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Neue Musik von Ataç Sezer
Zwischen den Welten

Der Münchener Komponist Ataç Sezer verbindet in seinen Werken Klangwelten türkischer und west-europäischer Tradition - und zwar auf sehr sinnliche Weise. Den großen Einfallsreichtum seiner kompositorischen Arbeit belegt eine neu beim Label NEOS erschienene CD mit dem Titel "Simultaneity".

Am Mikrofon: Yvonne Petitpierre | 17.03.2019
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    Atac Sezer beim Komponieren (Swetlana Sezer)
    Musik: Ataç Sezer - "Mirror-reversed" für Kemençe und Orchester
    Trotz der Einflüsse verschiedener Kulturen, welche die Arbeits- und Lebenswelt von Ataç Sezer nachhaltig prägen, möchte er seine Kompositionen keinesfalls dem Begriff "Multikulti" zugeordnet wissen. Live-Aufnahmen mit sechs seiner Kompositionen aus den Jahren 2011 bis 2016, die soeben auf CD beim Label NEOS erschienen sind, gilt heute die Aufmerksamkeit.
    "Mein wichtigstes Instrument von dem ich ausgehe bei meinen Kompositionen, ist das Gefühl und die Ohren, die Augen ersetzen. Als in Istanbul Geborener bin ich von Kindheit auf mit dem geordneten Chaos infiziert. Der Klangteppich wird als Sinuston im Ohr ein Leben lang mitgetragen. Mit jedem meiner Werke komme ich meinem Ziel näher, dieser Welt eine Farbe zu hinterlassen, die noch nicht definiert wurde und die man hören kann" - so Ataç Sezer. Auch wenn orientalische Klangelemente in westeuropäischer Musik kein Novum sind, sucht Sezer auf unkonventionelle Weise Verbindungsmöglichkeiten auf, Form-, Ton- und Klangtraditionen zu durchleuchten und zu überlagern. Beim Hören entwickeln seine Kompositionen oft ein Art Sogwirkung.
    Kontrastreich
    In dem 2011 entstandenen dreiteiligen Stück "Mirror reserved" für Kemençe und Orchester wird schon nach wenigen Takten hörbar, wie eigensinnig Sezer seine musikalischen Ideen klanglich ausformuliert. Die unterschiedlichen Klangwelten west-europäischer Tradition mit geteilten Streicherklängen konfrontiert er hier mit einer dreisaitigen Kastenhalslaute, der Kemençe, die mit einem Bogen gestrichen wird. Das Instrument ist fester Bestandteil der klassischen türkisch-osmanischen Hofmusik, dessen spezifischer Klang im Kontext des groß besetzten westeuropäischen Orchesters eine ganz eigene Dimension gewinnt, die Sezer vor allem im zweiten Satz ausreizt. Während sich der erste und dritte Teil spiegelbildlich zueinander verhalten und von einer unruhigen fluktuierenden Klangfläche gezeichnet sind, beschränkt sich die Orchesterbegleitung im zweiten Satz in den Streichern weitgehend auf bordunartige Haltetöne und gegenläufige Glissandi. In rhythmisch freier Melodik bewegt sich darüber die Kemençe im Tonraum Makam segah. Das bedeutet, der anfangs immer wieder neu umspielte Zentralton "h" wird allmählich zugunsten anderer Tonstufen der Skala verlassen und der Klangraum des Makam bis hin zur oberen Oktave ausgelotet.
    Musik: Ataç Sezer - "Mirror-reversed" für Kemençe und Orchester
    "Meine Musik ist ein Drang nach Phantasie. Und so wie der Wunsch wie ein Vogel im Traum zu fliegen, bleibt es ein Spiel. Ein Spiel, mit dem ich die Charaktere, Dialoge und Handlung wie Legosteine selbst zusammensetze. Spiel mit Realität und Surrealismus. Veränderter Klang der Instrumente, Multiphonic, Mikrostruktur, alles was nach einer Spaltung aussieht, ist jedoch in Wirklichkeit immer ein Körper. Ein unsichtbares Istanbulkleid, durchwebt mit Fäden meiner klanglichen Erlebnisse, legt sich auf die deutschen Straßen nieder und verändert die Realität" - notiert Ataç Sezer zu seinem persönlichen Kompositionsverständnis.
