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Neue urbane Heilslehren von Beirut bis Laos

Besonders in Großstädten finden weltweit immer mehr Menschen aller Religionen zu ektstatischen Gottesdiensten zusammen. Eine Veranstaltung in Berlin widmet sich dem von Soziologen erstaunt als "neue religiöse Bewegung" bezeichneten Phänomen - und gibt mehr Denkanstöße als Antworten.

Von Frank Hessenland | 26.02.2012
    Heisere Predigerstimmen schreien zu Gott. Wie in Trance stehen Hunderttausende mit erhobenen Händen zusammen, die Augen verdreht und nass von Tränen. Sie bekennen ihre Sünden und Flehen um Kraft und Hilfe vom Allmächtigen. Es sind Christen, Muslime, Hindus, die vor allem in den globalen Megastädten zu ekstatischen Gottesdiensten zusammenfinden. Soziologen nennen dies weltweit zu beobachtende Phänomen erstaunt "neue religiöse Bewegung".

    Im Haus der Kulturen der Welt werden seit drei Tagen deren Bilder, Geschichten, Filme und Tonaufnahmen von über 50 Wissenschaftlern diskutiert, beschreibt Stephan Lanz, Kulturwissenschaftler der Viadrina Universität in Frankfurt/Oder.

    "Global Prayers geht eigentlich von zwei Ausgangssituationen aus: Das eine ist die Beobachtung, die wir in unseren Forschungen in verschiedensten Städten auf verschiedenen Kontinenten der Welt gemacht haben in den letzten zehn bis zwanzig Jahren, dass es immer mehr neuartige religiöse Bewegungen und Gemeinschaften gibt, die sich in den Städten gründen, in den Städten ansiedeln und die sehr urban sind."

    Ihre zweite Grundannahme haben die Forscher, die seit drei Jahren an dem Thema arbeiten, gleich über Bord werfen müssen: nämlich, dass die Stadt mit ihrem Unterhaltungsangebot die Religion der Menschen automatisch zum Erlöschen bringt. Das Gegenteil ist der Fall: Egal, ob sie nach Rio de Janeiro, Istanbul, Beirut oder Lagos blickten, überall fanden die Fellows von Global Prayers boomende Zentren mit gigantischen Gotteshäusern, beschreibt Stephan Lanz:

    "Zum Beispiel die RCCG, die mächtigste Pfingstkirche in Nigeria hat zum einen eine riesige Stadt entwickelt, die sie selber City of God nennt, wo bereits 35.000 Menschen wohnen, die infrastrukturell autark ist. ... Es geht nicht darum religiöse Prunkbauten zu errichten, bei all dem Geld was sie haben interessieren die sich überhaupt nicht für eine repräsentative Architektur und wenn man sich die Kirche von denen anguckt in der Redemption Camp. Die fasst zwar 700.000 Gläubige, sieht aber eher aus wie ein Flugzeughangar als wie eine Kirche."

    In Rio de Janeiro, sagt Lanz, haben die evangelikalen Freikirchen mittlerweile mehr Mitglieder als die katholische Kirche. In Istanbul bauen die Islamisten ganze Stadtviertel mit Torwächtern für ihre religiöse Mittelschicht.

    "Der Punkt ist nur, dass innerhalb dieser Gates, dieser Zäune ein völlig anderer Lebensstil stattfinden soll und dass es eben andere Infrastruktur stattfinden soll, nämlich nur solche, die für religiöse Communities geeignet sind, das heißt die Shopping Mall verkauft dann religiöse Waren, religiöse Kleidung, religiöse Mode, allerdings nach allerneuester Fasson. Sie haben Schulen, die sich an religiöse Milieus richten, sie haben Krankenhäuser, die explizit für deren Bedürfnisse ausgerichtet sind und sie haben einen öffentlichen Raum, indem sie eben nur noch Leute in religiöser Kleidung sehen und auch entsprechende Aktivitäten, die im religiösen Milieu nicht erwünscht sind, Austausch von Zärtlichkeiten etc. die dann dort auch tatsächlich nicht stattfinden."

    Selbst in der Hauptstadt des areligiösen Lebenswandels, im Berlin der Parties und Love-Parades sollen in den armen Vierteln islamische Fundamentalisten und in den schicken Bezirken Freikirchen auf dem Vormarsch sein, wie Kathrin Klingan vom Haus der Kulturen klarmacht

    "Die haben hier Glaubensgemeinschaften besucht, die hier an öffentlichen Orten, wie das Babylon-Kino wie Nachtklubs in Friedrichshain, wie sehr schicke Prenzlauer Berg Mehrzweckräume, die dort regelmäßig ihre Messen abhalten... sind immer jugendliche Glaubensgemeinschaften, sind auch Glaubensgemeinschaften, die meist aus den USA kamen und sich hier ansiedelten und die einfach unglaublichen Zulauf haben."

    "Global Prayers" präsentiert eine verwirrende Vielfalt von Vorträgen, Filmen und Diskussionen, auf sehr unterschiedlichem wissenschaftlichen und künstlerischem Niveau. Ein wenig detailverliebt konnte man erfahren, welche Gründe Maria aus Rio zur Pastorin machten und wie nigerianische Filmemacher sich Gottes stimme vorstellen.

    "I bring prosperity and create disaster, I, the lord, can do all these things! ...
    I have something to show You: Look!”


    Dabei gerieten die großen Fragen aus dem Blickfeld: Warum erstarken die Religionen gerade jetzt? Aus Gründen der Armut, der Landflucht, der Migration? Was bedeutet das für die Zukunft? Mehr Kampf der Kulturen oder mehr Gottes Liebe für die Welt? Global Prayers gab mehr Denkanstöße als Antworten.