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Neue Sturmtiefs über Redmond

Kaum hatte Bill Gates mit einer kühnen Flucht nach vorne versucht, den von Systeminstabilitäten und Sicherheitslücken angekratzten Ruf von Windows durch einen außerplanmäßigen "Boxenstopp" zur Generalüberholung des Betriebssystems XP wieder herzustellen, da dräut dem Redmonder Unternehmen erneut Ungemach. So verdichten sich Gerüchte, nach denen Internet-Marktführer America Online über eine Kooperation mit dem US-Linuxanbieter Redhat jetzt selbst in das Betriebssystemgeschäft einsteigen will. Damit nicht genug, denn auch die britische Regierung erhofft sich von Linux mehr, als Microsoft im Staatsdienst bislang erbringen konnte.

Peter Welchering |
    Offizielle Bekenntnisse zu einer möglicherweise wegweisenden Allianz gegen den bisher unangefochtenen Markführer Microsoft stehen zwar noch aus, dennoch berichteten Experten von intensiven Verhandlungen am vergangenen Wochenende zwischen dem weltweit größten Internetanbieter America Online (AOL) und dem US-amerikanischen Linux-Distributor Redhat über eine Kooperation. Am vergangenen Mittwoch schließlich wies AOL in einer knapp gehaltenen Pressemitteilung Gerüchte über eine Übernahme des Softwarehauses zurück. Doch selbst nach diesem Dementi gehen "industrienahe" Quellen davon aus, dass AOL sein Engagement im Linux-Sektor verstärken wird, um Microsoft quasi auf dessen Stammterritorium anzugreifen. Aus gutem Grund, versucht das Redmonder Unternehmen doch nach seiner uneinholbaren Marktführerschaft bei Betriebssystemen jetzt auch noch, in den Revieren von AOL zu wildern und sich selbst als zentrale Anlaufstelle für Internetbenutzer in Szene zu setzen.

    In den vergangenen vier Monaten hatten sich die Auseinandersetzungen zwischen den beiden führenden Unternehmen erheblich verschärft: Mit der Markteinführung von Windows XP verweigerte Microsoft, auch einen Zugangshinweis für das Internetportal von AOL in die Benutzeroberfläche einzubinden. Stattdessen lockt ein Symbol des hauseigenen Dienstes Microsoft Network die Anwender ins Internet und soll so den Zulauf zum neuen Zentralangebot "Passport" erhöhen. "Passport" sowie sein konkurrierendes Pendant "Liberty Alliance" von AOL verschaffen registrierten Benutzern eine zweifelsfreie Identität im Internet und eröffnen ihnen den Weg zu geschäftlichen Transaktionen, ohne dabei immer wieder neue Accounts und Passwörter bei einzelnen Anbietern anlegen zu müssen. Andererseits verschaffen sich AOL und Microsoft so eine starke Kundenbindung sowie eine völlig neue Rolle quasi als virtuelle Bankinstitute, da auch Zahlungen über die Dienste abgewickelt werden können.

    Ein mögliches AOL-Linux könnte nicht nur auf heimische Internet-PCs abzielen, sondern wohl vor allem auch den steil aufstrebenden Markt mobiler Endgeräte anvisieren. Weil Redhat genau dafür über eine eigene, so genannte "Embedded Linux"-Version verfügt, bietet sich das US-Unternehmen als ausgezeichneter Kooperationspartner an. Derzeit, so orakeln Auguren, fänden noch Abstimmung zu einer Verwendung von Linux innerhalb der zur "Liberty Alliance" zusammen geschlossenen Firmen statt. Spätestens nach Abschluss dieser Vereinbarungen würden vermutlich substanzielle Verhandlungen mit Redhat aufgenommen.

    Indes findet die freie Betriebssystemalternative angesichts offenkundiger finanzieller und sicherheitstechnischer Vorteile auch andernorts immer mehr Interesse. So startete der britische Premierminister Tony Blair gerade eine Linux-Initiative: So sollen Polizei und Ministerien jeweils 60.000 Linuxrechner erhalten, und auch Schulen und Universitäten sollen, wenn auch in noch nicht geklärtem Umfang, mit der unabhängigen Software ausgestattet werden. Die Verantwortlichkeit für das Großvorhaben liegt dazu seit Mittwoch direkt im Cabinett Office. Ausschlag gebend dafür war eine Empfehlung der britischen "Police Information Technology Organisation" (PITO), die Windows-Plattformen vor allem für Virusattacken als zu anfällig erachtet. Überdies, so die Experten, hätten zahlreiche Abstürze der Redmonder Betriebssysteme oftmals zu erheblichen Störungen in den Polizeisystemen geführt und so den Bereich der inneren Sicherheit gefährdet. Von Linux versprechen sich die Behörden dagegen einen weitgehend störungssicheren Betrieb. Eine Machbarkeitsstudie dazu soll noch im März veröffentlicht werden. Doch der britische Premier verlangt noch mehr: So sollen Ministerien, Ämter und Behörden ihre digitalen Angebote, vom Ausweisantrag über Grundbucheinträge bis hin zur digitalen Steuererklärung, bis spätesten 2005 stark ausweiten. Weil Microsoftprodukte in verschiedenen Pilotprojekten dazu keine überzeugende Leistung zeigten, ruht die Hoffnung der britischen Initiatoren jetzt ganz auf Linux.