Mittwoch, 24. April 2024

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Neue Musik für Sopran und Klavier
Komplex und vielseitig

Die Gattung Klavierlied gehört ins Repertoire der Vergangenheit. So scheint es zumindest. Sarah Maria Sun und Jan Philip-Schulze begeben sich auf die Suche nach Lied-Meisterwerken der Gegenwart. Ihr Anspruch: "schwer, wunderschön und irrsinnig gut"!

Am Mikrofon: Leonie Reineke | 12.11.2017
    Sarah Maria Sun mit einem Chamäleon auf der Hand
    Erstaunlich beweglich: das Chamaläon als Sinnbild der Gattung Lied (Rüdiger Schestag)
    Musik: Heinz Holliger - "Schmetterling" aus "Sechs Lieder nach Christian Morgenstern"
    Ein Schmetterling, der von Blume zu Blume der Sonne zufliegt, ist der Protagonist dieses kurzen Liedes. Genau wie die Gesangsmelodie schrauben sich seine Flugbahnen immer weiter in die Höhe, bis er für das Auge nicht mehr sichtbar ist. Und ebenso unklar wie das Schicksal des schwindenden Schmetterlings bleibt, genau so offen und fragend endet das Lied – auf einem hohen "a", das sich gen Himmel reckt.
    "Schmetterling" ist eine Komposition von Heinz Holliger. Es ist das dritte von "Sechs Liedern nach Gedichten von Christian Morgenstern", die Holliger in den Jahren 1956 und 1957 geschrieben hat. Zusammen mit Werken anderer Komponisten ist dieser kleine Zyklus auf dem Album "modern lied" versammelt, das die Sopranistin Sarah Maria Sun gemeinsam mit dem Pianisten Jan Philip Schulze realisiert hat.
    Sarah Maria Sun zählt zu den führenden Interpretinnen der Musik des 20. und 21. Jahrhunderts. Für ihren glockenklaren, leichten Sopran ist sie ebenso bekannt wie für die radikale Vielseitigkeit ihres stimmlichen Ausdruckspektrums. Mit der CD "modern lied" hat sie ein Projekt verwirklicht, bei dem etliche ihrer stimmlichen Facetten zur Geltung kommen. Musik aus den 1950-er Jahren bis hin zu ganz aktuellen Kompositionen hat die Sängerin mit ihrem Klavierpartner hier zusammengestellt.
    Heinz Holligers "Sechs Lieder" sind die ältesten Kompositionen des Albums und stehen konsequenterweise am Anfang der CD. Der Komponist hat den Zyklus mit gerade mal siebzehn Jahren geschrieben. Er selbst beschreibt die Klangsprache der Stücke treffend als sehr weich – als "irgendetwas zwischen Claude Debussy, Alban Berg und Maurice Ravel". Und obwohl sich Holliger in seiner musikalischen Ausdrucksweise später noch deutlich zum Avantgardistischen hin gewandt hat, hat er diese Jugendkompositionen niemals revidiert oder zurückgezogen. Bis heute ist er auch überzeugt, dass Christian Morgensterns Lyrik sich bestens für eine musikalische Umsetzung eignet.
    Musik: Heinz Holliger - "Der Abend" aus "Sechs Lieder nach Christian Morgenstern"
    "Der Abend" aus den "Sechs Liedern nach Gedichten von Christian Morgenstern", komponiert von Heinz Holliger. Die Sopranistin Sarah Maria Sun wurde begleitet von Jan Philipp Schulze.
    Plädoyer für das Lied in der Neuen Musik
    Mit ihrer CD "modern lied" hat die Sängerin offenkundig ein ganz persönliches Projekt verwirklicht. "Während der Produktion", so äußert sich Sun im Beiheft zur CD, "versuchte ich herauszufinden, was Komponisten unserer Zeit über Stimme und Lied denken. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts ist ein zeitgenössisches Lied entweder ein Song der Pop-, Rock- oder Metal-Branche – oder es hat (wenn es aus komplexeren Strukturen und Inhalten besteht) kaum Platz in unserem Musikbetrieb."
    Um also dem modernen Lied seinen ihm gebührenden Platz einzuräumen, hat Sun fast alle Stücke der CD in intensivem Austausch mit den Komponisten erarbeitet. Das erschließt sich nicht zuletzt aus umfangreichen Interviews, die sie mit ihnen geführt und für das Booklet transkribiert hat. Einer dieser Komponisten ist Helmut Lachenmann. Von ihm hat das Duo die knapp halbstündige Komposition "Got Lost" eingespielt. Das Stück basiert wie bei Heinz Holliger auf literarischen Vorlagen: auf Texten von Friedrich Nietzsche und Fernando Pessoa sowie einer anonymen Notiz aus einem öffentlichen Gebäude. Die Klangsprache in "Got Lost" ist allerdings eine gänzlich andere als bei Holliger.
