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Neue Musikszene
"Wave" erobert Londons Underground

Raus aus dem Netz, rein in die Clubs von London - in der britischen Hauptstadt formiert sich, nach Punk und Grime, wieder eine neue Musikszene: Wave - elektronische Bass-Musik für eine Generation, der nicht zum Tanzen zumute ist.

Von Juliane Reil | 06.05.2017
    Menschen gehen im Londoner Stadtteil Shoreditch an einer mit Graffiti bemalten Hauswand vorbei. (Bild: Imago / United Archives International National News / Nick Edwards)
    Im hippen Londoner Stadtteil Shoreditch findet Wave ein Publikum. (imago / United Archives International National News / Nick Edwards)
    Samstagabend, 22 Uhr in Shoreditch, im Nordosten Londons. Kunstgalerien, coole Clubs und Bars liegen hier Tür an Tür. Die Leute auf der Straße: jung und modebewusst. Auch in der langen Schlange vor der Club-Bar Kamio. Auf die Frage, was heute Abend hier die Attraktion ist, antwortet ein junger Mann im lässigen Kapuzen-Pulli:
    "Wave Music."
    Anti-Clubmusik
    Er und seine Begleitung, ein zartes, rothaariges Mädchen, scheinen kaum über 18 Jahre alt zu sein. Und was ist Wave Music?
    "It's ambient, it is chill. It's nice, it's nice to listen to."
    Die Musik entschleunigt mit elektronischen Beats, die großen Raum für - in Melodien gegossene - Gefühlslandschaften lassen. Man müsste eigentlich von Anti-Clubmusik sprechen. Das wellenartige Auf und Ab im Sound hat Steven Adams alias "Klimeks" zum Namen "Wave" inspiriert. Der 27-jährige Musiker sieht seine Tracks als durchkomponierte Songs, die emotionsgeladene Geschichten in Moll erzählen. Sobald der Engländer im Joy-Division-Shirt über seine Musik spricht, gleitet sein scheuer Blick zur Seite ab, als wir vor dem Club stehen. Als ob es ihm peinlich wäre, zu den Pionieren eines neuen Musikgenres zu gehören.
    "Ich habe meine Musik einfach online gestellt und auf Soundcloud mit dem Hashtag 'Wave' versehen. Das nächste, was passiert ist: Die Leute haben ähnliche Musik gemacht und sie ebenfalls 'Wave' genannt. Dann habe ich angefangen, mit denen hin und her zu schreiben. Und so ist der 'Wavemob' entstanden: Durch Netzwerken auf Facebook und in den sozialen Medien."
    Wavemob ist eine Musik-Community im Netz. Die Hörer und Produzenten sind verstreut über die ganze Welt - von Tokio bis Toronto. Darunter viele Teenager, die noch keinen Zutritt zu einem Club haben. Ihre Stücke basteln sie zu Hause am PC. Dann stellen sie sie ins Internet. Von dort nimmt Wave seit diesem Jahr immer häufiger den Weg in das "reale" Leben. Zum Beispiel in den Londoner Club Kamio.
    Der Wave-DJ Klimeks legt in einem Londoner Club auf (Bild: Marcus Barnes)
    "Ich habe die Musik einfach mit dem Hashtag 'Wave' versehen" - Steven Adams, alias Klimeks (Marcus Barnes )
    300 Waver machen hier Party. Die DJs spielen ihre Tracks vom MP3-Player oder streamen sie aus dem Netz. Die Leinwand hinter dem DJ-Pult zeigt Momentaufnahmen von Wellen und nächtlichen Autofahrten. Zwei dunkelhäutige Typen beginnen auf einmal zu rappen.
    Dazu dreht sich ein zierliches Hip-Hop-Mädchen mit geschlossenen Augen, mitten auf der Tanzfläche. Überhaupt: Viele Frauen sind anwesend. Das unterscheidet Wave von anderen elektronischen Musikszenen in London. Meint Jude Leigh-Kaufmann, der, unter dem Pseudonym "Kareful", Wave produziert und auflegt:
    "Früher habe ich meine Freundinnen mit zu Grime- und Dubstep-Partys mitgeschleppt. Sie haben aber nur in einer Ecke gesessen, weil es dort wirklich maskulin und aggressiv zugeht. Aber als ich meine Freundin zu Wave-Partys mitgenommen habe, hat sie wiederum ihre Freundinnen eingeladen - und alle wollten bleiben. Es ist eine ganze andere Stimmung. Ich denke, Wave kann einen positiven Einfluss haben, weil es stärker ein Indie-Band-Publikum anspricht."
    Depressive Teletubbies
    Im Wave-Sound können sich auch deshalb viele wiederfinden, weil ganz unterschiedliche Genres zusammengewürfelt werden. Mit dem tief rollenden Bass, der lispelnden Hi-Hat und den stolpernden Rhythmen wirkt Wave, wie die kleine Schwester von Dubstep und Grime. Gleichzeitig scheinen aber auch Einflüsse von R'n'B, Hip-Hop und Ambient durch. Manchmal hört man sogar gitarrenartige Sounds, die an gefühlsbetontere Spielarten von Rockmusik, wie Post-Punk und Emo, erinnern.
    Einfach und schnörkellos sind die Stücke produziert. Was dabei besonders berührt: Die Intensität des Ausdrucks und die unendliche Traurigkeit einer Generation, die manchmal wie ein depressives Teletubby klingt.
    "Clubbesitzer wollen dieses Publikum eher nicht"
    Wave ist auf dem Weg zu einem neuen, eigenständigen Sound. Auch wenn es das Potential hat, sich jenseits des Internets als eigenes Subgenre elektronischer Bassmusik zu etablieren, stehen die Chancen dafür in London aktuell eher schlecht. In den vergangenen Jahren haben dort mehr als 40 Prozent der Konzert- und Tanzclubs zugemacht. Gentrifizierung, Behördenkontrolle - die Gründe dafür sind vielfältig. Wave hat nochmal ganz eigene Probleme, meint Grime- und Dubstep-DJ Chris Reed, der als "Plastician" in der Londoner Clubszene und weit darüberhinaus bekannt ist. Und die haben mit den Clubbetreibern selbst zu tun:
    "Sie wollen einer jungen Szene keine Chance geben. Auch das Publikum bei einer Wave-Party ist ziemlich jung. Ein älteres Publikum geht lange aus und trinkt viel. Jüngere Leute gehen früher und trinken wenig. Clubbesitzer, die die Clubmiete bezahlen müssen, wollen dieses Publikum eher nicht, weil es kein Geld einbringt. Das ist definitiv ein Faktor, der die Entstehung junger Szenen in London im Moment ausbremst."
    "Der Soundtrack des Erwachsenwerdens"
    Mittlerweile drängen sich die Leute vor dem DJ-Pult im Kamio. Es ist bezeichnend, dass Wave - das Gegenteil von einem fröhlichen Party-Sound - so viel Anklang in der nächtlichen Londoner Clubszene findet. Also dort, wo eigentlich Zerstreuung und Spaß im Vordergrund stehen. Klimeks, der eher leise spricht, hinter den Plattendecks aber auf einmal kraftvoll und selbstbewusst wirkt, wundert das gar nicht.
    "Es ist irgendwie der Sound der Zeit. Was gerade in England und der ganzen Welt passiert, sind schlimme Sachen. Ich glaube, deshalb können sich Leute in der Musik wiederfinden. Es ist wie der Soundtrack ihres Lebens, des Erwachsenwerdens."