Überall Haie. Die Tageszeitung aus Berlin vermutete sie in der Parteiführung. Das Titelbild zum Auftakt: Ein grüner See mit fünf Rückenflossen. Claudia Roth, Reinhard Bütikofer, Renate Künast, Fritz Kuhn und Jürgen Trittin, die sich gegenseitig belauern. Wer macht den ersten Fehler, wer wird das erste Opfer im Rennen um die Spitzenkandidatur bei der nächsten Bundestagswahl? Die Vorstandstribüne als Raubfischbecken.
Andere vermuteten vor dem Parteitag in Nürnberg die Haie eher an der Basis, bereit die Führung bei der nächsten Gelegenheit anzugreifen, wie sie es in letzter Zeit häufiger gemacht hatten. Die Frankenhalle als Haifischbecken. Die Vorstandtribüne als rettendes Floß. Vielleicht lagen die Haie aber auch außerhalb des Tagungsortes auf der Lauer. Bereit über die grüne Partei herzufallen, um ihr zum zweiten Mal innerhalb von kurzer Zeit vorwerfen zu können, sie habe sich mit ihrem utopischen Beschluss von der Regierungsfähigkeit verabschiedet. Denn das große Thema des Parteitages bot in dieser Frage einigen Zündstoff:
Die Neuausrichtung der Sozialpolitik. Beim ehemaligen Regierungspartner SPD wird die Debatte um ein Festhalten an den Arbeitsmarktreformen der Agenda 2010 längst öffentlich ausgetragen. Entbrannt war die Diskussion am Vorschlag des Parteivorsitzenden Kurt Beck, älteren Arbeitslosen das Arbeitslosengeld 1 wieder länger zu zahlen. Bei den Sozialdemokraten heißt das: Weiterentwicklung der Agenda. Und auch die Grünen würden sich nicht von den Reformen verabschieden, die sie mitgetragen haben, sagt der Fraktionsvorsitzende Fritz Kuhn
"Nein, es gibt ja bei der Agenda vieles, was positiv war, die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe hat vielen Leuten was gebracht, auch das diese Vorruhestandsmodelle abgebaut worden sind, ist ein wichtiger Punkt. Was noch nicht funktioniert hat, ist, dass das ALG 1 eine Grundsicherung ist, die den Menschen schnell genug Brücken in die Erwerbsarbeit öffnet. Das Fördern kommt zu kurz. An der Stelle erweitern wir die Agenda, verbessern sie, stellen sie vom Kopf auf die Füße."
Zwei alternative Modelle standen dafür zur Auswahl: Auf der einen Seite die bedarfsabhängige Grundsicherung. Eine Weiterentwicklung von Hartz IV , die der Bundesvorstand eingebracht hatte - auf der anderen Seite das bedingungslose Grundeinkommen, das in vielen Landesverbänden Unterstützer gefunden hatte. Das Interessante an der Debatte über die zwei fast gegensätzlichen Modelle, so der Bremer Politikwissenschaftler Lothar Probst, sei ...
" ... dass in diesen Fragen die Auseinandersetzung quer durch verschiedene Lager geht. Da lassen sich die Lager nicht so einfach zuordnen. Also nicht: Die Linken sind für das Grundeinkommen, die die eher zur Mitte tendieren, sind eher für die Grundsicherung. "
Den Antrag zum Grundeinkommen brachte gar dem Landesverband Baden-Württemberg ein, ein ausgesprochener Realo-Verband. Es sollte und durfte aber auch auf keinen Fall eine Abstimmung Parteispitze gegen Basis werden. Mit Blick auf den für die Parteispitze so desaströsen Afghanistan-Parteitag in Göttingen mahnte die Parteivorsitzende Claudia Roth die Delegierten:
"Und deswegen mein Appell an diese Bundesversammlung. Wir werden uns bei dieser Bundesversammlung engagiert und leidenschaftlich streiten. Aber bitte, liebe Freundinnen und Freunde, lasst uns diesen Streit respektvoll austragen. Respektvoll gegenüber der anderen Position. Wenn wir das tun, dann haben wir gewonnen, wenn wir das nicht tun, dann haben wir schon verloren."
Die Befürworter der bedarfsorientierten Grundsicherung wollen eine entbürokratisierte Variante des ALG 2. Sie wollen, wie sie sagen, Hartz IV humanisieren. Zurzeit bekommt ein Arbeitslosengeld 2 Empfänger monatlich 347 Euro als Regelsatz plus Miete. Zu wenig, sagen die Befürworter der Grundsicherung. Sie fordern 420 Euro. Damit orientieren sie sich an den Forderungen des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbandes. Anders als heute soll der Grundbetrag jährlich überprüft und an die veränderten Lebenshaltungskosten angepasst werden. Sachleistungen sollen ergänzend besondere Bedürfnisse decken. Die Wohnkosten, die heute mit etwa 360 Euro berechnet werden, sollen sich bei der bedarfsorientierten Grundsicherung nach dem aktuellen örtlichen Mietspiegel und an der tatsächlichen Verfügbarkeit von Wohnraum ausrichten.
Ein weiterer zentraler Punkt, sagt Fritz Kuhn:
"Das so genannte Progressivmodell, wir wollen Lohnnebenkosten bei Arbeiten mit geringeren Einkommen reduzieren, so dass mehr Arbeitsplätze entstehen - und mehr Geld netto im Geldbeutel bleibt."
