Samstag, 11. Mai 2024

Archiv


Neue Wege auf alten Spuren

"Alte Spuren, neue Wege" - so heißt eine Ausstellung von Oberösterreich und Südböhmen. Sie versucht in je zwei Orten eine gemeinsame Vergangenheit darzustellen, die mehr als 40 Jahre lang durch den Eisernen Vorhang unterbrochen war und bislang nicht recht zusammenfand.

Von Stefan May | 03.11.2013
    "An der Mitternachtsseite des Ländchens Österreich zieht ein Wald an die dreißig Meilen lang seinen Dämmerstreifen westwärts, beginnend an den Quellen des Flusses Thaia, und fortstrebend bis zu jenem Gränzknoten, wo das böhmische Land mit Österreich und Baiern zusammenstößt."

    Der österreichische Dichter Adalbert Stifter beschreibt im 19. Jahrhundert seine Heimat, den Böhmerwald, eine stille Landschaft mit dunklen Wäldern und sanften Hügeln. Diese nur dünn besiedelte Landschaft gehört zum einen zu Südböhmen in Tschechien, zum anderen zu Oberösterreich. Fast vier Jahrzehnte durchschnitt sie der Eiserne Vorhang hermetisch. Er machte aus dem Gefüge Böhmerwald Randlagen zweier Staaten, Sackgassen der Beziehungen, Stockgleisen der Wirtschaft - unbeachtet hüben wie drüben.

    Eine gemeinsame Landesausstellung mit dem Titel "Alte Spuren, neue Wege" an je zwei Ausstellungsorten in Oberösterreich und in Südböhmen sollte die Menschen auf beiden Seiten einander wieder näher bringen. Aber, so Bernhard Stolberger von der Ausstellungsorganisation in der oberösterreichischen Landeskulturdirektion:

    "Wir haben uns natürlich erhofft, dass wir, durch das, dass Freistadt, Bad Leonfelden sehr grenznah ist, doch einen gewissen Prozentsatz an tschechischen Besuchern haben werden. Bis jetzt sind unsere Erwartungen noch nicht ganz eingetroffen, ja. Man sieht doch, dass wahrscheinlich bei den tschechischen Landsleuten die Kultur noch nicht in ihrer Konsumpyramide vorhanden ist. Daher ist eben das noch ein sehr geringer Prozentsatz, ja, geht nicht einmal zweistellig, was an tschechischen Besuchern in Freistadt oder Bad Leonfelden gewesen sind."

    Und das, obwohl die Exponate an allen vier Orten deutsch und tschechisch angeschrieben sind. Noch immer trennt viel die beiden Völker. Das mag seine Wurzeln in der Monarchie haben, als das Habsburgerreich den Tschechen, anders als den Ungarn, eine Gleichstellung mit dem deutschsprachigen Teil konsequent verweigerte. Gravierend auf die gegenseitigen Beziehungen wirkte sich auch die Vertreibung der Sudetendeutschen nach dem Zweiten Weltkrieg aufgrund der sogenannten Benes-Dekrete aus. Seit längerem Zankapfel ist das Atomkraftwerk Temelin nicht weit hinter der Grenze, durch das sich die Oberösterreicher gefährdet fühlen. Fast ein Vierteljahrhundert nach der Grenzöffnung scheinen die Bewohner des Böhmerwaldes noch immer mehr mit dem Rücken als mit dem Gesicht zueinander zu stehen.

    Wie Freistadt liegt auch Bad Leonfelden am Handelsweg von der Donau nach Böhmen und hat einen historischen Stadtkern. In der früheren Bürgerspitalskirche drängen sich die Besucher. Das Thema Vertreibung wird nur sehr behutsam angesprochen.

    Schräg gegenüber treffe ich in einer Pizzeria am Hauptplatz den Berufsfotografen Rudolf Laresser. Er ist vor Jahren aus der Steiermark ins Mühlviertel gezogen und fühlt sich hier wohl: Er mag die Landschaft, die beschauliche Ruhe, die geringe Bevölkerungsdichte. Die offene Grenze beurteilt er zurückhaltend.

