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Neue Kraftwerke trotz Tschernobyl

Die ukrainischen Kernkraftwerke produzieren etwa die Hälfte der Elektrizität des Landes. Die meisten Anlagen wurden noch in der Sowjetunion gebaut. Einige sind am Ende ihrer Laufzeit angelangt. Dennoch setzt die Regierung weiter unverhohlen auf die Atomkraft - trotz der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl. Clemens Hoffmann berichtet aus Kiew.

12.08.2008
    Mittagspause in Podil, der Kiewer Unterstadt, direkt am Dnepr-Fluss. Auf dem zentralen Kontraktova-Platz sitzen die Menschen unter schattigen Bäumen und genießen die Wärme. Nur 100 Meter entfernt liegt das Tschernobyl-Museum, das an die Reaktorkatastrophe von 1986 erinnert. Dass ihre Regierung weiter auf Atomkraft setzt, finden einige hier durchaus in Ordnung.

    "Wir brauchen Elektrizität. Wir müssen uns weiterentwickeln. Mit dem Lebensstandard, denn wir vor 100 Jahren hatten, werden wir uns nicht voranbewegen. Die ganze Welt geht zur Atomenergie zurück, auch Amerika hat das angekündigt. Ohne Energie gibt es keinen Fortschritt. Und da wir nun mal keine natürlichen Ressourcen haben, sind wir gezwungen, Atomenergie zu nutzen."

    Doch nicht alle teilen diese Haltung. Vor allem die Jüngeren, die Tschernobyl als Kinder erlebten, sehen die Kernkraft kritisch. Die 22-jährige Olesya schiebt einen Kinderwagen vor sich her:

    "Ich wurde in dem Jahr geboren, als Tschernobyl passierte. Das hat meine Gesundheit angegriffen. Natürlich habe ich Angst, dass meinen Kindern das gleiche passiert!"

    Mit ihren Sorgen steht die junge Mutter nicht alleine. Nach Umfragen halten zwei Drittel der Ukrainer die bestehenden Atomanlagen in ihrem Land für gefährlich oder sehr gefährlich. Mehr als 50 Prozent lehnen den Bau neuer Reaktoren ab. Wie Pawel. Er war in der dritten Klasse, als der Reaktor in Tschernobyl explodierte. Sein Bruder ist heute schwer krebskrank.

    "Ich bin gegen Atomkraft. Selbst wenn es neue Technologien sind - es ist und bleibt gefährlich. Die Regierung schaut nur, wie sie Geld machen kann. Wahrscheinlich wollen sie die Energie exportieren. Ich glaube nicht, dass sie sich für die Zukunft unserer Kinder interessieren. Ich habe Angst."

    In den vier ukrainischen Kernkraftwerken sind derzeit 15 Reaktoren am Netz. Sie produzieren 50 Prozent der Elektrizität. Die meisten Anlagen wurden noch in der Sowjetunion gebaut und in Betrieb genommen. Einige Reaktoren sind am Ende ihrer Laufzeit angelangt. Die Regierung plant aber, sie zu verlängern, weiß Oléxi Pasyúk von der Kiewer Umweltorganisation "Nationales ökologisches Zentrum".

    "Es ist sehr schwierig abzuschätzen, wie gefährlich die Technologie wirklich ist. An jedem Reaktor wurden so viele Umbauten vorgenommen, dass jeder ein Einzelstück darstellt. Im Durchschnitt haben wir zwei Störfälle pro Monat in der Ukraine, mal mehr, mal weniger gravierend. Ein gescheiterter Test eines Sicherheitssystems hat keine Auswirkungen auf die Umwelt - aber im Ernstfall wäre das natürlich sehr problematisch."

    Bis zu 22 neue Reaktoren müsste die Ukraine in den kommenden Jahrzehnten bauen, schätzen Experten, um die Energieversorgung sicherzustellen. In fünf Jahren sollen die ersten neuen Anlagen ans Netz gehen, kündigte Präsident Viktor Juschtschenko kürzlich an. Ziel sei es, die Abhängigkeit des Landes von russischem Gas zu verringern.

    Energieexperte Pasyuk hält das für einen Denkfehler. Zwar gebe es in der Ukraine Uranvorkommen, doch die Abhängigkeit bleibt. Brennstäbe und die Reaktortechnologie sind und bleiben "made in Russia".

    "Leider glaubt unsere Regierung - und die meisten Politiker stimmen dieser Linie zu - , dass Atomenergie die einzige Lösung ist. Sie verdrängen, dass wir bei der Nuklearenergie genauso abhängig sind von Russland wie beim Gas. Eines Tages könnte Russland sagen: Jetzt kosten Brennstäbe das Dreifache!"

    Die größte Ressource der Ukraine, meint Rasyuk, bleibe das Energiesparen. Noch verpuffen in den völlig veralteten Industrieanlagen und maroden Heizsystemen sinnlos Unmengen von Energie. Mit effizienterer Technik und ehrlicheren Energie- Preisen ließe sich der Verbrauch in der Ukraine halbieren. Eine Debatte darüber scheuen viele Politiker jedoch. Niemand will unpopuläre Wahrheiten verkünden.

    Lieber spricht man vom Aufbau neuer Kapazitäten. Doch die Finanzierung dieser Milliardenvorhaben steht in den Sternen. Von der Sicherheit ganz zu schweigen. Die Leute auf der Straße machen sich darüber keine Illusionen:

    "Mir gefällt das überhaupt nicht! Die Atomkraft ist eine sehr riskante Technologie. Wenn die Wissenschaftler nur einen winzigen Fehler machen, kann das katastrophale Auswirkungen für die Zukunft haben."