Bei niedrigem Lohn, geringe Lohnnebenkosten. So könnten auch Minijobber wieder vollwertige Mitglieder in der Sozialversicherung werden. Außerdem soll eigenes Einkommen geringer auf die Grundsicherung angerechnet werden als beim heutigen Arbeitslosengeld 2. Bis zu einem Verdienst von 400 Euro soll jeder zweite Euro anrechnungsfrei bleiben. Auch in der Altersvorsorge soll es Änderungen geben: Pro Lebensjahr sollen bis zu 3000 Euro steuerfrei zurückgelegt werden können. Ganz besonders am Herzen lag dem Parteivorsitzenden Reinhard Bütikofer aber noch ein anderer Punkt: Erst vor kurzem hatte der Kinderreport Deutschland seine neuesten Untersuchungen veröffentlicht, nach der sich die Zahl der armen Kinder seit der Einführung von Hartz IV verdoppelt habe. Deshalb wollen die Grünen die Sätze für Kinder auf 300 bis 350 Euro erhöhen. Abhängig vom Alter und dem Ausbau des Kinderzuschlages. Zusätzlich sollen unter anderem die Kosten für Schulmahlzeiten übernommen werden. Wie soll das finanziert werden, fragte der grüne Finanzexperte Oswald Metzger schon vor dem Parteitag - und sprach sich gegen eine generelle Erhöhung der Regelsätze aus. Rund 60 Milliarden Euro soll die Grundsicherung kosten. Kein Pappenstil, wie Bundestagsvizepräsidentin Katrin Göring-Eckhardt meint:
"Und deshalb ist das mehr, als nur ein bisschen mit dem Schraubenzieher an Hartz IV herumdrehen. Weil wir sagen: Wir brauchen eine echte Revolution, gerade was die Bildungschancen, was das Bildungssystem angeht. Und was die Hilfen auch in der Jugendhilfe angeht."
Eine weitere Säule der Grundsicherung. Zur Frage der Finanzierung Fritz Kuhn:
"Veränderungen bei der Erbschaftssteuer, Veränderungen bei der Einkommenssteuer. Wir sagen, dann muss man von den 42 hoch auf die 45. Wenn man Bildungsinfrastruktur finanzieren will, dann muss man Steuerabschreibungen reduzieren, Subventionen abbauen, zum Beispiel für die Kindergarteninfrastruktur sollte man das Ehegattensplitting abbauen - und da kommt schon einiges zusammen."
Viel teurer noch als die bedarfsabhängige Grundsicherung käme allerdings das bedingungslose Grundeinkommen. Das Prinzip ist schnell erklärt: Es geht um die Entkopplung von Arbeit und Einkommen. Das bedingungslose Grundeinkommen gäbe es für jeden, egal, ob er auf dem Arbeitsmarkt zur Verfügung steht oder auch nicht. Von der Sozialhängematte war bei Kritikern die Rede, von einem weiteren Linksruck der Partei. Für den Finanzpolitiker Oswald Metzger wäre dies auch ein ökonomisches Schreckensszenario:
"Das stellt den archaischen Grundsatz auf den Kopf in der Menschheitsgeschichte: Dass Menschen sich rühren müssen, um zu überleben. Und ein bedingungsloses Grundeinkommen, das an jeden gezahlt wird. Egal ob er eine Gegenleistung bringt oder nicht, das heißt ob er arbeitsfähig ist oder nicht, heißt, die Zusammenhänge unserer Volkswirtschaft außer Kraft setzen. Weil, wenn ich bedingungsloses Grundeinkommen verteile, dann müssen andere mit ihrer Arbeitsleistung, natürlich hochproduktiv, das erstmal erwirtschaften."
Die Idee eines Grundeinkommens ist nicht neu. Bei den Grünen nicht - und auch nicht für andere Parteien. Sogar die FDP hat damit schon geliebäugelt. In der CDU macht sich Thüringens Ministerpräsident Dieter Althaus Gedanken über ein Bürgergeld: Doch Grundeinkommen ist nicht gleich Grundeinkommen. Die Grünen distanzieren sich sogar von den Modellen des dm-Drogeriemarkt-Gründers Götz Werner und Dieter Althaus. Werners Modell gilt für sie als unbezahlbar. Althaus werfen Sie vor, er wolle eine Stilllegungsprämie. Der Sozialstaat würde abgeschafft, die gesamte Verantwortung liege beim Individuum und mit dem Bürgergeld von 600 Euro hätten die Menschen weniger in der Tasche als mit Hartz IV. Die Grünen hingegen setzen auf das Modell einer negativen Einkommenssteuer. Wer weniger als einen bestimmten Mindestsatz verdient, bekommt einen Zuschuss in Höhe von 420 Euro. Wer mehr verdient, dem wird dieser Betrag als Freibetrag bei der Einkommenssteuer angerechnet. Eine Überprüfung der Bedürftigkeit, wie es heute bei Hartz IV oder auch bei der Grundsicherung der Fall wäre, entfällt. Ein klarer Vorteil gegenüber der Grundsicherung, meint Thomas Poreski, der am Baden-Württemberger Antrag zum Grundeinkommen mitgeschrieben hat.
"Das Grundeinkommen ist deswegen gerechter, weil es mit einem Steuermodell kombiniert wird, der so genannten negativen Einkommenssteuer. Das bewirkt, dass wir eine erhebliche Verteilungswirkung zugunsten kleiner und mittlerer Einkommen, besonders Haushalten mit Kindern bekommen. Dass wir gleichzeitig den Lohnabstand zwischen Leuten, die nur Transferleistungen bekommen, also Grundeinkommen oder Grundsicherung bekommen, und denen, die arbeiten, erhöhen, das heißt: Je mehr jemand arbeitet, desto mehr hat er auch davon. Obwohl die Armen bessergestellt sind."