    "Am Anfang sind viele Leute einkaufen gefahren und haben viele Dinge gekauft, die wir dann daheim weggeschmissen haben. Aber das war einfach deren Sinn von Freiheit. Ich denk´ mir auch, ich esse lieber mein Schnitzel in Oberösterreich herüben und fördere damit unsere heimische Wirtschaft als wie, dass ich rüberfahre und indirekt mit Steuern und sonstigen Abgaben die Atomenergie drüben sponsere. Ich kann nicht gegen die Atomkraft sein und indirekt sponsere ichs."

    "Drüben" ist nach nur wenigen Minuten Autofahrt von Bad Leonfelden erreicht, die einst undurchdringliche Grenze, heute ein verlassenes Zollhaus mitten im Wald. Es folgen ein einsames Kasino, ein Einkaufszentrum an der Straße, im kleinen Ort Studanky ein angestaubtes Pretty-Woman-Etablissement und eine Armee von Gartenzwergen, die nach der Wende in Tschechien den Platz der Grenzsoldaten eingenommen haben.

    Die erste Gemeinde an der Straße ist Vissy Brod, das ehemalige Hohenfurth. Aus dem einst verschlafenen Nest zur Wendezeit, über dem bleigraue Perspektivlosigkeit lastete, ist ein quirliger Ort des kleinen Grenzverkaufs geworden. Werbetafeln überall: Für Dynamo Vissy Brod und den Beauty-Salon Hollywood, für einen Zahnarzt. Unter Vordachplanen werden Taschen, Sonnenbrillen und Gipsfiguren angeboten. Autos mit Kennzeichen oberösterreichischer Bezirke suchen nach Parkplätzen. Der wirtschaftliche Austausch funktioniert. Am ersten Lokal hinter dem Ortseingang lässt sich die Entwicklung ablesen: Gleich nach der Wende bestand es noch aus einem verrauchten Schankraum mit nikotingelben Vorhängen, das Blechbesteck verbog sich bei jedem Stich ins harte Fleisch. Beim nächsten Besuch gab es bereits helle Vorhänge, beim übernächsten war ausgemalt, später wurde eine zweisprachige Speisekarte gereicht. Heute ist es das erste Hotel am Platz. Der Bruder des Eigentümers, Jiri Franc, ist Historiker und kuratiert derzeit die Landesausstellung im wiedererstandenen gotischen Zisterzienserstift Hohenfurth, unten im Dorf, am Moldauufer.

    "Wir können vielleicht sagen, dass die Geschichte von Hohenfurth in den letzten Jahren eine Aschenputtel-Geschichte ist, weil das Kloster blieb jahrelang eigentlich unbeachtet. Das Kloster hat zwar eine EU-Förderung bekommen, die war aber dafür, dass das Projekt sehr umfangreich war, nicht so großzügig, eine halbe Million Euro zirka. Mit diesen Geldern wurde die Klosterkirche restauriert, das Zarwischkreuz wurde ausgestellt und viele weitere Baumaßnahmen konnten nur mithilfe von verschiedenen Sponsoren umgesetzt werden."

    Etwa dem Verein zur Förderung des Stiftes Hohenfurth mit Sitz in Oberösterreich, dem Unternehmen, Banken und private Geldgeber aus dem Nachbarland angehören. Offen bleibt, ob es den Spendern dabei um die Intensivierung der Beziehungen zu den Menschen jenseits der Grenze oder nicht vielmehr doch um die Erhaltung von Kulturschätzen ging, die eng mit den eigenen Wurzeln zu tun haben.

    "Es gibt sicherlich jenseits und diesseits der Grenze noch die alten Ressentiments sehr wohl, das können und dürfen wir nicht verschweigen. Aber es hat sich eben auch sehr vieles getan auf diesem Gebiet. Hohenfurth-Vissy Brod war nämlich immer ein Knotenpunkt der oberösterreichisch-südböhmischen Beziehungen. Und natürlich, die Grenze ist heute offen, und die Bewohner von Bad Leonfelden und von Vissy Brod, von Freistadt und von Krumau kennen sich. Da, glaube ich, sind die Beziehungen oft anders, als wir sie das manchmal auch dargestellt bekommen oder als das auch auf der politischen Ebene stattfindet."

