Mittwoch, 01. Mai 2024

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Neue israelische Literatur. Ein Radioessay

Auch wenn die alte Garde der in Deutschland bekannten israelischen Autoren wie Meir Shalev fröstelnd, aber pünktlich wie Zugvögel auf Lesereise durch deutsche Buchläden touren und die Bandbreite der ins Deutsche übertragenen Werke wächst, die erfolgreichsten Romane kommen in diesem Jahr aus der israelischen Provinz und von Schriftstellerinnen, deren Arbeiten bisher eher einem kleineren Publikum bekannt gewesen sind, wie Dorit Rabinyan, geboren 1 972 in Kfar Saba bei Tel Aviv. Dorit Rabinyan:

Jochanan Shelliem | 24.11.2000
    "Die schönste Gute-Nacht-Geschichte sind für mich die regelmäßig scheiternden Versuche meiner Mutter gewesen, mir Märchen vorzulegen. Beim zweiten Kapitel, spätestens, fiel sie in einen gesunden Tiefschlaf, also habe ich mir das Lesen ziemlich früh selbst beigebracht. Sie war weder eine gute Vorleserin, noch war sie eine begabte Schauspielerin, da sie stets eingeschlafen ist. An meine Großmutter aber erinnere ich mich noch sehr genau. Sie wußte, wie man die Spannung in einer Geschichte versteckt, wo man Humor einsetzen muß. Ihre Art und Weise zu erzählen und die Geschichten die ich selber las, all das hat mein Schreiben sehr geprägt."

    Seit sich die junge sefardische Autorin von ihren Großmüttern, Tanten und Verwandten die Familienvergangenheit aus den goldenen Tagen im Iran erzählen ließ und mit ihrem fabelreichen Roman "Die Mandelbaumgasse", der 1998 auf deutsch bei Goldmann erschien und die Tradition arabisch-jüdischer Patriarchen wie Sami Michael auf feministisch selbstbewußte Weise weiterschrieb, gilt sie als shooting star. Mit ihrem neuen Roman "Unsere Hochzeiten" - wieder eine Chronik, wenn auch eine gebrochenere, verschachteltere, bitterere, die diesen Herbst bei Krüger auf deutsch erschienen ist - wendet sich Dorit Rabinyan der Vorstadttristesse neueingewanderter orientalischen Juden in Israel zu, thematisiert zugleich die Innenwelt einer Assimilation, die ihre eigenen Familie in Israel erlitt. Die Autorin:

    "Meine Eltern sind beide sind Teenager gewesen, als sie mit ihren Familen in den sechziger Jahren nach Israel gekommen sind, damals haben sie sich noch nicht gekannt, meine Mutter ist zwölf Jahre alt gewesen, mein Vater war sechzehn Jahre alt. Sie kamen beide aus Teheran, wohin ihre Familien die zuvor in Isfahan gelebt hatten, gezogen waren. Beide kamen aus der Jüdischen Gemeinde von Isfahan."

    Es ist keine vergiftete Praline, die Dorit Rabinyan mit ihrem zweitem Roman dem Leser reicht, aber ein bitterer Protest, der im Vexierspiel ihrer Fabulierkunst verborgen ist. Dorit Rabinyan erzählt vom Scheitern einer Einwanderfamilie im Gelobten Land. Anders als die Helden von Sami Michael und Eii Amir sind die persischen Vorfahren der sephardischen Familie von Dorit Rabinyan keine Zionisten, deren Kultur, wie David Ben Gurion es forderte, zu Wüstensand zermalmt der neuen Saat - und auch dem neuen Staat - als Dünger dienen sollte. Dorit Rabinyan rebelliert. Lyrisch und leise, denn sie genießt das Privileg der Zweitgeborenen, aber sie rebeiliert:

    "Jeder Autor, denke ich, nährt sich anfangs von dem, was er in seiner Familie erlebt hat. Mein Anfang ist ein anderer gewesen, ich habe nicht erzählt, was mir widerfahren ist, ich beschrieb in meinem ersten Roman "Die Mandelbaumgasse" das Leben meiner Großmutter im Iran. Und nun das Leben meiner Mutter in "Unsere Hochzeiten", ich nähere ich mich also auch einer eigenen Perspektive, aus verschiedenen Gründen aber habe ich mit der Geschichten meiner Ahnen angefangen. Es sind die Geschichten derer, die in Israel über keine Stimme verfügen, jener, die anscheinend über keine eigene Biographie verfügen, auch über keine eigene Kultur. Also nehme ich ihre Geschichte auf, doch ich schreibe auf hebräisch und so wird ihre Geschichte bekannt.