Hunderte Milliarden könnte ein solcher Systemwechsel kosten. Dennoch gab es in der Debatte viel Applaus für das Grundeinkommen. Die Zustimmung zum bedingungslosen Grundeinkommen würde aber bedeuten, sagt der Bremer Politologe Lothar Probst:
""Es wird zwar auch in anderen Parteien immer wieder über ein Grundeinkommen diskutiert oder ein Bürgergeld, da sehen die Konzeptionen aber ganz anders aus. Also, es gibt gegenwärtig keine andere Partei, zumindest keine große Partei, die mit den Grünen konform sein würde. Das hätte natürlich Konsequenzen. Es würde sich kein Koalitionspartner finden."
Über mögliche Partner für die Umsetzung der Idee wollte die Führungsspitze nicht spekulieren. Für sie war der entscheidende Punkt aber dann doch die Realisierbarkeit - und damit auch die Regierungsfähigkeit der Partei nach den Bundestagswahlen 2009. Claudia Roth:
"Ich werbe hier in Nürnberg für einen sozialpolitischen Aufbruch. Ich werbe für eine Grundsicherung, die auch wichtige Gedanken des Grundeinkommens einbezieht. Ich werbe für ein Modell, das die bittere Realität von Hartz IV überwindet. Ich werbe für eine Grundsicherung, die nicht fordert, wo nicht gefördert wird, die Voraussetzungen schafft für die gesellschaftliche Teilhabe. Die sehr wohl - und das sage ich den Kritikern der Grundsicherung, die visionär ist und gleichzeitig finanzierbar, liebe Freundinnen und Freunde."
Visionär, aber vor allem finanzierbar. Auch für den Oberbürgermeister von Tübingen, Boris Palmer, das ausschlaggebende Kriterium für die Realpolitik, die sich seine Partei auf die Fahnen geschrieben hat. Und so stimmte er, nachdem er auf Landesebene noch das bedingungslose Grundeinkommen unterstützt hatte, für die Grundsicherung.
"Das Grundeinkommen ist eine faszinierende Perspektive für die nächsten zehn, fünfzehn Jahre, aber jetzt können wir das unmöglich beschließen. Denn ökonomisch und gesellschaftlich ist das noch lange nicht beschlussreif. Also, jetzt das Machbare. Und ich will nicht im Wolkenkuckucksheim Politik machen, sondern hart in der Realität."
Die Debatte, auf die alle mit Spannung gewartet hatten, verlief gemächlich und sachlich. Die Parteitagsregie funktionierte. Anders als in Göttingen, wo die gesamte Führungsriege gesprochen hatte, gab man hier hauptsächlich der Basis das Wort. Am Ende setzte sich der Antrag des Bundesvorstandes mit rund 60 Prozent der Stimmen durch. Für die Befürworter des bedingungslosen Grundeinkommens zwar eine formale Niederlage. Doch bei genauem Hinschauen war erkennbar, dass auch ihre Idee in der einen oder anderen Form Eingang in den Antrag gefunden hatten. Schon bei der Formulierung ihres Antrages hatten die Befürworter der bedarforientierten Grundsicherung zum Beispiel die so genannte Brückenexistenzsicherung mitaufgenommen. Sie soll jedem Menschen für eine bestimmte Zeit in seinem Leben, ohne Prüfung der Bedürftigkeit, eine finanzielle Sicherung bieten. Nur einer der Punkte, die als Zugeständnis an die Befürworter des Grundeinkommens gewertet wurden. So können sich auch die Befürworter des bedingungslosen Grundeinkommens zufrieden geben. Thomas Poreski:
"Wir haben jetzt erstmal Grundsicherung festgeschrieben. Die Grundsicherung selbst ist aber, so wie sie schon im Antrag ist, durch Grundeinkommenselemente angereichert. Da steht das Ziel einer bedingungslosen Kindergrundsicherung drin - das ist nichts anderes als ein Kindergrundeinkommen, da steht der so genannte Öko-Bonus drin, das ist nichts anderes als ein zusätzliches Ökosteuer-Grundeinkommmen. Das steht ja alles schon drin, da ist die Öffnung schon drin."
Hat sich die Parteispitze aus Angst, dass die Basis wie in Göttingen ihren Antrag versenken könnte, das Wohlwollen der Basis erkauft, indem sie ihren Antrag so weit verwässert hat, dass jeder darin seine Position findet? Der Parteivorsitzende Reinhard Bütikofer widerspricht.
"Das ist einfach absoluter Unsinn. Wir haben dort Anträge übernommen, wo sie etwas beigetragen haben. Und wir haben dort Alternativentscheidungen durchgeführt im Parteitag, wo wir nicht einverstanden waren. Und ich habe nicht eine einzige dieser Alternativentscheidungen verloren. Das heißt, wir haben unsere Position durchgesetzt. Punkt!"
Auch der Fraktionsvorsitzende Fritz Kuhn zieht eine andere Schlussfolgerung:
"Wenn die Führung sich einig ist, die standen ja alle hinter dem Grundsicherungskonzept im Bundesvorstand und im Parteirat, dann kann man auch auf solide Mehrheiten kommen. Und das ist die Lehre aus Göttingen, wo sich die Führung nicht einig war - und dann sagt sich die Basis. Nun gut, wenn das so ist, dann sagen wir, wie es geht."
