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Neue Realität im Bild

Die Künstlerpersönlichkeit und das Werk George Braques standen lange im Schatten von Pablo Picasso, den die Nachwelt als Vater des Kubismus feierte. Braques großer Einfluss auf die Entwicklung der modernen Malerei wurde erst nach dem Zweiten Weltkrieg anerkannt.

Von Björn Stüben | 13.05.2007
    Die Malerei ernährt die Familie Braque seit der Mitte des 19. Jahrhunderts. Doch es ist nicht die akademische Kunst, sondern die viel schlichtere Dekorationsmalerei, die im Elternhaus des am 13. Mai 1882 in Argenteuil bei Paris geborenen Georges Braque für den Lebensunterhalt sorgt. Als Gehilfe seines Vaters lernt Braque im normannischen Le Havre, wo seine Familie seit 1890 lebt, Stuckornamente mit Farben zu dekorieren oder die Maserung von Granit, Marmor und Holz zu imitieren.

    Direkter hätte der Zugang zur Kunst für den späteren Mitbegründer des bahnbrechenden Kubismus kaum sein können.

    "Genauso unbewusst wie ich atme, wurde ich auch Maler. So lange ich lebe. hatte ich nie den Eindruck, etwas freiwillig getan zu haben. [ ...] Es machte mir Spaß, zu malen, und ich arbeitete viel. [...] Was mich betrifft, so hatte ich nie ein bestimmtes Ziel vor Augen. Ich glaube, Nietzsche hat geschrieben 'Ein Ziel zu haben ist Sklaverei‘ und damit hat er recht. Es ist nicht gut festzustellen, dass man Maler ist. [...] Wenn ich je einen Vorsatz hatte, dann war es der, von Tag zu Tag vollkommener zu werden. Nun einmal damit begonnen, mache ich weiter."

    Den 20-jährigen Braque zieht es 1902 nach Paris. Dort besucht er jedoch nur kurz eine private Kunstschule und die staatliche Ecole des Beaux Arts. Da der Zeichenunterricht ihn langweilt, entscheidet er sich für das Selbststudium vor den Werken der Meister im Louvre. 1905 entdeckt er die Farbenorgien in den Werken der Fauvisten, die vielen Malern als künstlerischer Befreiungsschlag erscheinen. In seinem Atelier am Montmartrehügel geht er auf die Suche nach einer eigenen Bildsprache.

    "Ich hatte selbstverständlich 'am Modell‘ gelernt. Ich hatte bis jetzt nach der Natur gemalt, und als ich davon überzeugt war, dass man sich vom Modell befreien müsse, war es gar nicht so einfach. - Die herkömmliche Perspektive befriedigte mich nicht. In ihrer Mechanisierung gibt sie nie den vollen Besitz der Dinge. Sie geht von einem einzigen Standpunkt aus und verlässt ihn nie."

    Die Werke des 1906 verstorbenen Cézannes und die Begegnung mit Picasso, der im Winter 1907 an seinem Bild "Les Demoiselles d'Avignon" arbeitet, inspirieren Braque dazu, seine Bildgegenstände zunächst kubistisch zu zerlegen, um sie dann wieder neu zu komponieren.

    "Ich vermöchte es nicht, eine Frau in all ihrer natürlichen Schönheit darzustellen. […] Ich habe nicht die Fähigkeit dazu. Niemand hat sie. Ich muss deshalb eine neue Art von Schönheit schaffen, die Schönheit, die sich mir aus Volumen, Linie, Masse, Gewicht zeigt. [...] Ich möchte das Absolute der Frau, nicht nur ihre äußerliche Erscheinung enthüllen."

    Braque und Picasso schwören der Nachahmung von Realität ab. Die Vision der Impressionisten, die optischen Eindrücke der Natur künstlerisch auf die Leinwand bannen zu können, erscheint ihnen endgültig als überholt. Die beiden beinahe gleich alten Künstler schaffen sich eine neue Realität. Es ist Braque, der als erster mit so unterschiedlichen Materialien wie Zeitungspapier, Holzfasern oder Sand experimentiert und sie direkt auf der Leinwand verarbeitet. Gemalte Stillleben mit ganz alltäglichen Dingen wie Musikinstrumenten, Weintrauben, Gläsern und Schalen entstehen.

    Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs beendet die enge Zusammenarbeit mit Picasso. Braque wird schwer verwundet. Nur langsam überwindet er diese Zäsur in seiner künstlerischen Arbeit. Landschaftsmotive und Meerbilder tauchen jetzt in seinem Werk auf. 1925 verlässt Braque kurzfristig sein Atelier und seine Leinwände und nimmt einen Auftrag des Choreografen Diaghilev an, der ihn an seine künstlerischen Anfänge erinnert.

    Braque entwirft die Dekorationen für Diaghilevs Balletversion von Léonide Messines "Zephyr und Flora". Zu Beginn der 30er Jahre wendet er sich ganz von seiner streng kubistischen Malweise ab und experimentiert kurzfristig mit dem Neoklassizimus. Eine erste große Retrospektive seiner Werke wird 1933 in Basel gezeigt. Im Pariser Louvre malt Braque 1953 großformatige Deckengemälde, die Vögel darstellen - ein Motiv, das in seinem letzten Lebensjahrzehnt immer häufiger auftauchen wird.

    "Ein Bild ist erst dann fertig, wenn die ursprüngliche Idee getilgt ist. Man nehme die Vögel, die man auf so vielen meiner Bilder bemerken kann. Ich habe sie mir nie ausgedacht, sie materialisierten sich einfach aus eigenem Antrieb, sie wurden auf der Leinwand geboren."

    Der Kubismus war für Georges Braque letztlich nur ein kurzes Intermezzo auf der Suche nach einer ganz eigenen Bildrealität. Als er 1963 im Alter von 81 Jahren in seiner Pariser Wohnung stirbt, hat er diese Realität für sich längst gefunden.