    Tasten, Saiten und Stimme im Dialog
    In Lachenmanns Stück wird nicht nur gesungen, sondern auch gesprochen, geflüstert, gepfiffen, gehaucht und gezischt. Auf diese Weise lässt der Komponist die Stimme dezidiert als das unmittelbarste, differenzierteste und ausdrucksstärkste Instrument des Menschen auftreten. Die Aufgaben des Pianisten allerdings fallen gar nicht weniger vielseitig aus als die der Sängerin. Denn er spielt sowohl auf der Tastatur als auch in den Saiten, ist Perkussionist und ebenfalls Sprecher. Durch diese enge Verzahnung verschiedenster Klang- und Geräuschebenen treten Sängerin und Pianist als gleichberechtigte Dialogpartner auf.
    Musik: Helmut Lachenmann - "Got Lost"
    Eine Komposition, in der die Stimme ebenfalls auf eine Weise zum Einsatz kommt, die man nicht unbedingt mit lyrisch-seelenvollem Liedgesang assoziieren würde, ist Bernhard Langs "Wenn die Landschaft aufhört". Der österreichische Komponist ist bekannt für seine Vorliebe für mechanische Wiederholungen. Viele seiner Stücke bewegen sich in einer Grauzone zwischen Neuer Musik und avantgardistischem Pop oder Jazz. So auch das Duo für Stimme und Klavier "Wenn die Landschaft aufhört": Fast stoisch spult die Sängerin hier einzelne, kurze Textschleifen wieder und wieder von vorn ab. Die maschinellen Ein-Ton-Melodien und der pulsierende Sprechgesang mögen auf den einen vielleicht kontemplativ und beruhigend, auf den anderen wohl eher penetrant und lästig wirken.
    Musik: Bernhard Lang - "Wenn die Landschaft aufhört"
    Bernhard Langs "Wenn die Landschaft aufhört" ist von 2015 und damit das neuste Stück auf der CD. Aber nicht nur bei dieser Komposition handelt es sich um die Weltersteinspielung. Auch einige weitere, teils deutlich ältere Stücke hat das Duo zum ersten Mal überhaupt auf CD herausgebracht.
    Kurze Geschichte des zeitgenössischen Klavierlieds
    So beispielsweise die 1978 entstandenen "Due Melodie" des Italieners Salvatore Sciarrino: Das Werkpaar basiert auf einem Gedicht von Gianbattista Marino, das in zwei fast identischen Versionen vorliegt. Lediglich in einem einzigen Buchstanden unterscheiden sie sich: In der ersten Fassung heißt der Text "Occhi Stillanti" - was im Deutschen so viel bedeutet wie "glitzernde Augen". In der zweiten Version heißt er "Occhi Stellanti" (deutsch: sternenfunkelnde Augen). Dieser minimale Unterschied hatte Sciarrino dazu angeregt, zwei verschiedene Vertonungen zu schreiben. Konsequenterweise ähneln sich die Stücke im Duktus sehr: Feinste Ornamentik, eine hohe Komplexität sowie eine allumfassende Fragilität bestimmen das Zusammenspiel von Stimme und Klavier.
    Musik: Salvatore Sciarrino - "Occhi Stillanti"
    Sarah Maria Sun und Jan Philipp Schulze gelingt es, die zarte Eleganz der Musik mit Fingerspitzengefühl herauszuarbeiten. Die Stimme tritt insgesamt vergleichsweise dezent auf - sie verhält sich wie eine zurückhaltende Begleiterin des virtuosen Klavierparts. Immer wieder schleicht sie sich leise, wie auf Zehenspitzen, aus dem Hintergrund an.
    Musik: Salvatore Sciarrino - "Occhi Stellanti"
    "Occhi Stellanti" – die zweite der "Due Melodie" von Salvatore Sciarrino, gesungen und gespielt von Sarah Maria Sun und Jan Philip Schulze. Eingespielt haben die beiden die Komposition für ihre CD "modern lied", auf der außerdem Musik von Heinz Holliger, György Kurtág, Helmut Lachenmann, Bernhard Lang und Wolfgang Rihm zu hören ist. Die Aufnahmen erfolgten im vergangenen Jahr im Bayerischen Rundfunk; erschienen ist das Album beim New Yorker Label "mode records".
    "modern lied"
    Kompositionen u.a. von Heinz Holliger, Salvatore Sciarrino, Helmut Lachenmann, Wolfgang Rihm
    Sarah Maria Sun (Sopran), Jan Philipp Schulze Klavier
    Label: mode records
    LC 29022
    Bestellnummer: mode 297