Dienstag, 30. April 2024

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Neue Vokalmusik aus Island

Am Mikrofon Frank Kämpfer. Die heutige Plattenempfehlung führt geographisch in Richtung Norden - ich stelle Ihnen heute alte und neue Gesänge aus Island und Finnland vor. * Musikbeispiel: Sveinsson, Dalvísa Idyllische Landschaft als Ort der Einkehr: Schlucht, Feld und Tal erfreuen und prägen. Die schöne Natur scheint beseelt; der Sänger des Liedes bittet die Elemente, den Schluchtgeist und das Zentralgestirn, von Dauer zu sein und einem friedlichen Dasein zu dienen. Volksliedhafte Romantik klingt aus Atli Heimir Sveinsson's Chanson: Es besingt die Archaik der Heimat und es nutzt dazu die traditionelle, kontinental obligatorische Form. Islands Kunstlied scheint stark verwurzelt in europäischer Tradition - und Historie. Denn keine gestrenge Moderne, vielmehr Brahms, Grieg und Sibelius scheinen den sieben isländischen Tonsetzern, die die Platte enthält, Pate gestanden zu haben, sowie einiges an regionaler Volksmusik. Exotik und Ferne allerdings fehlen. Die musikalische Dramaturgie der Miniaturen klingt bestens vertraut. Strophenlied und Ballade regieren. Faszinierend an diesem Liedgut sind das Nicht-Merkantile und Unzeitgemäße; was hier erklingt, scheint, wie das knappe Booklet erklärt, im Land populär und es fehlt die sonst überall übliche Trennung in unterhaltend und ernst, avanciert und kommerziell. Die zwei Musikerinnen kommen unüberhörbar aus dem Klassikbereich: die Sopranistin Sólrun Bragadóttir, geboren in Reykjavik, in Island sehr prominent und auf zahlreichen deutschen Opernbühnen erprobt, sowie die amerikanische Klavierbegleiterin Margaret Singer, die heute in Karlsruhe lebt und wirkt. Veröffentlicht beim Hannoveraner Kleinlabel CordAria versammelt die CD Lieder und Songs von sieben isländischen Tonsetzern mehrerlei Generation: Komponisten der Jahrhundertwende wie Karl Runólfsson oder Sigvaldi Kaldalóns sowie unmittelbare Zeitgenossen wie Sveinsson, Baldvinsson, Sveinbjörnsson oder Jón Asgeirsson. - Von letzterem hier auf ein Gedicht von Halldór Laxness ein romantischer Totengesang: * Musikbeispiel: Asgeirson - Pótt form pin hjúpi graflín Vom romantischen Lied zu mittelalterlichen Gesängen. Erhalten sind im skandinavischen Raum - sieht man von rein liturgischem Material ab - lediglich sogenannte 'Cantiones': frommes Liedgut, das einen christlichen Gestus aufweist, aber durchaus weltlichen Inhalts sein kann. Gepflegt wurden solche Gesänge vor allem in Lateinschulen, wo sie zum Erziehungskanon gehörten, aber auch bei sogenannten Landausflügen: Die Schüler zogen von Haus zu Haus und sangen Neuigkeiten und Heiligengeschichten. Auffällig ist der rhythmische Charakter vieler Cantiones: ein Hinweis auf einen darstellerischen Zusammenhang. * Musikbeispiel: Parvulus nobis nascitur "Parvulus nobis nascitur" - mittelalterliche Cantiones aus Skandinavien. Die Überlieferung dieser vokalen Kultur funktionierte auf schriftlichem Weg. Lateinische Quellen fanden sich in erster Instanz in Finnland und Schweden, was auf die geographische Verbreitung schließen läßt. Von besonderem Interesse für die Forschung ist ein finnisch-sprachiger Druck von 1616, der Gesänge des Spätmittelalters und aus der Anfangszeit des Protestantismus in Finnland vereint. Diese Ausgabe war auch die Basis der vorliegenden CD-Produktion, die jüngst beim finnischen Label Ondine erschien. Ausgewählt wurden 27 Miniaturen, aufgenommen wurden sie mit dem Kammerchor des Finnischen Rundfunks unter der Leitung von Timo Nuoranne. Hier noch ein finnisch-sprachiger Titel: "Jumalisten joucko", dt. "Die Göttlichen". * Musikbeispiel: Jumalisten joucko Zuguterletzt ein Ausflug in die Anfänge der finnischen Moderne. Historisch ist sie in zweifacher Weise mit dem Namen Jean Sibelius verknüpft. Sibelius war in der Nationalstaatsbewegung engagiert und verschmolz Errungenschaften europäischer Moderne zu einem eigenen Stil. Weniger bekannt als er ist sein Landsmann und Zeitgenosse Toivo Kuula (1883-1918). Kuula's knappes Werk umfaßt einige Orchestermusik, vor allem jedoch Chormusik und 26 Lieder. Vier der letzteren finden sich auf einer kürzlich bei Hänssler Classic erschienenen Porträt-CD der bemerkenswerten jungen finnischen Sopranistin Camila Nyland - die, begleitet von Marita Viitasalo, außerdem Kompositionen von Debussy, Britten und Sibelius singt. Hier zum Abschluß Toivo Kuula's Examensstück "Tuijotin tuleben kaunan" ("Lange starrte ich ins Feuer") - ein melancholischer Song, in dem sich die Pariser Moderne und die Folklore von Vaasa begegnen. * Musikbeispiel: Kuula - Tuijotin tuleben kauan Lieder von Debussy, Britten, Sibelius und - wie zuletzt gehört - von Toivo Kuula: eingespielt mit der jungen finnischen Sopranistin Camilla Nylund und bei Hänssler Classic erschienen. Zuvor hörten Sie alte finnische Cantiones, erschienen bei Ondine in Helsinki (in Deutschland im Pro-Classics-Vertrieb) - sowie, verlegt von CordAria in Hannover, Neue Vokalmusik aus Island. - Soweit "Die Neue Platte", vorgestellt heute von Frank Kämpfer.

Frank Kämpfer | 11.07.1999