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Neue Materialien aus der Kugelmühle

Chemie. - Begriffe wie "Photochemie" und "Elektrochemie" sind den meisten Menschen zumindest in Umrissen bekannt. Beide Verfahren, die bereits im 19. Jahrhundert entstanden, ermöglichen bis heute höchst profitable Anwendungen. Doch die so genannte Mechanochemie, die ihre Wurzeln ebenfalls im vorvergangenen Jahrhundert hat, fristet bis heute ein Schattendasein. Das könnte sich nach Meinung von Wissenschaftlern, die sich eingehend mit mechanochemischen Reaktionen befassen, bald ändern. In Braunschweig lockte eine internationale Konferenz zum Thema rund 250 Experten aus 50 Ländern zu einem wissenschaftlichen Informationsaustausch.

    Man nehme einen bruchsicheren Becher aus keramischem Material etwa in der Größe eines Knobelbechers. Dann kommen fünf Gramm eines Pulvers hinein, zum Schluss fehlen noch die Mahlkugeln - fünf Murmeln aus ultrahartem Wolframcarbid. Deckel drauf - und ab in die Kugelmühle. Die Kugelmühle ist das Reagenzglas des Mechanochemikers. Hier prallen die "Mahlkugeln" mit der 100fachen Erdbeschleunigung auf die festen Reagenzien und setzen Reaktionen in Gang.

    Mechanochemie ist die Wissenschaft, die sich mit den physikalochemischen Veränderungen und chemischen Reaktionen beschäftigt, die durch mechanische Einwirkung auf Festkörper hervorgerufen werden.

    So Professor Vladimír Šepelák vom Geotechnischen Institut der Slowakischen Akademie der Wissenschaften, Košice. Die mechanisch induzierte Energiezufuhr löst die verschiedensten Reaktionen aus. Neue Materialeigenschaften entstehen; Reaktionen setzen ein, die unter normalen Bedingungen nie stattfinden würden.

    Im System Eisen und Kupfer zum Beispiel sind die beiden Metalle nicht ineinander löslich, das ist das, was uns die klassische Thermodynamik sagt und die Phasendiagramme. Und wir können mit der Mechanochemie jegliche Legierungen zwischen den beiden Metallen herstellen, die dann bis in den Nanometerbereich homogen sind. Das heißt also: vollständig neue Materialien, die es bisher noch nicht gegeben hat.

    Professor Klaus Dieter Becker, Leiter des Instituts für Theoretische und Physikalische Chemie der Technischen Universität Braunschweig, beschäftigt sich mit der Mechanochemie insbesondere aus der Sicht des Theoretikers. Nur soviel ist bisher bekannt: wenn Mahlkugeln mit hoher Energie auf die Feststoffe prallen, dann wird die mineralische Matrix deformiert: Atome verlassen ihre angestammten Gitterplätze:

    Was wir heute strukturell aufklären können, sind Veränderungen im Gefüge, das heißt, es gibt zusätzliche Defekte - nicht besetzte Gitterplätze - so genannte "Leerstellen werden erzeugt, es werden auch Atome oder Ionen auf normalerweise nicht besetzte Plätze geschoben, also so genannte "Zwischengitterplätze" werden erzeugt, die dann reaktiv sind. Im Zwischengitter hat man hohe Mobilitäten für Teilchen. Das alles wird dazu führen, dass die Reaktivität auch bei Raumtemperatur erhöht wird.

    Schmelzöfen werden also nicht benötigt: Mechanochemie schont die Energie-Ressourcen. Warum und welche Materialien wie miteinander reagieren, das lässt sich bisher kaum erklären. Bleibt vielfach nur der praktische Versuch. Hunderte neuer Materialien und Synthesewege wurden auf dem Symposium in Braunschweig vorgestellt. So nimmt beispielsweise Magnesium in der Kugelmühle Wasserstoff direkt auf.

    Und da hat sich die Mechanochemie als exzellentes Syntheseverfahren erwiesen, dass also die mechanische Bearbeitung von Magnesium in einer Wasserstoffatmosphäre kann zum vollständigen Umsatz von Magnesiumhydrid bei Raumtemperatur führen.

    Das dabei entstehende Magnesiumhydrid ist ein höchst interessanter Speicher für die Wasserstofftechnologie. Beim herkömmlichen nasschemischen Verfahren dagegen fallen große Mengen giftiger Abfallprodukte an.

    Das ist sicher ein ungewöhnliches Forschungsgebiet, und in Deutschland ist es nach meiner Meinung nach ein bisschen unterbesetzt. Aber ich halte es für wichtig, weil es ist eine Art von Chemie, die ein hohes Potential hat, das kann man im Detail vielleicht jetzt noch nicht so nachweisen, aber es ist einfach eine andere Art von Chemie. Das kann uns hoffen lassen, dass wir dort auch Dinge auffinden, die uns auf anderen Wegen nicht zugänglich sein werden.

    Erze, Legierungen, Keramiken und Mineralien - das alles lässt sich mechanochemisch verändern. Seit neuestem wird's auch organisch - zum Beispiel bei der Herstellung pharmazeutischer Produkte. Nachteilig bei der Mechanochemie ist der geringe Materialdurchsatz. Außerdem dauert ein Mahlprozess mehrere Stunden, weshalb die Industrie - trotz aller Überraschungen - bisher noch kein rechtes Interesse gefunden hat, bedauert Professor Becker aus Braunschweig.