    Und genau dieses facettenreiche Spiel macht diese CD-Neuerscheinung zu einer aufregenden Bereicherung, denn ausgeklügelte Klangstrukturen vermitteln hier eine nahezu unbeschwerte Leichtigkeit, die das Ohr packt und Neugier provoziert.
    Verdichtung und Aufhebung
    Ein hoch virtuoser, mit Modalklängen gefärbter Dialog zwischen Posaune, Fagott und großem Ensemble mit acht Bläsern, fünf Streichern, Harfe, Klavier und Perkussion bestimmt das Stück "Infinitimal" aus den Jahren 2012/13. Es seien Vorstellungen von maximaler zeitlicher und räumlicher Verdichtung und Aufhebung von Endlichkeit, welche diese Komposition inspiriert haben. Das Stück lebt vor allem aus einer Vielzahl an Spieltechniken in den beiden Stimmen der Blasinstrumente und immer wieder auftauchenden unerwarteten harmonischen Wendungen.
    Musik: Ataç Sezer - "Infinitimal" für Posaune, Fagott und großes Ensemble
    Ataç Sezer wurde 1979 in Istanbul geboren. Er studierte in seiner Heimat Klavier, Musikwissenschaften sowie Ney, eine traditionelle Flöte der osmanischen Hofmusik. Als Komponist sammelte er erste Erfahrungen bei dem Argentinier Diego H. Feinstein, ehe er in Berlin Komposition bei Dieter Schnebel studiert hat und später bei Matthias Pintscher an der Münchener Musikhochschule. Seine kompositorischen Arbeiten wurzeln in sehr unterschiedlichen Quellen wie Mikrotonalität, Elektronischer Musik sowie 24 verschiedenen Tonsystemen der türkischen Makam-Musik, für die er auch neue eigene Notationsformen erarbeitet hat.
    Das Experimentieren mit Spieltechniken und die Kombination westlichen und östlichen Instrumentariums ist für die kompositorische Arbeit von Sezer charakteristisch. 2008 erhielt er mit dem Werk "Peschrev" für die türkische Ney, eine offene Rohrflöte, E-Bass und Elektronik das Musikstipendium der Stadt München. Immer wieder ist er mit Werken auf führenden Festivals für zeitgenössische Musik vertreten. Die Mitschnitte der vorliegenden CD-Einspielung sind fast alle Uraufführungen und wurden bei Konzerten in Berlin, Essen und München aufgezeichnet.
    2016 fand in München die Premiere von "Time loop" für großes Ensemble und E-Gitarre mit Johannes Öllinger und dem MGNM Festival Ensemble unter der Leitung von Peter Hirsch statt. In klanglich faszinierenden Passagen thematisiert Sezer die Frage nach Unendlichkeit. Ein kurzes Stück, in dem nach einem 16-taktigen Eröffnungsteil für das Ensemble die E-Gitarre solistisch hervorsticht, begleitet von clusterartigen zarten Streicherklängen und perkussiven Einzeltönen des Klaviers in tiefer Lage. Gegen Ende setzt erneut der Anfangsabschnitt ein, und wie in einer Zeitspirale könnte das Stück nach Vorstellung des Komponisten unendlich oft erneut beginnen, so dass die zeitliche Ausdehnung eines einzelnen Durchlaufs zu einem bloßen Augenblick komprimiert und relativiert würde.
    Musik: Ataç Sezer - "Time Loop" für großes Ensemble und E- Gitarre
    Die Suche nach Inspirationen für das eigene Komponieren konzentriert Sezer auf seine kulturellen Heimaten. Mittels kompositorischer Transformation sollen Ursprünge kulturelle Identitäten und Klangsprachen nicht mehr eindeutig identifizierbar bzw. mittels Überlagerungen aufgehoben sein. Beim Hören seiner melodie-intensiven Musik ergeben sich zahlreiche Spielräume für Assoziationen. Einige Momente bergen starken Filmmusikcharakter, während Sezer sehr subtil kultur-übergreifende klangsprachliche Mischungen auslotet, die sich teilweise rauschartig formieren.