    Sami Michael und Eli Amir hatten es als erste gewagt, vom Leben der arabischen Juden im Iran, schlimmer noch, im Irak zu schreiben, also von der unerwünschten Erinnerung orientalischer Einwanderer, vom Reichtum jüdischen Teppichhändler, von der Kultur jüdischer Ärzte und dem freundlichen Miteinander im indischen Viertel von Damaskus bis der Nahostkonflikt ausbrach. Dazu Dorit Rabinyan:

    "Iranische Juden sind nicht nur stolz auf ihre Zugehörigkeit zur iranischen Nation, sie sind auch bekannt für ihren Stolz. Dieser Stolz aber stand und steht in einem krassen Gegensatz zu ihrer Wirklichkeit in Israel. Für die israelische Umwelt kamen sie aus einem Vakuum, aus einer kulturellen Wüstenei. Man hielt sie für primitiv, sie selbst aber hielten große Stücke auf ihre Tradition. Dieser Kontrast hat mein Schreiben motiviert. Ich habe die Diskrepanz nicht ausgehalten. Nach innen galt die Familienhierarchie als höchst richterliche Instanz, man achtete die Tradition, hielt die Gebräuche ein, pflegte die Vergangenheit, der Außenwelt aber galten wir nur als Juden aus dem Iran. Und persische Juden sind in Israel kein sehr geachteter Gesellschaftsstand, heute wird es besser, doch in den Siebzigern, den Achziger Jahren, in denen ich aufgewachsen bin, verfügten persische Juden und alle anderen Einwanderer aus dem Osten in Israel über kein hohes Prestige."

    Es ist eine persönliche Geschichte, die der Roman erzählt. Sophia, die Friseuse wird, zerbricht an der asthamischen Behinderung ihres kleinen Sohnes und an der Einsamkeit im Penthaus ihres Tränengasexporteurs. Sie war die schönste der Familie und hat das Geld gewählt. Ihre Schwester findet im Sex jene Fluchtmöglichkeit, die ihr die Wirklichkeit vorenthält. Dafür wird Lissi von ihrer ratlosen Mutter, später von ihrem verwirrten Mann geprügelt. Marcelle sucht nach der großen Liebe und verschläft das eigene Hochzeitsfest, weil sie erstarrt die eigene Wahl bereut. Der einzige Sohn, Maurice, ist dauergeil und findet nur Erfüllung bei einer russischen Hure, der er Arak, Anisschnaps, schenkt. Die Jüngste aber, Matti, trauert auch an ihrem elften Geburtstag um ihren toten Zwillingsbruder, von dem in der Familie keiner spricht. Sie ist abgeschoben worden, kommt aus dem Heim nur zu Besuch. Dorit Rabinyan erzählt von den kleinen Lügen und der bitteren Sehnsucht ihrer Figuren, schlägt süße Brücken in die orientalische Vergangenheit der Immigranten und verbirgt doch einen traurigen Unterton in ihren Arabesken. Auch Eli Amir erzählt vom Scheitern einer Integration, aber aus anderer Sicht:

    "Zwei Jahre nach dem Unabhängigkeitskrieg, ich war damals zehn Jahre alt nahm Papa mich mit zu Ben Sinors Villa in der Rachel-Immenu-Straße in Jerusalem. Unser Ziel war eine Zusammenkunft der Vetreanen der "Kämpfenden Familie", früberen Angehörigen von Menachem Begins Untergrundorganisation Etzel."

    Die Liebe des Sefarden Schaul zu Chaja, der polnischen Jüdin scheitert an den kulturellen Vorurteilen, mit denen die beiden in Israel aufwachsen müssen. Kraftvoll und männlich ist die Perspektive des Zionisten Eli Amir, der 1937 in Bagdad geboren, letztlich, auch wenn Shauls Liebe zerbricht, ein Loblied auf die sozio-ökonomische Durchsetzungskraft der sefardischen Einwanderer singt. Der Roman von Eli Amir. "Shauls Liebe" ist dieser Tage bei Lübbe erschienen und endet folgendermaßen:

