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Neue Welle der Gewalt

Es war ruhiger geworden im indischen Teil Kaschmirs. Auch weil auch die Menschen bei den letzten Wahlen eindeutig votiert hatten: gegen den Aufstand und gegen den Anschluss an Pakistan. Doch nun kommt es wieder zu gewalttätigen Demonstrationen.

Von Alexander Mitschik | 18.07.2009
    Hunderte Männer tragen einen Sarg durch das Zentrum von Srinagar, der Hauptstadt des indischen Teils von Kaschmir. Die meisten sind jünger, zwischen 20 und 30, doch auch alte Männer haben sich dem Trauerzug angeschlossen. Sie skandieren "Freiheit" und ballen ihre Fäuste. Viele der Männer haben Tränen in den Augen. Es sind Tränen der Trauer, aber auch Tränen der Wut.

    In dem Sarg liegt die Leiche von Asrar Mushtaq. Unbekannte haben den 19-jährigen Studenten fünf Tage zuvor verschleppt. An diesem Morgen wird er auf einem Friedhof in der Stadt tot gefunden: Sein Körper ist von Folter entstellt, die Kehle durchtrennt.

    Viele Kaschmiris glauben sofort, dass der Mord von den indischen Sicherheitskräften, die zu Zehntausenden überall in der Stadt präsent sind, begangen wurde. Es gibt zwar an diesem Tag keine Indizien dafür, dass diese Behauptung stimmt. Dennoch gehen überall in Kaschmir wütende Demonstranten auf die Straße und verschaffen ihrem Ärger Luft.

    Dem Trauerzug folgen gewalttätige Ausschreitungen. Als die Männer mit dem Sarg des Studenten vorbeigezogen sind, erobern Vermummte, die meisten von ihnen Studenten, eine Hauptverkehrskreuzung. Indische Polizisten feuern Tränengas in die Menge. Einige der Demonstranten werfen Steine auf die Übermacht der Sicherheitskräfte, dann rennen sie davon, in einen anderen Stadtteil. Dort werden sie die Polizei von Neuem herausfordern.

    Erst Stunden später werden die Schäden der schwersten Ausschreitungen dieses Jahres sichtbar. Die Mitarbeiter des Café Arabica, eines teuren Restaurants im Zentrum von Srinagar, sind fassungslos:

    "Sie haben alles zerschlagen, die Stühle umgeworfen, oben Scheiben und Tische zertrümmert. Sie haben gesagt, wir sollen das Café schließen, mehr nicht. Und dass wir es gefälligst geschlossen halten sollen. Wir sollten mit ihnen kommen und demonstrieren. Dann haben sie die Mitarbeiter hier verprügelt und sind rausgerannt."

    Die neue Welle der Gewalt setzte Ende Mai ein. In Shopian, im Süden Kaschmirs, waren die Leichen zwei junger Frauen in einem Fluss entdeckt worden. Anwohner sagten aus, Sicherheitskräfte hätten sie vergewaltigt und getötet. In ganz Kaschmir kam es daraufhin zu schweren Protesten, bei denen vier Demonstranten erschossen wurden und eine junge Frau derart verprügelt wurde, dass sie später an ihren Verletzungen starb. Erstmals seit Jahren waren auch auf indische Sicherheitskräfte Handgranaten geworfen worden - Anzeichen dafür, dass sich die Gewaltspirale erneut zu drehen begonnen hat.
    Zu den meisten Protesten der vergangenen Wochen hatten separatistische Parteien aufgerufen. Sie fordern Kaschmirs Unabhängigkeit von Indien oder den Anschluss an Pakistan. Die Menschenrechtsverletzungen, die Indiens Paramilitärs und Soldaten in Kaschmir immer wieder begehen, lassen die Emotionen hochkochen, treiben immer mehr Anhänger ins separatistische Lager.

    Dabei sind die Separatisten politisch nicht mehr als eine Minderheit, denn die meisten Menschen in Kaschmir wollen heute von einem bewaffneten Aufstand nichts mehr wissen. Die wollen leben, ihrer Arbeit nachgehen und ihre Kinder großziehen. Erst kürzlich hatten sie den Separatisten eine klare Absage erteilt: bei den Wahlen zum Regionalparlament vor knapp einem halben Jahr.

    Trotz des Aufrufs zum Wahlboykott vonseiten der Separatisten war eine überwältigend große Zahl der Kaschmiris an die Urnen gegangen und hatte für die "Jammu & Kashmir National Conference" gestimmt, eine gemäßigt nationalistische, pro-indische Partei. Eine deutliche Absage an die Gewalt. Die hatte 1989 eingesetzt und seitdem - so die Schätzungen - mehr als 50.000 Menschen das Leben gekostet. Asifa Jan Politikprofessorin an der Universität von Srinagar:

    "Die Menschen in Kaschmir haben sich für eine demokratische Regierung ausgesprochen. Sie wollten damit zum Ausdruck bringen, dass sie sich von den Separatisten verabschiedet haben. Sie wollten diese Wahlen und sie wollten tatsächlich eine repräsentative Regierung. Doch es bleibt viel zu tun: Wir müssen die jungen Menschen dazu erziehen, der richtigen Moral zu folgen. Sie müssen ablehnen, was zur Gewohnheit geworden ist, also Provokationen und Straßenschlachten. Es ist nicht nur das System, das an allem schuld ist. Wir selbst müssen etwas tun, damit sich etwas verändert."

    Doch von einer Beruhigung der Lage ist gerade in diesen Tagen kaum etwas zu spüren. Zwar sickern seit einigen Jahren nur noch wenige militante Kämpfer und Waffen aus Pakistan ein, seit Islamabad wegen seiner Unterstützung militanter Islamistengruppen in die Kritik geraten ist. Und auch die Regierung in Delhi hatte angekündigt, sie werde in Kürze ihre Soldaten und Paramilitärs aus den Städten Kaschmirs abziehen.

    Doch sofort hatte sich Omar Abdullah, Kaschmirs Ministerpräsident, zu Wort gemeldet und Indien darum gebeten, die Einheiten in den Städten zu belassen. Der "muslimische Aufstand" - so Abdullah - könne sonst außer Kontrolle geraten. Dabei war selbiger mit der Ankündigung in den Wahlkampf gezogen, er werde dafür sorgen, dass Delhi ein Gesetz zurückzieht, das seine Soldaten und Paramilitärs in Kaschmir vor jeglicher Strafverfolgung schützt. Doch davon ist mittlerweile keine Rede mehr.

    Zeitungsberichte verweisen heute darauf, dass Asrar Mushtaq, der ermordete 19-jährige Student, einem Streit mit einem Freund zum Opfer gefallen ist. Beide sollen sich - so heißt es - um ein Mädchen gestritten haben, bis sein Widersacher den jungen Studenten entführt und getötet hat. Doch ob diese Informationen ausreichen, um die gewalttätigen Demonstranten zu besänftigen, muss sich zeigen