Das Bild von den Haifischen im Führungsbecken schien zumindest nach außen auf diesem Parteitag nicht mehr zu stimmen. Auch die zweite mögliche Konfliktlinie - lauernde Basis gegen Vorstand - trat nicht zutage. Dazu hatte aber auch der Streit mit dem Baden-Württemberger Landtagsabgeordneten Oswald Metzger seinen Teil beigetragen. Die trennende Linie verlief nicht zwischen Grundsicherung und Grundeinkommen, sondern zwischen Basis plus Spitze gegen Oswald Metzger. Der hatte vor dem Parteitag die beiden Modelle kritisiert, vor allem aber das bedingungslose Grundeinkommen als unbezahlbar und völlig falschen Ansatz bezeichnet, weil Sozialhilfeempfänger dadurch nicht aktiviert würden. Auslöser für den Streit war aber, dass Metzger in einem Interview gesagt hatte, viele Sozialhilfe-Empfänger sähen ihren Lebenssinn darin, Kohlehydrate oder Alkohol in sich hinein zu stopfen, vor dem Fernseher zu sitzen und das Gleiche den eigenen Kindern angedeihen zu lassen. Für die Führungsriege inakzeptabel. Claudia Roth:
"Für mich ist eine Idee von Gerechtigkeit leitend, bei der starke Schultern mehr tragen als schwache, bei der Sozialschwache die Unterstützung bekommen, die sie brauchen. Und was sie nicht brauchen, die Sozialschwachen, und was sie überhaupt nicht verdienen, sind beleidigende und entwürdigende Stigmatisierungen. Oswald, ich denke, eine Entschuldigung ist hier bei diesem Parteitag ist überfällig."
Der aber dachte gar nicht daran, sich zu entschuldigen:
"Wenn Eltern, nicht alle, aber viele, in solchen Problemsituationen quasi sich die Kanne geben jeden Tag, also Alkohol in sich reinschütten, dann kommt mancher gutgemeinte Euro Kindergeld oder Kinderzuschlag bei Hartz IV eben nicht beim Kind an. Das ist eine Tatsache, die viele Leute erleben, die in solchen sozialen Brennpunkten arbeiten. Und dazu stehe ich. Und dafür muss ich mich nicht schämen, auch wenn meine Parteivorsitzende, Frau Roth, das meint."
Stattdessen hatte er laut überlegt, seiner Partei den Rücken zu kehren, aus programmatischen Gründen. Reinhard Bütikofer gab ihm einen anderen Rat.
"Ich gehör nicht zu denen, die sagen: Oswald geh. Aber ich sage: Oswald, geh in dich."
Besser gelang es der Parteiführung einen anderen Kritiker einzubinden. Werner Schulz. Der war 2005 als Bundestagsabgeordneter bekannt geworden, weil er, gegen die Auflösung des Bundestages nach dem Misstrauensvotum geklagt hatte. Das Thema: Das neue Parteilogo. Vor einem Jahr in Köln hatte sich dieses scheinbar nebensächliche Thema als ein gefährliches Gewässer mit unsichtbar unter der Oberfläche liegenden scharfkantigen Felsen entpuppt. Und zu einer ersten Meuterei gegen die Parteispitze geführt. Bütikofer und Roth hatten das neue Logo einfach nur durchwinken lassen wollen. Die Basis fühlte sich übergangen. Es folgte eine sehr emotional geführte Debatte, an deren Ende Roth und Bütikofer das neue Logo zurückzogen und ab dem zweiten Tag die Bühne in reinem Grün erstrahlte. Die Basis hatte zwar einen Sieg davongetragen, doch das Vertrauensverhältnis zwischen Basis und Parteispitze war beschädigt Dieser Riss hatte sich bis zum Sonderparteitag in Göttingen im September immer weiter geöffnet und dort zur überraschenden Niederlage der Parteiführung in der Frage des Afghanistan Einsatzes der Bundeswehr geführt. Um jeder Untiefe in der Logofrage zu entgehen, hatte die Grünenführung beschlossen, dieses Mal die sichere, wenn auch weit langwierigere Route zu wählen. Bundesgeschäftsführerin Steffi Lemke war im Vorfeld des Nürnberger Parteitages durch die Lande getourt und hatte die drei Entwürfe vorgestellt, die eine Expertenkommission zuvor ausgewählt hatte. Mitglied in dieser Kommission war Werner Schulz. Der hatte im vergangenen Jahr noch besonders laut gegen den verordneten Logowechsel gewettert. Dieses Jahr erklärte er den Delegierten, warum die Partei dringend ein neues Logo braucht:
"Die Frage Logo ist ein Punkt, ob wir als eine kritische Partei, eine reaktionsfähig und lernfähige Partei auch in der Lage sind, ein selbstaufgeworfenes Problem, eins, das wir uns selbst zugezogen haben und aufgestört haben, zu lösen."
Über ein zu undemokratisches Verfahren konnte sich dann auch niemand beklagen. Mehrfach mussten die Delegierten mal die Wahlkarten heben, mal sich selbst erheben, damit für das Präsidium ersichtlich wurde, ob ein neues Logo gewünscht wurde und welches. Zu guter Letzt wurde die Entscheidung schriftlich getroffen. Bis die letzten Stimmen ausgezählt waren, hatte schon eine ganze Reihe Delegierter die Segel für den Tag gestrichen. Wer noch ausgeharrt hatte, erfuhr: In Zukunft, so wollen es immerhin 56 Prozent der Delegierten, werden die Schriftzüge Bündnis 90 und Die Grünen einheitlich weiß - und rechts von einer Sonnenblume umschlossen sein. Die Farbige Trennung, blau für Bündnis 90 und Weiß für die Grünen ist verschwunden. Die Bündnisgrünen verlassen ihren Parteitag mit einem neuen Logo und neuer Sozialpolitik. Dem Praxistest wird sich beides irgendwann unterziehen müssen. Dann wird sich auch zeigen, ob die grüne Sozialpolitik nur die Utopie einer Oppositionspartei ist oder Realpolitik einer potentiellen Regierungspartei.