    "Seit zwei Monaten gehört die Villa Ben Sinor mir. Die Nachricht, daß ich das Haus gekauft habe, ist bis in die Klatschspalten der Presse gedrungen. Aber das ist mir völlig egal. Ich hatte zwar, nachdem ich mich ( ...) langsam daran gewöhnt hatte, immer reicher zu werden, gelernt, in Gesellschaft und vor allem in der Öffentlichkeit strengen Wert darauf zu legen, daß über meinen Besitz und mein Vermögen nicht gesprochen wird, aber dieses Mal habe ich mir nicht die geringste Mühe gegeben, die Sache irgendwie verborgen zu halten.Morgen abend kommt Masi zum Essen. Wie Sie sich erinnern, hatten wir uns verabredet, uns nach den Wahlen in Israel zu treffen. Darum habe ich sie letzte Woche in Afeqa angerufen und sie in mein neues Heim eingeladen. Da ich ihr ohnehin das Haus zeigen will, habe ich ihr vorgeschlagen, bei mir zu essen anstatt im Restaurant. Ich habe ihr auch angeboten, daß sie, wenn sie mag, bei mir übernachten kann, und zwar in einer Art separater kleiner Einliegerwohnung. Masi hat die Einladung angenommen.Nun sitze ich in dem Sessel im großen Saal und zerbreche mir den Kopf über das Essen.Ich glaube, ich bestelle bei Al-Muselino auf dem Machane-Jekuda-Markt echte sephardische Hausmannskost nach der Küche unserer Eltern."

    Nicht aus dem Ausland stammt Zeruya Shalev.Ihre Eltern gehörten zu den Pionieren der zweiten Allijah, jener Einwanderungswelle, die vor dem Ersten Weltkrieg viele osteuropäische Sozialisten nach Palästina brachte. Zeruya ist die Kusine von Meir Shalev, der die Geschichte der Gründer vor Jahren in "Ein Russischer Roman" mit feinsinniger Heiterkeit und akuratem Kollorit beschrieb. Meir Shalev legt in diesem Herbst mit der Flucht seines Protagonisten Rafael in die Wüste aus dem Elternhaus, wo er von den fünf Frauen seiner Familie bemuttert wird, eine Liebeserklärung zu dem unberührten Biotop im überlaufenen Heiligen Lande vor.Doch die Lobeshymnen auf den Roman seiner Kusine verstellen derzeit den zarten Charme seiner Hommage an die Wüste, zumal der deutsche Titel "Haus der Großen Frau" den Leser auf eine falsche Fährte führt.Mit Gabriel Garcia Marquez Begräbnis der Großen Mutter hat Meir Shalevs verschmitzter Bericht über das Schicksal Rafaels allein unter Frauen aber auch garnichts zu tun. Ein Marketing Fehler des Diogenes Verlags. Zeruya Shalev:

    "Ich habe sehr früh angefangen zu schreiben...Als ich sechs Jahre alt gewesen bin.Ich weiß, daß hört sich sehr merkwürdig an.Anfangs schrieb ich Gedichte, Gedichte über Katzen, Hunde und Maulesel.Nach dem Sechs-Tage-Krieg, da war ich sieben Jahre alt, habe ich angefangen Gedichte und Lieder über Soldaten zu schreiben, über Soldaten, die sterben und verletzt sind, es waren sehr traurige Lieder.Aber ich habe immer geschrieben.Der Übergang von der Lyrik zur Prosa kam für mich später, etwa im Alter von dreißig Jahren. Gedichte habe ich immer geschrieben."

    Liebesleben", so der sehr Titel des Debutromanes der langjährigen Cheflektorin von Am Oved.Zeruya Shalev verbindet in ihrer atemlosen Achterbahnfahrt einer weiblichen Suche nach den Wahrheiten ihrer Vergangenheit Geschichten der geistlich-jüdischen Tradition mit der kleinbürgerlichen Gegenwart ihrer verwirrten Heldin. Zeruya Shalev.

