Samstag, 11. Mai 2024

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Neue Operette?

Lässt sich der Trojanische Krieg in 75 Minuten bewältigen? Nun – auch in siebeneinhalb Shakespeare-Stunden ist es wohl nicht möglich, die ganze Komplexität der Homerschen "Ilias" auf die Bühne zu bringen und die Schrecken zu erörtern, die an den Anfängen der "abendländischen Kultur" stehen. Freilich kann eine aus unterschiedlichsten Quellen schöpfende Musik, effektsicher pointiert, gerade die Siegesgewissheiten und ihr Zerstieben, die Brutalität und die Verluste aller Kriege ebenso überzeugend beschwören, wie sie der Botschaft mit plakativen Mitteln Nachdruck verleihen mag, um deretwillen wohl die neue Achilleus-Oper in Belgien in Szene gesetzt wurde.

Frieder Reininghaus berichtet | 16.03.2003
    De vlaamse opera, das Staatstheater in Nordwest-Belgien, verband sich für das Projekt mit dem 'freien' Musiktheater-Unternehmen Transparant, das seit mehr als einem Dutzend Jahren vor allem das junge Publikum im Visier hat (Wim Henerickx ist der "Hauskomponist" der Transparant-Truppe). Freilich wurde die Gemeinschaftsproduktion nicht preiswert im Foyer angesiedelt oder auf eine Nebenspielstätte abgeschoben, sondern bewusst auf die Möglichkeiten der großen Bühnen in Antwerpen und Gent zugeschnitten. Film-Sequenzen waren an die Stelle von historisierenden Bauten und vorderasiatischen Landschaften getreten. Das, was der Video-Beamer da – raffiniert die Möglichkeiten der Unschärfe nutzend – im Bühnen-Hintergrund in Bewegung setzte, erschien technisch so perfekt wie ästhetisch durchdacht: die singenden Protagonisten – Götter, Helden und Leidtragende – kommentierten die vordergründige Handlungsebene zugleich von höherer Warte. Die in stilisierte griechische Rüstungen gesteckten Mitglieder des Opern-Kinderchors fochten in der medialen Aufbereitung den Sinn und Widersinn des Kriegs so plausibel aus, dass die bei Fechtszenen auf der Bühne oft zu Tage tretenden Peinlichkeiten souverän vermeiden wurden.

    Mit knappen Gesten und wohldosierten Mitteln bedachte auch Wim Henderickx seine Partitur, der nun gar nichts Akademisches anhaftet. Da geht der bunt und grell gemixte Klang, der immer wieder von demonstrativ einfachen Tonfolgen seinen Ausgang nimmt und die eingängige Form der Passacaglia aufgreift, in die Richtung, die Heiner Goebbels seit Jahren vorgibt: Nicht nach deutschem Reinheitsgebot gebraut, aber süffig oder scharf, stringent und zugkräftig – oder, wenn Achill Trauer trägt, auch sehr elegisch.

    Die Librettistin Imme Dros unternahm erst gar nicht den Versuch, die weitverzweigten trojanischen Kampfhandlungen, ihre Vorgeschichte und die Kriegsfolgen in einen neuen Text für das Musiktheater zwingen zu wollen, sondern konzentrierte sich auf die Figur des größten Kämpfers, dessen Schicksal auch die Muse Homers zunächst vor allem besingen und beklagen will, bevor sie sich dann in die ganze Vertracktheit der Geschichte verwickelt.

    Trotz dieser sinnvollen Beschränkung fiel der Text dann doch recht holzschnittartig aus: Achill will nicht mehr kämpfen, weil ihm der politische Führer der Anti-Terror-Koalition gegen Troja, Agamemnon, übel mitspielte. Aus sehr persönlichen Gründen aber überlässt er seine Superwaffen dem geliebten Freund Patroklos – und den erschlägt Hektor, der Star der Gegenseite. Das aber reißt Achill zur Rache hin, die immer noch weiteres Blutvergießen und eben auch den Tod des jugendlichen Achilleus nach sich zieht.

    Die Selbstverständlichkeit, mit der diese Produktion ein längst abgesunken geglaubtes Bildungsgut reaktivierte, erscheint ebenso bemerkenswert wie die Tatsache, dass unsere Nachbarn im Westen auf diese Weise wie mit leichter Hand ihre Opernhäuser voll ausverkauft bekommen. Fast ist man geneigt, den Subventionsgebern, die in Deutschland beim neuen Musiktheater nur fördern, was es sich (und dem Publikum) schwer macht, eine Bildungsreise nach Flandern aufzuerlegen. Übrigens auch den jungen Komponisten, die so verbissen am Papier kleben und glauben, nur noch die Trumpfkarte des Anti-Theatralischen spielen zu können.

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