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NEUE RUNDSCHAU,Heft2/2000

Neue Medien haben schon immer die Phantasie unterbeschäftigter Theoretiker erhitzt. Dabei schwanken die Positionen zwischen naiver Cyberspace-Anbetung oder aber leichenbitterem Kulturpessimismus. Die frühe Entrüstung Adornos über die sogenannte Kulturindustrie und ihre "Kathedralen des gehobenen Vergnügens", in denen sich der "Sieg der technologischen Vernunft über die Wahrheit" vollziehe, ist mittlerweile in einen blinden Jubel über die Segnungen des digitalen Weltwunders Internet umgeschlagen. In ihrer technoiden Schwärmerei können die Apologeten der digitalen Softmoderne aber nicht erklären, warum im Netz der Netze bislang weder ein Online-Ulysses noch ein Cyberspace-Goethe aufgetaucht ist. Einen distanziert-skeptischen Blick auf die neue Internet-Gesellschaft im Augenblick ihrer globalen Entgrenzung wirft nun das aktuelle Heft, die Nummer 2/2000 der Kulturzeitschrift "Neue Rundschau". In überraschendem Pathos adelt "Neue Rundschau"-Herausgeber Martin Bauer in seinem Editorial das Internet zum "globalen Apriori moderner Existenz" und erhebt en passant den 10. Januar 2000 zum markantesten Datum der modernen Geistesgeschichte, die "fortan wohl ... als Internetgeschichte zu schreiben sein wird".

Michael Braun |
    Wer das kulturelle Jahrtausendereignis am 10. Januar verpasst haben sollte, dem erteilt nun ein schwungvoller Essay des Publizisten Hilmar Schmundt bewusstseinsphilosophische Nachhilfe. An diesem epochalen Januar-Tag, erfahren wir jetzt, gab nämlich American Online, der größte Internetprovider der Welt, seine Pläne bekannt, das gigantischste Medienimperium der Welt, den Time Warner-Konzern, sich ganz und gar einzuverleiben. Diese Firmen-Fusion, so kommentiert Schmundt in schönem Sarkasmus, sei nicht nur eine 150 Milliarden Dollar schwere Metapher für die "Konvergenz von Geld und Geist, von Kultur und Industrie", sondern auch das Gründungsdatum einer neuen Ära des Erzählens. Die aktuelle Version des sozial engagierten Schriftstellers sei nämlich der risikobereite Börsianer, der mit seinen Aktienhandelsaktivitäten als Teil eines anonymen Autorenkollektivs die neue Risikowelt der Kulturindustrie produziere: "Börsenkurse sind Erzählungen im Futur, sie sind ein Stück utopische Literatur, die die Zuhörer mitreisst und zum Handeln animiert."

    Gegen diese rein funktionale Poesie der Börsen-Ökonomie nehmen sich die Fiktionen der eigentlichen Internet-Künstler geradezu jämmerlich aus. Wenn Stephan Porombka und Burkhard Spinnen in der "Neuen Rundschau" die Geschichte der Internet-Literatur der neunziger Jahre bilanzieren, erzählen sie auch eine Geschichte der medialen Selbstüberschätzung. Beim Surfen durch einschlägige Sites, so der niederschmetternde Befund von Burkhard Spinnen, sei er nirgendwo Texten von literarischem Rang begegnet. All den großspurigen Visionen von Intertextualität durch Vernetzung, von Aufhebung der Autorschaft und digitaler Radikaldemokratie entspricht in der literarischen Internet-Praxis oft nur ein expandierender Dilettantismus.

    Eine intelligente Ehrenrettung des Mediums Internet unternimmt in der "Neuen Rundschau" einzig der Schriftsteller Thomas Hettche, der mit seinem Projekt "NULL" die ehrgeizigsten literarischen Expeditionen ins "world wide web" angestiftet hat. Glaubt man jedoch Burkhard Spinnen, dann ist bereits der Ernstfall eingetreten: Mit Literatur im Internet erntet man keinen Avantgardisten-Ruhm mehr, sondern allenfalls üblen Leumund.