    "Das Buch fängt damit an, daß Ja'ara zu einem Besuch in das Haus ihrer Eltern kommt. Zu ihrer Überraschung öffnet ihr ein völlig fremder Mann die Tür. Ein Mensch, der sich verhält, als sei er der Hausherr, ein Unbekannter, den sie noch nie gesehen hat. Bald aber stellt sich heraus, daß seine Anwesenheit sehr viel mit der Stimmung in ihrem Elternhaus zu tun hat. Die Mutter liegt mit einem nassen Tuch auf ihrer Stirn im Bett, der Vater sitzt im Wohnzimmer, etwas erschreckt, ein bißchen aufgeregt und sie versteht, daß dieser Mann sehr viel Einfluß auf das Leben ihrer Familie hat. Im Laufe des Buches enträtseln sich viele Geheimnisse, auch einige tragische, von denen sie nichts wußte. Sie beginnt zu begreifen, daß Arie ein Freund ihres Vater ist. Aber erst gegen Ende des Romans entpuppt sich, daß er die große Liebe ihrer Mutter gewesen ist, daß sie ihn einst hatte heiraten wollen. Was sie aus ganz verschiedenen Gründen nicht tat, sondern stattdessen mit ihm brach. Den Bruch versucht Ja'ara zu kitten. Wenn sie den reparieren kann, denkt sie, wird sich ihr Leben ändern. Das ist unmöglich, aber es ist ihr Weg, ihre verschüttete Individualität und Selbstständigkeit wieder zu entdecken und sich der Wahrheit, auch wenn sie hart ist, zu stellen."

    Insofern ist "Liebesleben" auch ein Roman über die Geheimnisse einer jüdischen Familie, einer Vergangenheit, die sich jedoch nicht auf den Holocaust bezieht. Eine Vergangenheit mit Lügen, aber ohne Weltkrieg. Der Roman beschreibt die Odysse der Hauptfigur auf ihrem Weg zur Wahrheit, die Suche von Ja'ara nach dem Allerheiligsten, das ihr Leben geprägt hat. Die Autorin:

    "Am Anfang des Buches weiß sie nicht, was Liebe ist. Am Ende aber, versteht sie schon ein wenig davon. Am Anfang glaubt sie, daß es Liebe ist, wenn jemand auf dich achtet, sich um dich kümmert. Daß er dich liebt, daß du ihn liebst, später glaubt sie, daß Liebe die erotische Anziehung ist, daß das, was sie Arie gegenüber empfindet, Liebe ist. Obwohl er sie einige Male im Verlauf des Buches fragt: "Liebst du mich? Was liebst du an mir ?" hat sie ihm nichts zu sagen, weil sie nichts an ihm liebt. Sie sagt: "Ich mag die Art, wie du die Zigarette anzündest." Doch das ist lächerlich, das ist keine Liebe. Aber weil sie sich zu ihm hingezogen fühlt und an ihm hängt, glaubt sie, daß das Liebe sei. Ich denke, daß sie erst gegen Ende des Romans einen Weg findet, um sich zu beherrschen. Daß sie dann zu verstehen beginnt, was die Liebe nicht ist. Sie versteht,daß es nicht die erotische Anziehungskraft ist, sondern die Art sich auf jemandem echt und tief zubeziehen. Sie lernt, daß Liebe nur aus der eigenen Kraft entstehen kann.Es klingt banal, doch zuerst muß sie sich selbst lieben, bevor sie einen anderen lieben kann.Sie begreift, daß sie bisher nicht begriffen hat, was Liebe ist.Weil sie die Liebe aber noch nicht entdeckt hat, deswegen ist der Name Liebesleben einerseits ironisch, andererseits doch auch exakt."

    Illusionslos beschreibt Zeruya Shalev auch die erotischen Calvarienstation von Ja'ara, grenzenlos scheint die Naivität ihrer Protagonistin, die Erungenschaften der Frauenbewegung wie von einem anderen Stern, gleichzeitig behält sie auch in den erotischen Passagen des Romans den entlarvenden Blick ihrer Protagonistin bei. Zeruya Shalev:

    "Am Ende des Romans ist sie dazu fähig, sich zu emanzipieren.Die Befreiung der Frau ist aber selbst in meiner Generation noch ein Prozess.Wir kommen nicht als emanzipierte Wesen auf die Welt.Und wir brauchen Zeit, dazu heranzuwachsen.Und ich glaube, daß das Buch unter anderem wirklich davon handelt, wie eine junge Frau, sich auf diesen Weg macht in ihre Unabhängigkeit.Es ist ein schwerer Weg und manchmalwirst man nur aus Schaden klug.Das ist es, was ihr passiert.Sie macht sehr viele Fehler.Obwohl ich nicht glaube, daß es im Endeffekt Fehler gewesen sind, weil sie aus ihnen lernt."