Andere vermuteten vor dem Parteitag in Nürnberg die Haie eher an der Basis, bereit die Führung bei der nächsten Gelegenheit anzugreifen, wie sie es in letzter Zeit häufiger gemacht hatten. Die Frankenhalle als Haifischbecken. Die Vorstandtribüne als rettendes Floß. Vielleicht lagen die Haie aber auch außerhalb des Tagungsortes auf der Lauer. Bereit über die grüne Partei herzufallen, um ihr zum zweiten Mal innerhalb von kurzer Zeit vorwerfen zu können, sie habe sich mit ihrem utopischen Beschluss von der Regierungsfähigkeit verabschiedet. Denn das große Thema des Parteitages bot in dieser Frage einigen Zündstoff:
Die Neuausrichtung der Sozialpolitik. Beim ehemaligen Regierungspartner SPD wird die Debatte um ein Festhalten an den Arbeitsmarktreformen der Agenda 2010 längst öffentlich ausgetragen. Entbrannt war die Diskussion am Vorschlag des Parteivorsitzenden Kurt Beck, älteren Arbeitslosen das Arbeitslosengeld 1 wieder länger zu zahlen. Bei den Sozialdemokraten heißt das: Weiterentwicklung der Agenda. Und auch die Grünen würden sich nicht von den Reformen verabschieden, die sie mitgetragen haben, sagt der Fraktionsvorsitzende Fritz Kuhn
"Nein, es gibt ja bei der Agenda vieles, was positiv war, die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe hat vielen Leuten was gebracht, auch das diese Vorruhestandsmodelle abgebaut worden sind, ist ein wichtiger Punkt. Was noch nicht funktioniert hat, ist, dass das ALG 1 eine Grundsicherung ist, die den Menschen schnell genug Brücken in die Erwerbsarbeit öffnet. Das Fördern kommt zu kurz. An der Stelle erweitern wir die Agenda, verbessern sie, stellen sie vom Kopf auf die Füße."
Zwei alternative Modelle standen dafür zur Auswahl: Auf der einen Seite die bedarfsabhängige Grundsicherung. Eine Weiterentwicklung von Hartz IV , die der Bundesvorstand eingebracht hatte - auf der anderen Seite das bedingungslose Grundeinkommen, das in vielen Landesverbänden Unterstützer gefunden hatte. Das Interessante an der Debatte über die zwei fast gegensätzlichen Modelle, so der Bremer Politikwissenschaftler Lothar Probst, sei ...
" ... dass in diesen Fragen die Auseinandersetzung quer durch verschiedene Lager geht. Da lassen sich die Lager nicht so einfach zuordnen. Also nicht: Die Linken sind für das Grundeinkommen, die die eher zur Mitte tendieren, sind eher für die Grundsicherung. "
Den Antrag zum Grundeinkommen brachte gar dem Landesverband Baden-Württemberg ein, ein ausgesprochener Realo-Verband. Es sollte und durfte aber auch auf keinen Fall eine Abstimmung Parteispitze gegen Basis werden. Mit Blick auf den für die Parteispitze so desaströsen Afghanistan-Parteitag in Göttingen mahnte die Parteivorsitzende Claudia Roth die Delegierten:
"Und deswegen mein Appell an diese Bundesversammlung. Wir werden uns bei dieser Bundesversammlung engagiert und leidenschaftlich streiten. Aber bitte, liebe Freundinnen und Freunde, lasst uns diesen Streit respektvoll austragen. Respektvoll gegenüber der anderen Position. Wenn wir das tun, dann haben wir gewonnen, wenn wir das nicht tun, dann haben wir schon verloren."
Die Befürworter der bedarfsorientierten Grundsicherung wollen eine entbürokratisierte Variante des ALG 2. Sie wollen, wie sie sagen, Hartz IV humanisieren. Zurzeit bekommt ein Arbeitslosengeld 2 Empfänger monatlich 347 Euro als Regelsatz plus Miete. Zu wenig, sagen die Befürworter der Grundsicherung. Sie fordern 420 Euro. Damit orientieren sie sich an den Forderungen des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbandes. Anders als heute soll der Grundbetrag jährlich überprüft und an die veränderten Lebenshaltungskosten angepasst werden. Sachleistungen sollen ergänzend besondere Bedürfnisse decken. Die Wohnkosten, die heute mit etwa 360 Euro berechnet werden, sollen sich bei der bedarfsorientierten Grundsicherung nach dem aktuellen örtlichen Mietspiegel und an der tatsächlichen Verfügbarkeit von Wohnraum ausrichten.
Ein weiterer zentraler Punkt, sagt Fritz Kuhn:
"Das so genannte Progressivmodell, wir wollen Lohnnebenkosten bei Arbeiten mit geringeren Einkommen reduzieren, so dass mehr Arbeitsplätze entstehen - und mehr Geld netto im Geldbeutel bleibt."
