Gedächtnis? Es zeigt sich, daß das dichterische Sprechen über die ihm unentbehrlichen Arbeitsprozesse des Erinnerns und Gedenkens fast nur in Bildern geschieht. Offensichtlich gibt es keine begrifflichen Abstraktionen, die geeignet wären, Denkabläufe direkt zu beschreiben. "Es fällt auf", schreibt Aleida Assmann, "daß sich die Basismetapher der Schrift oder Spur mit einer erstaunlichen Kontinuität durch die unterschiedlichsten Phasen der Kulturgeschichte hindurchzieht." Allerdings stehen auch auf der Ebene der Umschreibung Zeit und Gedächtnis nicht mehr in einem linearen, stromhaften Verhältnis zueinander, sondern in einem zirkulären: Das Vergangene verbleibt als Erinnerung in der Gegenwart. Aleida Assmann beobachtet eine Verschiebung von statischen Gedächtnismetaphern wie Buch oder Magazin, die von der Antike bis zur Renaissance vorherrschen, hin zu stärker prozessural geprägten in der Neuzeit wie Schlafen und Erwachen. Der vorläufig letzte Schritt in dieser Entwicklung ist das Bild des Netzwerks und des globalen Zugriffs, in dem jegliches Nacheinander zugunsten einer Allgegenwärtigkeit von Gedächtnis- bzw. Speicherinhalten verschwindet. Der Zeitstrom mündet in das stehende Gewässer der grenzenlosen Information. Nichts ist vergangen, alles ist abrufbar - für die einen ein Echtzeitparadies, für die anderen eine Datenhölle. Heiner Müller hat es so ausgedrückt: "Nämlich die Gespenster schlafen nicht / Ihre bevorzugte Nahrung sind unsere Träume."

    Eine Sammlung wissenschaftlicher Aufsätze ist sicher nicht das, was man jedermann uneingeschränkt zur Lektüre empfehlen wird, aber all denen, die sich sowohl für die medizinischen als auch die kulturellen Aspekte des Themas interessieren, bietet der "Neue Horizonte"-Band eine gute Möglichkeit sich einen Überblick über den aktuellen Stand der Gedächtnisforschung zu verschaffen.