    Ein Beispiel, wenn auch ein drastisches ist die Szene des ersten Ausfluges von Ja'ara mit Arie, ihrem Geliebten. Dazu die Autorin: "Ja'ara fährt mit ihrem Liebhaber nach Jaffo.Arie hat sie eingeladen und sie ist sehr aufgeregt, es ist das erste Mal, daß er die Initiative übernommen hat.Bis jetzt ist sie diejenige gewesen, die sich engagiert hat.Nun lädt er sie zum ersten Male ein, dieser Umstand erregt sie, aber er belastet sie auch auf eine gewisse Art und Weise. Sie kommen nach Jaffa. Und Ja'ara glaubt, daß sie dahin gefahren sind, um an das Meer zu gehen, Restaurants zu besuchen und Galerien zu sehen. Zu ihrer Überraschung führt er sie aber in ein Studio, wo sie einem älterer Mann, namens Schaul, begegnen, später wird sie erfahren, daß Schaul ein Richter ist. Sie trinken Schnaps und Ja'ara wird ein etwas betrunken. Langsam zieht Arie sie ins Bett, während der andere zusieht. Ich glaube, daß sie nicht wirklich versteht, wie ihr geschieht, sie ist angetrunken. Aber auf irgendeine Weise, gefällt es ihr das, was sie geschieht. Es erregt sie, erweckt sie zum Leben. Ich glaube wirklich, daß das der Punkt ist. Anschließend versucht der zweite Mann, sich dieser Orgie anzuschließen. Hinterher stellt sich heraus und daß ist der erschütternde Teil, daß dieser zweite Mann gleichfalls ein Jugendfreund des Vaters ist und sie versteht, daß sie mit zwei guten Freunden ihres Vaters geschlafen hat. Daß die beiden in seinem Alter sind, mit ihm studiert haben. Als sie das Ganze mehr erträgt, verliert sie das Bewußtsein. Doch während sie zwischen den beiden nackten Alten sitzt, hat sie das Gefühl von Lebensenergie. Trotz der Schäbigkeit dieser Situation verleiht ihr das einen Genuß, trotz der Erniedrigung und Scham ist es für sie das wertvoll gewesen, sie spürt jetzt, daß sie lebt. Das es anscheinend in ihrem Alltag etwas gibt, ein Teil von ihr, der tot ist und der erwacht. Sie glüht vor Aufregung und Leben. Das sie in Ohnmacht fällt, deutet an, daß sie so etwas nicht gewöhnt ist. Aber sie kann nicht aufhören, weil sie leben will. Sie holt das raus, was das Leben ihr zu bieten vermag. Erst durch diese Erniedrigung empfindet sie ihre Weiblichkeit.

    Ein anderes Beispiel für ihren entlarvenden Blick ist als Arie, der Liebhaber sie in das eheliche Schlafzimmer seiner Wohnung einsperrt, während die Trauergäste eintreffen und ihm zum Tod seiner Gemahlin kondolieren, und er sich dann für eine Weile zu gesellt, sich auszieht, um mit ihr zu schlafen und nack auf die Toilette geht, als er zurückkommt hängt ein kleiner Tropfen an seinem schlaffen Penis, ein gelblicher kleiner Tropfen, von dem Ja'ara den Blick nicht abwenden kann. Die Autorin:

    "Ein kleiner symbolischer Urintropfen. Ein Teil der Angelegenheit ist, daß es hier ganz offensichtlich eine erotische Anziehung gibt. Gleichzeitig aber hat sie die ganze Zeit über auch einen zynisches Auge auf das Geschehen und sich selbst, das ist es, was ihre Sichtweise so besonders macht, daß sie sich verliebt, dabei aber nicht glaubt, daß dieser Mann wunderbar ist und daß alles, was sie mit ihm erlebt, so herrlich ist. Sie steht die ganze Zeit in einem Konflikt. Sie sieht die ganze Zeit, was sie an ihm anzieht und was sie von ihm abstößt. Und dieser Blick auf den Tropfen Urin an seinem schlaffen Glied symbolisiert ihre Auferstehungs als Individuum und als unabhängige Frau. Es ist interessant, daß sehr viele männliche Leser, die den Roman gelesen haben, davon schockiert gewesen sind, sie sagten zu mir: "So also seht ihr uns, das haben wir nicht gewußt. Daß Frauen all die Kleinigkeiten sehen und über uns lachen, so wie Ja'ara es macht."

    Kein Wunder, daß die Protagonisten dieses Romanes in Tel Aviv angesiedelt sind. Der Roman von Zeruya Shalev bildet allen Stereotypen zum Trotz einen leidenschaftlichen Kontrapunkt gegen das Primat der Politik und setzt der dramatischen Eskalation im Nahen Osten eine ebenso kraftvolle Dynamik intimster Befindlichkeiten gegenüber. Glanzvoll - die literarische Ernte Israels in diesem Herbst.