Bei niedrigem Lohn, geringe Lohnnebenkosten. So könnten auch Minijobber wieder vollwertige Mitglieder in der Sozialversicherung werden. Außerdem soll eigenes Einkommen geringer auf die Grundsicherung angerechnet werden als beim heutigen Arbeitslosengeld 2. Bis zu einem Verdienst von 400 Euro soll jeder zweite Euro anrechnungsfrei bleiben. Auch in der Altersvorsorge soll es Änderungen geben: Pro Lebensjahr sollen bis zu 3000 Euro steuerfrei zurückgelegt werden können. Ganz besonders am Herzen lag dem Parteivorsitzenden Reinhard Bütikofer aber noch ein anderer Punkt: Erst vor kurzem hatte der Kinderreport Deutschland seine neuesten Untersuchungen veröffentlicht, nach der sich die Zahl der armen Kinder seit der Einführung von Hartz IV verdoppelt habe. Deshalb wollen die Grünen die Sätze für Kinder auf 300 bis 350 Euro erhöhen. Abhängig vom Alter und dem Ausbau des Kinderzuschlages. Zusätzlich sollen unter anderem die Kosten für Schulmahlzeiten übernommen werden. Wie soll das finanziert werden, fragte der grüne Finanzexperte Oswald Metzger schon vor dem Parteitag - und sprach sich gegen eine generelle Erhöhung der Regelsätze aus. Rund 60 Milliarden Euro soll die Grundsicherung kosten. Kein Pappenstil, wie Bundestagsvizepräsidentin Katrin Göring-Eckhardt meint:
"Und deshalb ist das mehr, als nur ein bisschen mit dem Schraubenzieher an Hartz IV herumdrehen. Weil wir sagen: Wir brauchen eine echte Revolution, gerade was die Bildungschancen, was das Bildungssystem angeht. Und was die Hilfen auch in der Jugendhilfe angeht."
Eine weitere Säule der Grundsicherung. Zur Frage der Finanzierung Fritz Kuhn:
"Veränderungen bei der Erbschaftssteuer, Veränderungen bei der Einkommenssteuer. Wir sagen, dann muss man von den 42 hoch auf die 45. Wenn man Bildungsinfrastruktur finanzieren will, dann muss man Steuerabschreibungen reduzieren, Subventionen abbauen, zum Beispiel für die Kindergarteninfrastruktur sollte man das Ehegattensplitting abbauen - und da kommt schon einiges zusammen."
Viel teurer noch als die bedarfsabhängige Grundsicherung käme allerdings das bedingungslose Grundeinkommen. Das Prinzip ist schnell erklärt: Es geht um die Entkopplung von Arbeit und Einkommen. Das bedingungslose Grundeinkommen gäbe es für jeden, egal, ob er auf dem Arbeitsmarkt zur Verfügung steht oder auch nicht. Von der Sozialhängematte war bei Kritikern die Rede, von einem weiteren Linksruck der Partei. Für den Finanzpolitiker Oswald Metzger wäre dies auch ein ökonomisches Schreckensszenario:
"Das stellt den archaischen Grundsatz auf den Kopf in der Menschheitsgeschichte: Dass Menschen sich rühren müssen, um zu überleben. Und ein bedingungsloses Grundeinkommen, das an jeden gezahlt wird. Egal ob er eine Gegenleistung bringt oder nicht, das heißt ob er arbeitsfähig ist oder nicht, heißt, die Zusammenhänge unserer Volkswirtschaft außer Kraft setzen. Weil, wenn ich bedingungsloses Grundeinkommen verteile, dann müssen andere mit ihrer Arbeitsleistung, natürlich hochproduktiv, das erstmal erwirtschaften."
Die Idee eines Grundeinkommens ist nicht neu. Bei den Grünen nicht - und auch nicht für andere Parteien. Sogar die FDP hat damit schon geliebäugelt. In der CDU macht sich Thüringens Ministerpräsident Dieter Althaus Gedanken über ein Bürgergeld: Doch Grundeinkommen ist nicht gleich Grundeinkommen. Die Grünen distanzieren sich sogar von den Modellen des dm-Drogeriemarkt-Gründers Götz Werner und Dieter Althaus. Werners Modell gilt für sie als unbezahlbar. Althaus werfen Sie vor, er wolle eine Stilllegungsprämie. Der Sozialstaat würde abgeschafft, die gesamte Verantwortung liege beim Individuum und mit dem Bürgergeld von 600 Euro hätten die Menschen weniger in der Tasche als mit Hartz IV. Die Grünen hingegen setzen auf das Modell einer negativen Einkommenssteuer. Wer weniger als einen bestimmten Mindestsatz verdient, bekommt einen Zuschuss in Höhe von 420 Euro. Wer mehr verdient, dem wird dieser Betrag als Freibetrag bei der Einkommenssteuer angerechnet. Eine Überprüfung der Bedürftigkeit, wie es heute bei Hartz IV oder auch bei der Grundsicherung der Fall wäre, entfällt. Ein klarer Vorteil gegenüber der Grundsicherung, meint Thomas Poreski, der am Baden-Württemberger Antrag zum Grundeinkommen mitgeschrieben hat.
"Das Grundeinkommen ist deswegen gerechter, weil es mit einem Steuermodell kombiniert wird, der so genannten negativen Einkommenssteuer. Das bewirkt, dass wir eine erhebliche Verteilungswirkung zugunsten kleiner und mittlerer Einkommen, besonders Haushalten mit Kindern bekommen. Dass wir gleichzeitig den Lohnabstand zwischen Leuten, die nur Transferleistungen bekommen, also Grundeinkommen oder Grundsicherung bekommen, und denen, die arbeiten, erhöhen, das heißt: Je mehr jemand arbeitet, desto mehr hat er auch davon. Obwohl die Armen bessergestellt sind."
