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Neue Strategien verkürzen den Schockzustand nach Unfällen

Unfälle sind in Deutschland die häufigste Todesursache bei jungen Menschen bis 45 Jahren. Während jedoch vor einem Jahrzehnt noch 15 Prozent der Verunfallten an den Folgen des Schocks starben, liegt der Anteil heute bei 5 Prozent. Neue Strategien helfen, den Schockzustand zu verkürzen. Das sogenannte Schockmanagement war in der vergangenen Woche Thema auf dem Kongress der Deutschen Gesellschaft für Unfallchirurgie in Berlin.

Von William Vorsatz |
    Der Helikopter landet punktgenau am Unfallkrankenhaus Marzahn. Von hier aus kommt der Schwerverletzte sofort in den Schockraum: einen 25 qm großer Saal voller High Tech. Mittendrin vier Liegen. Alles geht blitzschnell, aber ruhig und konzentriert. Jeder Handgriff sitzt. Der begleitende Notarzt übermittelt kurz die wichtigsten Informationen. Sofort beginnt ein neunköpfiges Spezialteam mit dem Kampf gegen den Schock. Ein Wettlauf mit der Zeit, dass weiß auch Professor Dieter Nast-Kolb vom Universitätsklinikum Essen:

    Und das ist das, was wir heute doch sehr stark verbessert haben Wir haben in den Kliniken eigentlich ein immer besser ineinandergreifendes Diagnostik- und Therapieregime, so dass die Abläufe sehr schnell werden. Und das ist eigentlich das, was wir dem Schock entgegensetzten können, da gibt es das Schlagwort Golden Hour, das heißt, in der ersten Stunde muss im Prinzip die gesamte Diagnostik und die richtungsweisenden ersten Therapiemaßnahmen schon begonnen haben.

    In dem Moment, wenn der Patient im Schockraum eintrifft, kümmert sich der Anästhesist um die Beatmung und bereitet Infusionen vor. Der Unfallchirurg tastet den Patienten innerhalb von einer Minute nach einem Standard-Programm ab, um offensichtliche Verletzungen festzustellen. Gleichzeitig richtet der Röntgenologe sein Ultraschallgerät auf den Bauch und den Thorax, um mit Hilfe einer ersten Sonographie weiterer Informationen vom Zustand der Organe zu bekommen. Parallel bereitet die Röntgenassistentin die digitale Kassette für eine Lungenaufnahme vor, schon eine Minute später ist auch das Becken durchleuchtet, unmittelbar danach wird die Halswirbelsäule geröntgt. Das Pflegepersonal kümmert sich derweil um den Blasenkatheter, um Infusionen und Verbände.... .

    Als so genannte Schockorgane steht ganz im Vordergrund die Lunge, mit einer so genannten Ateminsuffizienz, aber hier haben wir heute durch die verbesserten Atmungstechniken und Techniken der Intensivmedizin wesentlich bessere Behandlungsmöglichkeiten, so dass also schwere Störungen dieser Lungenfunktion heute ganz gut therapiert werden können.

    Schneller als noch vor 10 Jahren wird nun auch bei Blutverlust gehandelt. In der Vergangenheit haben die Rettungskräfte mit einer Transfusion oft zu lange gewartet, die Patienten sind daran verstorben. Jetzt gibt es bei Blutverlust sofort eine Konserve. Aber auch mit Schmerzmitteln sind die Notretter großzügiger geworden. Dr. Honke-Georg Hermichen vom Lukas-Krankenhaus in Neuss:

    Früher hat es immer geheißen, wenn man zu starke Schmerzmittel gibt, dann versteckt das irgendwelche klinischen Symptome, man kann das nicht mehr so beurteilen. Die modernen Schmerzmittel haben weniger Nebenwirkungen bezüglich des Wachheitszustands des Patienten, und insofern machen wir damit nichts verkehrt. Das ist das eine. Und es ist ganz klar wissenschaftlich bewiesen, ein Patient, der sich in einem Schockzustand befindet und starke Schmerzen hat, der kommt aus diesem Schockzustand allein wegen seiner Schmerzen sehr schwer wieder heraus, das ist ein Teufelskreis.

    Ein Schock kann selbst Wochen später noch tödlich enden. Nach einem schweren Unfall versorgt der Kreislauf nämlich zunächst die unmittelbar zum Überleben notwendigen Organe mit Blut: Gehirn, Herz und Lunge. Alle anderen Organe müssen warten. Wenn der Schock länger anhält, kommt es aber zu Schädigungen. Das verletztes Gewebe kann beispielsweise nicht repariert werden, Gefäßlecks weiten sich aus, Flüssigkeit tritt aus, Rückstände werden nicht mehr abtransportiert, es bilden sich Gifte, erklärt Professor Nast-Kolb:

    Und der Endzustand eines derartigen Schockgeschehens ist das so genannte Organversagen, Multi-Organversagen heißt dann, das nicht nur ein Organsystem wie die Atmung, die Lunge oder die Leber oder die Niere oder die Gerinnung eben versagt, sondern eben viele zusammen und das hat dazu geführt, das früher bis zu bis zu 30 Prozent auch noch nach Wochen an den Folgen des Traumas verstorben sind.

    Mehr und mehr machen sich die Deutschen das Damage Control Concept der US-Amerikaner zu eigen. Bei einer schweren Bauchverletzung beispielsweise wird heute erst einmal darauf verzichtet, beschädigte Organe kompliziert zu operieren und damit ein weiteres Verletzungstrauma zu erzeugen. Zunächst stoppen Bauchtücher die Blutungen und nach zwei Tagen kann die widerherstellende Operation beginnen. Umfangreiche Daten des sogenannten Trauma-Registers untermauern die neue Strategie. In diesem internationalen Register haben auch 100 deutsche Kliniken im letzten Jahrzehnt die Daten von 15 Tausend Schwerverletzten gesammelt:

    Da gibt es auch aus diesem Trauma-Register eine sehr exakte Studie, die wir auch im letzten Jahr Veröffentlichen konnten, die gezeigt hat, dass, wenn die Versorgungszeit zwischen Klinik-aufnahme und Eintreffen auf die Intensivstation, also durch aus-gedehnte Operationen, länger als sechs Stunden dauert, dass dann die Sterblichkeit sprunghaft auf weit über das Doppelte ansteigt.

    Auch bei Knochenbrüchen greift die neue Strategie. Die Chirurgen warten mit komplizierten, wiederherstellenden Operationen, bis der Patient sich erholt hat. Das kann Tage, aber auch mal bis vier Wochen dauern.
    Schockräume gibt es nur in großen Unfallkliniken, weil das große spezialisierte Team viel kostet und auch die Technik sehr teuer ist. Bei einem Unfall weit ab hilft nur der Helikopter.