Dienstag, 23. April 2024

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Neue Nostalgie im Pop
Verlorenes Gemeinschaftsgefühl

Immer mehr Musiker greifen auf altbekannte Hits zurück, auf die sich damals jeder einigen konnte. Heutzutage scheint es diese Stücke immer seltener zu geben. Nicht zuletzt wegen der Streamingdienste.

Von Ina Plodroch | 02.11.2019
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Max Gruber alias Drangsal covert Klaus Lages "1000 und eine Nacht" (Max Grube)
Das ist nicht etwa die Klaus Lage Band, sondern Drangsal, so nennt sich Max Gruber, wenn er seine Indiepopschlager singt. Und genau er covert live und im Studio nun Klaus Lage,
Drangsal: "weil wir nicht nur immer einen krassen Gegensatz zu unserem Set suchen, sondern auch, weil ich finde, dass es ein Generations- und Geschmacksgrenzen übergreifender Song ist."
Vielleicht ist gerade jetzt die Zeit, um so einen Song für ein Publikum zu spielen, den damals in den 80ern offenbar jeder in Deutschland kannte. Heutzutage keine Selbstverständlichkeit mehr, da es solche Songs immer weniger zu geben scheint.
Klar, die Beatles, kennt man. 1967 ist das Album Stg. Pepper erschienen.
Ralf von Appen: "In den Texten, die ich lese, scheint es immer so, dass quasi jeder, der sich für Musik interessierte, dieses Album besessen hat, oder war gezielter Beatles-Gegner. Aber auch dann kannte er das zumindest."
Starke Ausdifferenzierung der Popwelt
Ralf von Appen ist Musikwissenschaftler an der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien. Er meint: Seit diesem Album hat sich die Popwelt immer stärker aufgeteilt:
"In den Siebzigern haben wir eine ziemliche Ausdifferenzierung von Genres, die auch gleichzeitig stattfinden und wo ein Punk-Fan mit Disco überhaupt nichts mehr zu tun hat."
Aber:
"Er kennt die Musik immerhin noch."
Aber dieses Kennen von Musik, vor allem von Songs, die eigentlich sehr populär und erfolgreich sind, hat sich spätestens 2019 erledigt.
"Das geht ja sogar uns so."
Uns, den Musikjournalistinnen und Musikjournalisten meint Stephan Rehm. Er ist selbst einer beim Musikexpress.
"Dass wir den ganzen Tag beruflich mit Popmusik zu tun haben, und oft nicht wissen, was gerade aktuell Nummer Eins in den deutschen Charts ist oder sogar in Amerika, weil man dem einfach nicht mehr so ausgeliefert bist."
Weil nicht mehr jede Radiostation überall die zehn gleichen Songs spielt und das über Monate, sondern weil jeder nur noch das hört, was er sich selbst im Netz zusammen sucht.
Ralf von Appen: "Ein aktueller Platz 1 ist bei weitem nicht mehr von so vielen tatsächlich gekannt, gekauft und mitgesungen wie das zu anderen Zeiten mal war."
Und in dieser Zeit veröffentlicht der Indiemusiker Drangsal eben dieses Cover, und die Fans reagieren…
Drangsal: "...tatsächlich überraschend positiv. Wer hätt’s gedacht."
Nostalgie als Grundgefühl
Möglicherweise, weil Nostalgie als Grundgefühl immer funktioniert hat – und in Zeiten, in denen es offenbar immer weniger musikalisches Gemeinschaftsgefühl zu geben scheint, kommt es sogar noch besser an. Selbst, wenn man sich mit dieser Nostalgie nicht an seine eigene Jugend erinnert. Als der Song "1000 und eine Nacht" von der Klaus Lage Band 1984 erschien...
Drangsal: "Ich war nicht am Leben. Ich bin 26, also ’93 geboren."
Der Musikwissenschaftler Ralf von Appen nennt dieses Phänomen: "Fake-Nostalgie"
Und meint damit aber nicht, wie sich Drangsal an Klaus Lage erfreut. Sondern wie sich die britische Musikerin Charli XCX an die 90er erinnert, zum Beispiel an die Spice Girls. Als der Song "Wannabe" veröffentlicht wurde, war sie vier Jahre alt. Sie erinnert sich an diesen Song allerdings nicht, indem sie ihn covert, sondern setzt Melodie- und Textfetzen in einen neuen Zusammenhang. Interpolation ist der sperrige Begriff dafür. Neu ist der Rückgriff auf längst vergangene Hits natürlich nicht, sagt Ralf von Appen, aber:
Ralf von Appen: "Nostalgie bei jungen Leuten ist mir sonst nicht so aufgefallen. Das finde ich schon eher ein überraschendes Phänomen."
Fast vergessene Hits
Sich ganz offensichtlich an die 90er zu erinnern, ist selbst im Hip Hop angekommen. Die Rapper Rin und Bausa singen genau wie die Boyband Echt damals. Auch das: Retromanie, nur dass es sich hierbei nicht wie vom Poptheoretiker Simon Reynolds 2011 beschrieben darum dreht, dass immer wieder alte Sounds ausgepackt und ganze Genres nachspielt werden. Die neue Nostalgie verwurstet ganz konkret und offensichtlich fast vergessene Hits.
Stephan Rehm: "Das sieht man ja auch im Kino. Da wird ja auch alles, was im Kino erfolgreich ist, sind Produkte aus dem 20. Jahrhundert, die zum x-ten Mal recycelt werden und noch ein Sequell und Prequell und Reboot..."
In einer Welt, in der die aktuelle Musiklage so unübersichtlich geworden ist, weil jeder seine eigenen Playlists hört, die der Algorithmus perfekt auf ihn zuschneidet, scheinen allzu offensichtliche Bezüge an ein "Früher" willkommen. Und längst Vergessenes, wird wieder modern.