Hunderte Milliarden könnte ein solcher Systemwechsel kosten. Dennoch gab es in der Debatte viel Applaus für das Grundeinkommen. Die Zustimmung zum bedingungslosen Grundeinkommen würde aber bedeuten, sagt der Bremer Politologe Lothar Probst:
""Es wird zwar auch in anderen Parteien immer wieder über ein Grundeinkommen diskutiert oder ein Bürgergeld, da sehen die Konzeptionen aber ganz anders aus. Also, es gibt gegenwärtig keine andere Partei, zumindest keine große Partei, die mit den Grünen konform sein würde. Das hätte natürlich Konsequenzen. Es würde sich kein Koalitionspartner finden."
Über mögliche Partner für die Umsetzung der Idee wollte die Führungsspitze nicht spekulieren. Für sie war der entscheidende Punkt aber dann doch die Realisierbarkeit - und damit auch die Regierungsfähigkeit der Partei nach den Bundestagswahlen 2009. Claudia Roth:
"Ich werbe hier in Nürnberg für einen sozialpolitischen Aufbruch. Ich werbe für eine Grundsicherung, die auch wichtige Gedanken des Grundeinkommens einbezieht. Ich werbe für ein Modell, das die bittere Realität von Hartz IV überwindet. Ich werbe für eine Grundsicherung, die nicht fordert, wo nicht gefördert wird, die Voraussetzungen schafft für die gesellschaftliche Teilhabe. Die sehr wohl - und das sage ich den Kritikern der Grundsicherung, die visionär ist und gleichzeitig finanzierbar, liebe Freundinnen und Freunde."
Visionär, aber vor allem finanzierbar. Auch für den Oberbürgermeister von Tübingen, Boris Palmer, das ausschlaggebende Kriterium für die Realpolitik, die sich seine Partei auf die Fahnen geschrieben hat. Und so stimmte er, nachdem er auf Landesebene noch das bedingungslose Grundeinkommen unterstützt hatte, für die Grundsicherung.
"Das Grundeinkommen ist eine faszinierende Perspektive für die nächsten zehn, fünfzehn Jahre, aber jetzt können wir das unmöglich beschließen. Denn ökonomisch und gesellschaftlich ist das noch lange nicht beschlussreif. Also, jetzt das Machbare. Und ich will nicht im Wolkenkuckucksheim Politik machen, sondern hart in der Realität."
Die Debatte, auf die alle mit Spannung gewartet hatten, verlief gemächlich und sachlich. Die Parteitagsregie funktionierte. Anders als in Göttingen, wo die gesamte Führungsriege gesprochen hatte, gab man hier hauptsächlich der Basis das Wort. Am Ende setzte sich der Antrag des Bundesvorstandes mit rund 60 Prozent der Stimmen durch. Für die Befürworter des bedingungslosen Grundeinkommens zwar eine formale Niederlage. Doch bei genauem Hinschauen war erkennbar, dass auch ihre Idee in der einen oder anderen Form Eingang in den Antrag gefunden hatten. Schon bei der Formulierung ihres Antrages hatten die Befürworter der bedarforientierten Grundsicherung zum Beispiel die so genannte Brückenexistenzsicherung mitaufgenommen. Sie soll jedem Menschen für eine bestimmte Zeit in seinem Leben, ohne Prüfung der Bedürftigkeit, eine finanzielle Sicherung bieten. Nur einer der Punkte, die als Zugeständnis an die Befürworter des Grundeinkommens gewertet wurden. So können sich auch die Befürworter des bedingungslosen Grundeinkommens zufrieden geben. Thomas Poreski:
"Wir haben jetzt erstmal Grundsicherung festgeschrieben. Die Grundsicherung selbst ist aber, so wie sie schon im Antrag ist, durch Grundeinkommenselemente angereichert. Da steht das Ziel einer bedingungslosen Kindergrundsicherung drin - das ist nichts anderes als ein Kindergrundeinkommen, da steht der so genannte Öko-Bonus drin, das ist nichts anderes als ein zusätzliches Ökosteuer-Grundeinkommmen. Das steht ja alles schon drin, da ist die Öffnung schon drin."
Hat sich die Parteispitze aus Angst, dass die Basis wie in Göttingen ihren Antrag versenken könnte, das Wohlwollen der Basis erkauft, indem sie ihren Antrag so weit verwässert hat, dass jeder darin seine Position findet? Der Parteivorsitzende Reinhard Bütikofer widerspricht.
"Das ist einfach absoluter Unsinn. Wir haben dort Anträge übernommen, wo sie etwas beigetragen haben. Und wir haben dort Alternativentscheidungen durchgeführt im Parteitag, wo wir nicht einverstanden waren. Und ich habe nicht eine einzige dieser Alternativentscheidungen verloren. Das heißt, wir haben unsere Position durchgesetzt. Punkt!"
Auch der Fraktionsvorsitzende Fritz Kuhn zieht eine andere Schlussfolgerung:
"Wenn die Führung sich einig ist, die standen ja alle hinter dem Grundsicherungskonzept im Bundesvorstand und im Parteirat, dann kann man auch auf solide Mehrheiten kommen. Und das ist die Lehre aus Göttingen, wo sich die Führung nicht einig war - und dann sagt sich die Basis. Nun gut, wenn das so ist, dann sagen wir, wie es geht."
