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Neue Mitte ums Münster

Städtebauliche Debatten über die Erhaltung des Alten und die Einführung des Neuen werden überall auf der Welt geführt. Manchmal entdeckt man gelungene Beispiele für die Einheit von Tradition und Moderne gerade nicht in den Hauptstädten, sondern an weniger sichtbaren Orten. Die "Neue Mitte" in Ulm ist dafür ein Bespiel.

Von Wilhelm Hindemith | 01.11.2006
    In Ulm an der Donau ist es geglückt, den vom Krieg völlig zerstörten Stadtraum, zwischen Rathaus und Münster, endlich neu zu gestalten. Eine Autobahn zerteilte die Stadt zwischen Münster und den Resten der historischen Altstadt. Man fand Jahrzehnte lang weder Bürger-Konsens noch ein schlüssiges Konzept, die Kriegswunde zu schließen. Jetzt bediente sich die Vernunft der hegelschen List in Gestalt des Stadtplaners und Baubürgermeisters Alexander Wetzig.

    Er belegte Ende der 60er Jahre bei Wolfgang Braunfels, dem Vater des Architekten Stefan Braunfels, in München Kunstgeschichte und gilt als ästhetisch versierter Freund oberitalienischer Städte. Wetzig ging es von Anfang an um eine neue Gestalt des Stadtraums und nicht allein darum, neben der Glas-Pyramide von Gottfried Böhm und dem Stadthaus Richard Meiers weitere solitäre Gebäude der klassischen Moderne in die Stadt zu stellen.

    Stefan Braunfels ist der Architekt, der diese zwei Absichten miteinander zu verbinden weiß. Sowohl Gebäude von modernem Rang, als auch neue Situationen, Plätze und Gassen zu schaffen. Die Moderne mit den Spuren und Resten von Tradition, auch jener des Wiederaufbaus zu verbinden.

    Wetzig: "Das war unser Ziel in der alten Stadt ein neues Stadtquartier zu entwickeln. Das sich auf der einen Seite einbindet den alten Stadtgrundriss und ihn weiterbaut mit neuen Mitteln und Ausdrucksformen - wobei das Besondere ja ist, dass es für mich nicht darum geht, vordergründig moderne Architektur in die alte Stadt zu stellen, sondern moderne Architektur im Stadtraum zu verankern, und insoweit eben nicht nur neue Häuser zu bauen, sondern neuen Stadtraum zu gestalten. Städtebau im originären Sinne zu betreiben, Stadt zu bauen und die Stadt ist eben mehr als die bloße Versammlung von Häusern, von Einzelarchitekturen. Stefan Braunfels hat das in bemerkenswerter Weise geschafft. Seine neuen Häuser sind nicht nur konsequent moderne Architektur, sondern eine außerordentlich intensive und dichte Auseinandersetzung mit dem Stadtraum, indem sie neuen Stadtraum gestalten. "
    Die drei neuen Häuser - das dritte, die Kunsthalle des Architekten Wolfram Wöhr wird nächstes Jahr fertiggestellt sein - stehen nicht nur im örtlichen Zentrum, sie sind zugleich Brennpunkte des öffentlichen Lebens: Das neue Kaufhaus am Münstertor, der große lange Sparkassenbau , die Kunsthalle mit der Sammlung Weishaupt.

    Die strukturellen beziehungsweise skulpturalen Momente der neuen Gebäude weisen deutlich auf die Aspekte der Transparenz, der Multifunktionalität und des überhaupt Öffentlichen hin.

    Wetzig: "Diese neuen Häuser sind nicht nur vom Stadträumlichen her bemerkenswert, das Besondere an ihnen ist auch, dass sie architektonische Skulpturen sind. Unterstützt durch eine Materialität, die ebenfalls eine Tradition der 50er Jahre aufnimmt. Eine der berühmtesten Bauten in Ulm ist die HFG, gebaut von dem Schweizer Künstler Max Bill - ebenfalls aus Sichtbeton. Stadt ist ja geprägt durch Mischung, Dichte, urbane private und öffentliche Strukturen. Die neue Mitte bildet diese Mischung in einem kleinen Quartier ab Handel, Dienstleistung, Kultur - eine Mischung, die eine Innenstadt, eine City ausmacht. "

    In einigermaßen erhaltenen Altstädten, zum Beispiel in Italien, bedarf es der Einfügung der Moderne in die ehrwürdige Tradition. Wo diese im Falle einer fast völlig zerstörten Bau-Substanz fehlt, muss diese durch die Moderne hindurch neu erspürt und gestiftet werden. So paradox es klingt: Die Tradition muss erfunden werden und findet sich im neuen Bau-Kleid eingewirkt wieder, als Bezug der neuen Häuser zu den Erinnerungen und Resten der Alten Stadt.

    Die Aufgabe der neuen Architektur bestand also darin, die Stadt, 57 Jahre nach ihrer zerstörten baulichen Substanz, neu fortzubauen. Solche Absicht erfordert nicht nur konstruktive und ästhetische Kompetenz, sie bedarf auch der Zukunftsvision. Welche Konsequenzen und Leitlinien erwachsen aus dem jetzt neu Geschaffenen? Für Stadt und Stadtplanung? Jetzt darf aus dem einmalig Geglückten die Zukunft gelesen werden. "Ulm ist kurz davor, eine Königin unter unseren Städten zu werden", urteilte FAZ Kritiker Dieter Bartetzko.

    Wetzig: "Letzlich allerdings steht die Frage: Welche Zukunft hat die Stadt? Und da bin ich persönlich felsenfest davon überzeugt, dass diese dichte europäische Stadt eine Zukunft hat, dass sie Antworten findet auf die gesellschaftlichen Probleme, gerade mit der modernen Architektur, die ja ursprünglich stadtfeindlich war und keine Städte, sondern allenfalls Siedlungen schuf. Mit der neuen Mitte in Ulm aber ist es gelungen,
    dass wir jetzt die Moderne Architektur versöhnen können mit der europäischen Stadt und dem Stadtraum. "