    Selbst unter der Woche kommen viele Besucher hierher: Einheimische und Österreicher. Die Klosterkirche strahlt heute wie neu, die Stiftsbibliothek ist die zweitgrößte in Tschechien. Das Kloster Vissy Brod war 1941 und 1950 aufgehoben worden, nach der Wende wurden die erst von den Nazis und dann von den Kommunisten weggeschafften Kunstschätze aus Linz und Prag zurückgegeben. Heute leben wieder sieben Mönche im Kloster.

    An Vissy Brod vorbei schlängelt sich die noch junge Moldau vorbei, so silbrig und adoleszent wie am Beginn von Smetanas Musikstück beschrieben. Unzählige Schlauchboote tummeln sich im seichten Wasser. Die Straße folgt dem gewundenen Verlauf, passiert Rosenberg, den Sitz der ehemaligen Herren über diesen Landstrich und erreicht nach etwa 30 Kilometern Cesky Krumlov/Krumau, das der Fluss in einer Schlinge umfängt, vom dunklen Schloss gekrönt, das Adalbert Stifter "die graue Witwe der verblichenen Rosenberger" genannt hat. Gleichsam im letzten Augenblick wurden in den vergangenen zwei Jahrzehnten 400 Gebäude der Altstadt vor dem Verfall bewahrt, erzählt Jitka Zikmundova, Vizebürgermeisterin im Rathaus von Cesky Krumlov, das den geschäftigen Hauptplatz dominiert.

    "Es ist eine immense Arbeit hinter uns. Cesky Krumlov, also diese historische Bausubstanz, ist gerettet. Das war wirklich eine Rettungsaktion. Es gibt Kritiker, die sagen, ja die Stadt hat sich nicht irgendwie entwickelt, es gibt das, es gibt das nicht. Aber bitte: Hier hat man 20 Jahre ein riesiges Ensemble von historischen Gebäuden aus dem Mittelalter gerettet. Und das ist schon eine Heldensache."

    Heute wälzt sich eine Woge von Touristen aus aller Welt durch die Fußgängerzone, wo sich Restaurants, Boutiquen und Souvenirgeschäfte in bunt bemalten alten Häusern aneinander drängen. Eine Million Besucher kommen im Jahr in das UNESCO-Weltkulturerbe. Viele davon reisen aus dem Nachbarland an, aus Oberösterreich. Im Tourismus scheint der Austausch ohne Ressentiments bereits zu funktionieren.

    "Stimmt, dass es noch in Köpfen die Grenze gibt. Und ich weiß, was soll man tun, denn ich habe das persönlich erlebt: Einfach mit Kindern arbeiten, mit den Kleinen, mit den Jungen. Es ist traurig, dass unsere Jugendlichen nicht Deutsch mögen. In dem Sinne: Für die ist das nicht die Sprache Nummer eins. Also das ist nicht cool. Es ist Englisch. Wenn sie die Sprache sprechen, verstehen sie ihre Nachbarn und das verdoppelt auch die Chancen auf bessere Jobs, bessere Kontakte, bessere Möglichkeiten."

    Die Ausstellung im Landesmuseum widmet sich nie ausgeführten Projekten in der Region: einer Wasserverbindung zwischen Donau und Moldau, diversen Bahnprojekten. In einem der Begleittexte heißt es knapp:

    "Möchte heutzutage jemand alle vier Orte der Landesausstellung besuchen und ausschließlich mit Schiff oder Bahn reisen, hat er einfach Pech."

    Nicht vorhandene Wege zueinander sind Ausdruck unterentwickelten Interesses aneinander. Wo Wege sind, ist Austausch, Wegenetze sind Vernetzung. Zwischen Oberösterreich und Südböhmen lassen sich unendlich viele alte Spuren finden, die neuen Wege hingegen sind noch in Bau.