Das Bild von den Haifischen im Führungsbecken schien zumindest nach außen auf diesem Parteitag nicht mehr zu stimmen. Auch die zweite mögliche Konfliktlinie - lauernde Basis gegen Vorstand - trat nicht zutage. Dazu hatte aber auch der Streit mit dem Baden-Württemberger Landtagsabgeordneten Oswald Metzger seinen Teil beigetragen. Die trennende Linie verlief nicht zwischen Grundsicherung und Grundeinkommen, sondern zwischen Basis plus Spitze gegen Oswald Metzger. Der hatte vor dem Parteitag die beiden Modelle kritisiert, vor allem aber das bedingungslose Grundeinkommen als unbezahlbar und völlig falschen Ansatz bezeichnet, weil Sozialhilfeempfänger dadurch nicht aktiviert würden. Auslöser für den Streit war aber, dass Metzger in einem Interview gesagt hatte, viele Sozialhilfe-Empfänger sähen ihren Lebenssinn darin, Kohlehydrate oder Alkohol in sich hinein zu stopfen, vor dem Fernseher zu sitzen und das Gleiche den eigenen Kindern angedeihen zu lassen. Für die Führungsriege inakzeptabel. Claudia Roth:
"Für mich ist eine Idee von Gerechtigkeit leitend, bei der starke Schultern mehr tragen als schwache, bei der Sozialschwache die Unterstützung bekommen, die sie brauchen. Und was sie nicht brauchen, die Sozialschwachen, und was sie überhaupt nicht verdienen, sind beleidigende und entwürdigende Stigmatisierungen. Oswald, ich denke, eine Entschuldigung ist hier bei diesem Parteitag ist überfällig."
Der aber dachte gar nicht daran, sich zu entschuldigen:
"Wenn Eltern, nicht alle, aber viele, in solchen Problemsituationen quasi sich die Kanne geben jeden Tag, also Alkohol in sich reinschütten, dann kommt mancher gutgemeinte Euro Kindergeld oder Kinderzuschlag bei Hartz IV eben nicht beim Kind an. Das ist eine Tatsache, die viele Leute erleben, die in solchen sozialen Brennpunkten arbeiten. Und dazu stehe ich. Und dafür muss ich mich nicht schämen, auch wenn meine Parteivorsitzende, Frau Roth, das meint."
Stattdessen hatte er laut überlegt, seiner Partei den Rücken zu kehren, aus programmatischen Gründen. Reinhard Bütikofer gab ihm einen anderen Rat.
"Ich gehör nicht zu denen, die sagen: Oswald geh. Aber ich sage: Oswald, geh in dich."
Besser gelang es der Parteiführung einen anderen Kritiker einzubinden. Werner Schulz. Der war 2005 als Bundestagsabgeordneter bekannt geworden, weil er, gegen die Auflösung des Bundestages nach dem Misstrauensvotum geklagt hatte. Das Thema: Das neue Parteilogo. Vor einem Jahr in Köln hatte sich dieses scheinbar nebensächliche Thema als ein gefährliches Gewässer mit unsichtbar unter der Oberfläche liegenden scharfkantigen Felsen entpuppt. Und zu einer ersten Meuterei gegen die Parteispitze geführt. Bütikofer und Roth hatten das neue Logo einfach nur durchwinken lassen wollen. Die Basis fühlte sich übergangen. Es folgte eine sehr emotional geführte Debatte, an deren Ende Roth und Bütikofer das neue Logo zurückzogen und ab dem zweiten Tag die Bühne in reinem Grün erstrahlte. Die Basis hatte zwar einen Sieg davongetragen, doch das Vertrauensverhältnis zwischen Basis und Parteispitze war beschädigt Dieser Riss hatte sich bis zum Sonderparteitag in Göttingen im September immer weiter geöffnet und dort zur überraschenden Niederlage der Parteiführung in der Frage des Afghanistan Einsatzes der Bundeswehr geführt. Um jeder Untiefe in der Logofrage zu entgehen, hatte die Grünenführung beschlossen, dieses Mal die sichere, wenn auch weit langwierigere Route zu wählen. Bundesgeschäftsführerin Steffi Lemke war im Vorfeld des Nürnberger Parteitages durch die Lande getourt und hatte die drei Entwürfe vorgestellt, die eine Expertenkommission zuvor ausgewählt hatte. Mitglied in dieser Kommission war Werner Schulz. Der hatte im vergangenen Jahr noch besonders laut gegen den verordneten Logowechsel gewettert. Dieses Jahr erklärte er den Delegierten, warum die Partei dringend ein neues Logo braucht:
"Die Frage Logo ist ein Punkt, ob wir als eine kritische Partei, eine reaktionsfähig und lernfähige Partei auch in der Lage sind, ein selbstaufgeworfenes Problem, eins, das wir uns selbst zugezogen haben und aufgestört haben, zu lösen."
Über ein zu undemokratisches Verfahren konnte sich dann auch niemand beklagen. Mehrfach mussten die Delegierten mal die Wahlkarten heben, mal sich selbst erheben, damit für das Präsidium ersichtlich wurde, ob ein neues Logo gewünscht wurde und welches. Zu guter Letzt wurde die Entscheidung schriftlich getroffen. Bis die letzten Stimmen ausgezählt waren, hatte schon eine ganze Reihe Delegierter die Segel für den Tag gestrichen. Wer noch ausgeharrt hatte, erfuhr: In Zukunft, so wollen es immerhin 56 Prozent der Delegierten, werden die Schriftzüge Bündnis 90 und Die Grünen einheitlich weiß - und rechts von einer Sonnenblume umschlossen sein. Die Farbige Trennung, blau für Bündnis 90 und Weiß für die Grünen ist verschwunden. Die Bündnisgrünen verlassen ihren Parteitag mit einem neuen Logo und neuer Sozialpolitik. Dem Praxistest wird sich beides irgendwann unterziehen müssen. Dann wird sich auch zeigen, ob die grüne Sozialpolitik nur die Utopie einer Oppositionspartei ist oder Realpolitik einer potentiellen Regierungspartei.