    Zwei in Einem
    Auf eine spezielle Formkonzeption greift Sezer in dem 2013 komponierten Stück "Relativity of Simultaneity" zurück. Die Partitur besteht aus zwei unabhängig voneinander notierten Streichtrios, die jeweils eigenständig oder gleichzeitig gespielt werden können. Sezer notiert dazu: "Ähnlich dem Bau einer DNA ergänzen sich beide Werke, konkurrieren nicht miteinander. Das eine Trio wurde vorzugsweise in der Dur-betonten Klangfarbe komponiert, das andere Trio mehr in der Moll-Klangfarbe." Teilweise verschränken sich beide Trios dennoch immer wieder über einige Takte, spielen teilweise unisono. Es dominieren ständig wechselnde Taktvorzeichnungen, wodurch sich vielfach veränderte Rhythmen ergeben. Auch wenn Sezer von Dur- und Mollklängen spricht, sind es vor allem facettenreiche Farben, die einzelne Klanggebilde prägen.
    Musik: Ataç Sezer - "Relativity of Simultaneity" für zwei Streichtrios
    Informativen Einblick in die diversen Kompositionsansätze von Ataç Sezer liefert auch das ausführlich begleitende Booklet aus der Feder von Joachim Steinheuer, der zudem einen eigenen Abschnitt den kulturellen und musikalischen Beziehungen zwischen der Türkei, dem Osmanischen Reich und West-Europa widmet.
    Ein sinnliches Klangerlebnis entfaltet sich schließlich in dem Stück für Streichorchester "Tonend Melisma Silver Print" von 2015, das in vier Gruppen 19-stimmig unterteilt ist. Alle Instrumente ergänzen einander in sich immer wieder neu gestaltenden melodischen Fragmenten, ostinaten Motiven, akkordischen Glissandi und ausgehaltenen Tönen. Diese klanglichen Ereignisse mit hervortretenden Melismen vergleicht Sezer selbst mit jenen Bildkonturen, die bei Entwicklungsprozessen in der Dunkelkammer für Fotographie ablaufen.
    Musik: Ataç Sezer - "Tonend Melisma Silver Print" für Streichorchester
    Anschmiegsame Irritation
    Abschließend fällt der Blick auf die Komposition "A-Circle" aus dem Jahr 2012 mit der eher ungewöhnlichen Besetzung für Akkordeon und Streichtrio. Hier begegnen die drei Streicher und das Akkordeon weitgehend auf zwei kontrastierenden Klangschichten, wobei minimale Verschiebungen bestimmend sind. Zunächst spielen die Streicher rasche Passagen Flageolett-Glissandi um einen Halbton kreisend, während das Akkordeon unter der Spielanweisung "prestissimo possibile" in ein- oder zweistimmigen 32-tel Figurationen entgegenhält. Und wieder sind es die feinen kleinteiligen Veränderungen, die beim Hören herausfordern und eine nicht austauschbare Eigensinnigkeit erkennen lassen.
    Musik: Ataç Sezer - "A-Circle" für Streichtrio und Akkordeon
    Soweit ein Ausschnitt aus "A-Circle" für Akkordeon und Streichtrio mit Stefanie Schuhmacher und dem Trio Coriolis. Vorgestellt habe ich Ihnen heute die aktuelle CD mit Kompositionen von Ataç Sezer, die beim Label NEOS erschienen ist. Weitere Informationen finden Sie unter www. NEOS.de, im Vertrieb ist die CD über Harmonia Mundi erhältlich.
    Ataç Sezer - Simultaneity
    Young Euro Classic Festival Orchestra Turkey-Germany, TrioCoriolis, Studio Musikfabrik u.a.
    CD NEOS 11814